Judith Kessler: August Dickmann, ein Zeuge Jehovas, wurde heute vor 83 Jahren im KZ Sachsenhausen als erster Kriegsdienstverweigerer öffentlich hingerichtet

Der Neinsager
August Dickmann war der erste von den Nazis hingerichtete Kriegsdienstverweigerer

der kriegsdienstverweigerer hatte die nazi-justiz überrascht. das bis dahin gültige deutsche militärstrafgesetzbuch von 1872 kannte nicht mal den begriff. es gab strafen für deserteure, simulanten und selbstverstümmler, aber dass leute wie die zeugen jehovas („bibelforscher“) erst gar nicht versuchten, einer strafe zu entgehen, war neu. erst in vorbereitung auf den zweiten weltkrieg und mit der wiedereinführung der wehrpflicht hatte die nazijustiz diese haltung zum delikt der „wehrkraftzersetzung“ erklärt.

den arbeiter august dickmann aus dinslaken hätte das eigentlich gar nicht betroffen, denn er saß wegen „missionierung“ schon seit 1936 in haft, so wie seine brüder fritz und heinrich und viele andere seiner glaubensgefährten mit dem „lila winkel“, denen man die freiheit versprochen hatte, wenn sie eine erklärung unterschrieben, in der sie sich von ihrem glauben lossagten.

nun hatte aber frau dickmann ihrem mann den wehrpass, der an die heimatadresse zugestellt worden war, nach sachsenhausen nachgeschickt – und die ss verlangte jetzt, dass er ihn unterzeichnete. doch dickmann weigerte sich und erklärte, dass er niemals soldat werden oder menschen töten würde, da jehova den krieg nicht geheiligt und nicht befohlen habe; außerdem erkenne er hitler nicht als führer an, weil der die personifizierte bosheit und ein werkzeug satans sei.

daraufhin ließ lagerkommandant hermann baranowski august dickmann in einzelhaft sperren, machte meldung an den reichsführer ss, heinrich himmler, und ließ sich von ihm die genehmigung erteilen, ein exempel zur abschreckung zu statuieren und dickmann ohne prozess der „sonderbehandlung“ zuführen, d.h. exekutieren zu dürfen.

am 15. september 1939, zwei wochen nach dem deutschen überfall auf polen mussten alle 5.000 häftlinge von sachsenhausen nach der arbeit auf dem appelplatz antreten, die etwa 350 zeugen jehovas in der erste reihen. august dickmann wurde gefesselt vorgeführt, mit dem gesicht zu einer bretterwand. baranowski schrie ihn an, er solle sich umdrehen, damit jeder seine „dreckige jehova-visage“ sehen könne. dickmann, so augenzeugen, hätte nur „nein!“ gesagt. das sechsköpfige exekutionskommando feuerte von hinten auf ihn. anschließend gab baranowski seinem adjutanten rudolf höß (später kommandant von auschwitz) einen wink und der schoss dem am boden liegenden noch einmal mit seiner pistole in den kopf.

vier häftlinge aus der ersten reihe, unter ihnen augusts bruder heinrich, mussten den leichnam in eine kiste legen und fortschaffen. dann durften alle häftlinge wegtreten, bis auf die zeugen jehovas. baranowski drohte ihnen mit dem gleichen schicksal, sollten sie nicht umgehend die verpflichtungserklärung unterschreiben, also ihrem glauben abschwören.

zunächst blieb es still, es meldete sich niemand. aber dann traten doch zwei männer vor – allerdings erklärten sie, dass sie unter dem eindruck des gerade erlebten ihre bereits geleistete unterschrift zurückziehen würden. woraufhin baranowski wutschnaubend den platz verlassen haben soll …

die zeugen jehovas folgten keiner irdischen macht und glaubten nur an ihre gebete (als baranowski ein paar monate später nach einem herzinfarkt starb, waren sie überzeugt, dass sie ihn zu tode gebetet hatten). sie kooperierten weder inner- noch außerhalb der lager mit anderen regimegegnern und verteidigten ausschließlich die eigene organisations- und glaubensfreiheit. politischen widerstand und selbst eine flucht lehnten sie ab, da sie die haft als göttliche prüfung ansahen. auch wenn sie ähnlich schlecht wie andere behandelt wurden, schätzte die ss ihren fleiß und ihre sorgfalt, ließ ihre gärten und wohnungen von ihnen pflegen, sich von ihnen bekochen und rasieren. nur willige soldaten konnten sie nie aus ihnen machen.

112 der 117 todesurteile, die allein im ersten jahr wegen kriegsdienstverweigerung gefällt wurden, trafen zeugen jehovas (von denen es rund 25.000 in deutschland gab); insgesamt waren es in der ns-zeit etwa 1.200.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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