Samstag, 27. Juli 2024

Judith Kessler: Heute vor 252 Jahren wird Susanna Margaretha Brandt in Frankfurt geköpft

Heute vor 252 Jahren wird Susanna Margaretha Brandt am Frankfurter Rossmarkt von Scharfrichter Johann Hoffmann „unter beständigem Zurufen der Herren Geistlichen durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt.“ Sie, die aus Angst vor der Zukunft ihr Kind getötet hatte, ist das Vorbild für das „Gretchen“ in Goethes „Faust“.

susanna margaretha brandt, geboren am 8. februar 1746, war eine waise und als dienstmagd bei der witwe bauer in der frankfurter herberge „zum einhorn“ beschäftigt. in der weihnachtszeit 1770 wurde die 24-jährige von einem holländischen goldschmiedegesellen auf wanderschaft – mit schönen worten, wein und möglicherweise einem pülverchen – verführt und geschwängert. der geselle machte sich aus dem staub und sie verheimlichte die schwangerschaft. am 1. august 1771 gebar sie in der waschküche der herberg einen knaben. es war eine sturzgeburt, das kind fiel mit dem kopf voran auf den steinboden. sie sagte später aus, dass es nur kurz geröchelt habe. in panik habe sie nach seinem hals gegriffen und ihm durch das gesicht gekratzt; dann habe sie es im stall hinter dem haus verborgen.

am morgen, nach dem öffnen der stadttore, floh sie nach mainz, kehrte aber am nächsten tag, völlig mittellos und entkräftet nach frankfurt zurück, wurde am bockenheimer tor (ihre schwester hatte sie als einer verheimlichten geburt verdächtig denunziert und es gab bereits einen steckbrief) festgenommen und inhaftiert. fünf tage später fand man den leichnam des kindes. grete brach bei dessen anblick zusammen und gestand, hand an den knaben gelegt zu haben. der tatort wurde besichtigt, der leichnam von neun ärzten begutachtet, brandt verhört und zeugen befragt. der folgenden gerichtsverhandlung wohnte auch der junge rechtsanwalt goethe bei.

am 12. oktober erging das todesurteil, gretes engagierter junger verteidiger dr. marcus augustus schaaf plädierte auf gnade – sie hätte angst vor der folter gehabt (das gesetz erlaubte es, geständnisse durch folter zu erlangen), sei verzweifelt gewesen, ein uneheliches kind hätte sie zum ausschluss aus der gesellschaft und in soziale not geführt, das kind sei eine frühgeburt gewsen und habe möglicherweise gar nicht gelebt und die gutachter hätten sich schon des öfteren geirrt… alles umsonst. am 7. januar 1772 bestätigten die richter das urteil, am 17. januar wurde es gegen 10 uhr morgens auf einem eigens errichteten schafott vor der katherinenkirche und vor zahlreichen gaffern vollstreckt. nach geltendem recht – der 200 jahre alten „constitutio criminalis carolina“ – war die vorsätzliche tötung eines lebend geborenen kindes ein todeswürdiges kapitalverbrechen, da sie dem neugeborenen die taufe unmöglich machte und damit den weg ins paradies versperrte (ursprünglich wurden die frauen dafür lebend begraben oder ertränkt, zu brandts zeiten nur noch enthauptet; das galt als milde tötungsart).

johann wolfgang goethe, gerade fertig mit dem studium der rechte, hatte nicht nur den prozess aufmerksam verfolgt, er ließ sich auch abschriften der gerichtssakten anfertigen. viele der beteiligten kannte er gut. der gerichtsschreiber johann heinrich thym war sein hauslehrer gewesen, sein späterer schwager johann georg schlosser war schriftführer des scharfrichters, zwei der beteiligten ärzte waren hausärzte der goethes und sein onkel johann jost textor gehörte dem gericht an.

die tragödie der armen jungen kindsmörderin wühlte goethe auf. sie wurde zu einem zentralen motiv des urfaust bzw. des faust, I. teil und zu einer sozialen anklage. die noch in prosa verfasste szene „im kerker“ – der älteste teil des urfaust, entstand wahrscheinlich schon unmittelbar nach margaretha brandts hinrichtung; als gretchen zum ersten mal auftritt, wird sie noch margarete genannt, und details bis hin zu einzelnen formulierungen stammen aus den gerichtsakten ihres falls.

neben dem unschuldig schuldigen naturkind, das schließlich zur mörderin und wahnsinng wird, sind im faust-gretchen aber wohl noch andere frauen aus goethes jungen jahren zu einer figur verschmolzen: „das schöne gretchen“ aus einem offenbacher wirtshaus, in das er als 14-jähriger verliebt war, das käthchen schönkopf („die kleine heilige“) im weinhaus ihrer eltern aus seiner leiziger studentenzeit, die elsässische pfarrerstochter friederike brion, deren „naivität mit bewusstsein“ ihn fasziniert hatte und zu der er die liebesbeziehung gerade erst abgebrochen hatte, und charlotte buff, in die er sich ein paar monate nach brandts hinrichtung so unsterblich wie aussichtslos verliebte, dass wir ihr den „werther“ zu verdanken haben.
Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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