Sonntag, 28. April 2024

Judith Kessler: Heute vor 76 Jahren fällt der tschechische Außenminister Jan Masaryk aus seinem Badezimmerfenster …

Prager Fensterstürze …

In Prag fallen immer wieder mal Leute aus Fenstern: Am 30. Juli 1419 werfen Hussiten, die gefangene Glaubensgenossen befreien wollen, den Bürgermeister und neun weitere Amtspersonen aus dem Fenster des Neustadter Rathauses; am 23. Mai 1618 schubsen Protestanten, die sich um ihre Glaubensfreiheit betrogen sehen, zwei königliche Statthalter und einen Kanzleisekretär auf der Prager Burg aus dem Fenster (die drei überleben, aber der Dreißigjährige Krieg beginnt); am 10. März 1948, heute vor 76 Jahren, fällt der tschechische Außenminister Jan Masaryk aus seinem Badezimmerfenster im Palais Czernyn. wer ihm dabei „geholfen“ hat, ist bis heute nicht geklärt. An Selbstmord (die Version lag schon vor der Obduktion fest) glaubt aber kaum noch jemand.

Widersacher hatte der 72jährige genug. Er war der Sohn des ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, von 1925 bis 1938 Botschafter in Großbritannien, ab 1940 Außenminister der Exilregierung und nach seiner Rückkehr 1945 weiter Außenminister in der ersten Regierung des Kommunisten Klement Gottwald. Masaryk war als Nichtkommunist der einzige, der sich 1947 gegen Stalin gestellt hatte. Ein halbes Jahr vor seinem Tod war schon ein Sprengstoffanschlag auf ihn verübt worden, beauftragt aller Wahrscheinlichkeit nach von Gottwalds Schwiegersohn Alexej Čepička. und nun, nachdem die Kommunisten sich im Februar an die Macht geputscht hatten, hatte Masaryk sich geweigert, zurückzutreten …

1993, nach dem Umbruch im Osten, wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen. 2002 befand eine Expertise aufgrund der Lage des Körpers und der Verletzungen, dass Masaryk gewaltsam aus dem Fenster gestoßen worden sein muss. 2004 erklärte die Prager Polizei ebenfalls, nicht mehr von Suizid auszugehen und 2019 tauchte eine bis dato unbekannte Tonbandaufnahme auf; auf ihr erklärt der Polizist, der Masaryk 1948 im Schlafanzug tot im Hof des Außenministeriums aufgefunden hatte, dass die bekannten Tatortfotos nicht mit der Auffindesituation übereinstimmen, irgendwer also irgendwas manipuliert haben musste. Doch wer genau die Männer waren, die Jan Masaryks räume durchsucht und verwüstet und ihn anschließend mutmaßlich ermordet haben, wird wohl nicht mehr aufzuklären sein.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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