Mittwoch, 1. Mai 2024

Käses Rundfahrten 

H. William Käse war das erste Rundfahrtunternehmer dieser Art in Berlin. Angesichts des unerwarteten Ansturms auf die neue Attraktion folgten bald andere Unternehmen seinem Beispiel wie das „Weltreisebureau Union“, die „Wallroths Automobil-Rundfahrten“ und die „Elite-Rundfahrten“. Aber es war Käses Betrieb, der in Berlin allein schon wegen seines lustigen Namens zum Inbegriff für Stadtrundfahrten wurde. Und bald schaffte H. William Käse seine Pferde ab und motorbetriebene Stretch-Limousinen – so genannte Rail-Coaches – an, um seine Fahrgäste noch zeitgemäßer und exklusiver von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zu transportieren.

H. William Käse hatte wie sein Vater in Hamburg auch immer einen Fotografen vor Ort, der die einzelnen Reisegruppen ablichtete und ihnen die Fotos anschließend als Ansichtskarten verkaufte. Im Netz schwirren reichlich solcher Bilder herum. Hier sehen wirzwei Beispiele, auf denen der Fotograf, um die Fotos den Passagieren zuordnen zu können, notiert hat, wann sie aufgenommen wurden: am 5. und 27. Juni 1913 bei der jeweiligen Vormittagstour vor dem „Café Schön“ Unter den Linden 45.

Als der Erste Weltkrieg begann, war erst einmal Schluss mit lustig. Die Fahrzeuge der Rundfahrt-Unternehmen wurden vom Heer beschlagnahmt und der touristische Fremdenver­kehr kam mangels auswärtiger Gäste fast vollständig zum Erliegen. Auch Herr Käse konnte seine Fahrten erst 1922 wieder aufnehmen. Seine roten Autobusse hielten nun nicht mehr vor dem Victoria Café, sondern auf der gegenüberliegenden Seite vor dem Café Bauer am Mittelstreifen. Dafür ließ er seine Autobusse extra mit Türen auf der linken Seite versehen, damit die Fahrgäste nicht auf der belebten Fahrdammseite ein- und aussteigen mussten. Das war weitsichtig. Denn die erste Verkehrsampel war in Berlin ja im gleichen Jahr gerade erst (am Potsdamer Platz) aufgestellt worden und bei bereits über 50.000 registrierten Automobilen in der Stadt kamen es ständig zu Unfällen und Zusammenstößen zwischen Motorisierten und Fußgängern.

Die ausländischen Touristen im Auge ließ William Käse nun auch bebilderte Prospekte auf Deutsch und Englisch drucken, später kam Französisch und Spanisch hinzu, um die ausländische Kundschaft über die Route und Highlights am Wegesrand zu informieren. Anders als die Konkurrenz verzichtete er aber ansonsten auf kostspielige Reklame. Der Eintrag im meist verkauften Reiseführer der Zeit, dem „Baedecker“, sein origineller Name und die damit verbundene Popularität im In- und Aus­land reichten offenbar aus, um dem „ältesten und ersten Rundfahrt-Unternehmen“ genügend Fahrgäste „zuzutreiben“.

Auch der Lektor, Übersetzer und Schriftsteller Franz Hessel, der 1941 in einem französischen Internierungslager sterben sollte, fuhr als Ortsansässiger einmal bei Käse mit, als er Stoff für sein Buch „Spazieren in Berlin“ (1929) sammelte, und beschreibt im Kapitel „Rundfahrt“ eine dieser Touren, die so begann:
Unter den Linden nahe der Friedrichstraße halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen ‚Elite‘, hüben ‚Käse‘. Bequemlichkeit oder natürliches Kleinbürgertum? — Ich wähle ‚Käse‘.
Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn hat man mehr Luft, hinten versteht man besser.
Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: Sight seeing. Welch eindringlicher Pleonasmus! —
Mit einmal erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir, der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs Wartezimmer. (…)

Auch Potsdam profitierte nun von dem Unternehmen. Der Glanz der alten, kaiserlichen Residenz war zwar dahin, aber nun wollten Touristen aus aller Welt die Schlösser und Gärten der alten Hohenzollern bewundern – und Käse brachte sie hin (als der Unternehmer darum bat, die Besichtigung der Garnisonkirche in sein Programm aufnehmen zu dürfen, wurde dies zunächst abgelehnt, da man in der Kirche keine Führungen wollten, aber als er zusicherte, dass seine Fremdenführer die Erklärungen vor und nicht in der Kirche abgeben würden, durfte er auch sie von seinen Gästen besichtigen lassen). Natürlich ließ Käse seine Touristen nicht nur zu den Sehenswürdigkeiten kutschieren, sondern auch zu den Konditoreien und Cafés, denn dort wurde planmäßig Pause gemacht und oft gab es hier einen solchen Trubel von Gästen der diversen Busunternehmen vor diesen Etablissements, dass die Polizei die An- und Abfahrt regeln musste.

Der Preis für eine zwei- bis dreistündige Käse-Fahrt lag anfangs bei 3 Mark, später bei 3,50 Mark und in den 1930er-Jahren schließlich bei 5 (Reichs)Mark. Der Tagesausflug nach Potsdam im Autobus und Motorschiff kostete ab 8,50 Mark aufwärts und bis 1939 wuchs Käses Fuhrpark auf zwölf Autobusse an; einige davon hatte er sogar mit einem Glasdach aufrüsten lassen.

Nachdem Hitler den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, wurde ein Teil der Omnibusse jedoch von der Wehrmacht beschlagnahmt und der andere einer Munitionsfabrik zugeschlagen. Damit war das Ende von Käses Rundfahrten gekommen, denn auch nach dem Krieg hatten die Leute erst einmal nicht das Bedürfnis, sich zum Vergnügen durch die zerstörte Stadt gondeln zu lassen.

Über H. William Käse selbst, den Mann hinter dem Unternehmen, ist nicht viel zu finden, aber immerhin seine Geburts- und Heiratsurkunde. Er hieß mit vollständigem Namen Henry William Friedrich Carl Käse. Sein Vater war Heinrich Käse (1858­­­­–1929), Sohn von Johann Heinrich Wilhelm Käse und Meta von Salzen, der 1881 in Hamburg die 17-jährige Anna Louise Theodore Christiane Munckelt aus Neubrandenburg geheiratet hat, (vermutlich weil) die schon vier Monate später, am 25. Juli 1881, in Hamburg unseren Henry William Friedrich Carl Käse zur Welt brachte (gefolgt von zwei weiteren Söhnen, Paul Herrmann und Friedrich).

Dass der Herr Papa Hotelier und Fuhrunternehmer war, wie hier und da zu lesen ist, stimmt nur zur Hälfte. Heinrich Käse besaß kein Hotel, er hatte ein „Reisebureau und Cigarrengeschäft“ in einem Hotel – nämlich im eleganten Hotel de l’Europe am damaligen Alsterdamm 39 (heute Ballindamm) sowie zwei weitere Tabak- und Lotterieläden in den schicken Alsterarcaden 9 und in der Dammthorstraße 30 und bot darüber hinaus wie gesagt Stadt- und Hafenrundfahrten an.

Sein Sohn wiederum, unser erfolgreicher Berliner Käse, hatte 1910 die Schöneberger Kaufmannstochter Marie Friederike Ellen Freudeberg geheiratet, hat sein Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg – wie gesagt – nicht wieder reaktiviert, feierte 1966 in der Wartburgstraße in Schöneberg noch seinen 85. Geburtstag, wie die Berliner Presse vermeldete und starb zwei Jahre später­.

Erhalten hat sich die Erinnerung an Herrn Käse und sein Unternehmen nur noch im Berliner Volksmund, als ein Synonym für Stadtrundfahrten, beim Militär, wenn ein Soldat eine Platzrunde drehen muss („Einmal Käses Rundfahrt“), und als Ausdruck für weite oder verschlungene (Um-)Wege: „Manno, um bis zu dir zu kommen, musst‘ ick erstmal Käses Rundfahrt durch de janze Stadt machen.“

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