Selma Merbaum. Die Sehnsucht blaut

Selma Merbaum
Die Sehnsucht blaut

[…]
Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
So breit, so hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
Die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald, –
er sagt mir, dass das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt.
Die ferne Pappel winkt und winkt
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.
[…]

Das ist ein Auszug aus Selma Merbaums Gedicht „Poem“. Selma Merbaum wäre dieses Jahr einhundert Jahre alt geworden. Als sie das Gedicht im Sommer 1941 geschrieben hat, war sie 17. Und 17 Monate später war sie tot, verscharrt in einem deutschen Massengrab. Das „Poem“ hat auf wundersame Weise überlebt. Als der DDR-Schriftsteller Heinz Seydel 1968 eine Anthologie mit Gedichten über die Judenverfolgung zusammenstellen wollte und dafür „im In- und Ausland, Ost und West“ zu Beiträgen aufrief, hatte sich auch Alfred Kittner aus Bukarest gemeldet. Der Schriftsteller war 1942 mit Selma Merbaum im selben Arbeitslager und eine Freundin Selmas hatte ihm später im Ghetto später zwei ihrer Gedichte überlassen, die er bis zu diesem Tag gehütet und nun nach Ost-Berlin geschickt hatte.

Seydel hat eines der Gedichte, besagtes „Poem“, in seine Anthologie aufgenommen. Das Buch gelangte auch nach Israel. Dort las es Selmas einstiger Klassenlehrer Hersch Segal, der ihre Freundinnen ausfindig machte, die ein ganzes Album mit Gedichten von ihr auf abenteuerliche Weise gerettet hatten, und 1976 hat er diese 57 Gedichte drucken lassen. Diesen Privatdruck wiederum drückte die Dichterin Hilde Domin in Deutschland dem Autor Jürgen Serke in die Hand und sagt: „Lies mal!“…

Serke, der zuvor bereits ein Buch über „verbrannte Dichter“ veröffentlicht hatte, fuhr daraufhin 1980 nach Israel, schrieb „Die Geschichte einer Entdeckung“, die im „Stern“ abgedruckt wurde – und noch im selben Jahr hat Hoffmann & Campe die Gedichte unter dem Titel „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ herausgebracht. So begann Selma Merbaum schlagartig in Deutschland und durch zig Übersetzungen bis nach Japan bekannt zu werden…

Wer war dieses Mädchen, diese junge Frau, deren Lyrik heute zur Weltliteratur gehört und von der Hilde Domin gesagt hat, dass man sie „weinend vor Aufregung“ lese?
Selma Merbaum wurde am 5. Februar 1924 in Czernowitz geboren. Die Stadt war bis zum Ende des 1. Weltkriegs die Hauptstadt der Bukowina, des östlichsten Kronlandes der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und ein toleranter Schmelztiegel der Kulturen. Hier lebten Ruthenen (Ukrainer), Rumänen, Österreicher, Schwaben, Magyaren, Armenier, Polen und Juden, die fast alle deutschsprachig waren, unter ihnen spätere Berühmtheiten wie der Tenor Josef Schmidt, der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, oder die Lyriker Rose Ausländer und Paul Celan, Selmas Cousin.

Nach dem Ende der k.u.-k.-Monarchie war die Region jedoch zum Spielball der Machtpolitik geworden; Rumänien hatte sich gegen Russland und die Ukraine durchgesetzt, und als Selma geboren wurde, gehörte Czernowitz bereits fünf Jahre zu Rumänien. Kulturelle Vielfalt war nicht mehr erwünscht, dafür war nun Rumänisch Amtssprache und die Rechte der Minderheiten beschnitten.

Selmas Vater, Chaim Meier „Max“ Merbaum, der aus einer Kleinstadt in der nahen Provinz stammte, hatte sich mit seinem Bruder in einem kleinen Kramladen in Czernowitz mit eingemietet, um dort Schuhe zu verkaufen. Der Laden gehörte der Kantoren- und Kaufmannstochter Friederika „Frieda“ Schrager, deren Vater wiederum der Bruder von Paul Celans Vater war, und in die Max sich verliebte.

Ein Jahr, nachdem die beiden geheiratet hatten (sie wurden übrigens von Rabbiner Dr. David Kessler getraut:), kam Selma auf die Welt. Doch Max Merbaum starb nur neun Monate nach der Geburt seiner Tochter mit 31 Jahren an Tuberkulose, die er sich im Ersten Weltkrieg während seines Dienstes in der österreichischen Armee geholt hatte.

Als Selma drei Jahre alt war, heiratete ihre Mutter wieder: Leo Eisinger, den Sohn eines Viehhändlers.Leo hat Selma jedoch nicht adoptiert, wie Marion Tauschwitz in ihrer Selma-Biografie schreibt, so dass der Doppelname Meerbaum-Eisinger, den man häufig in der Literatur findet, eigentlich falsch ist, wie auch die Schreibweise Meerbaum mit zwei „e“. Die Familie hat sich nur mit einem einfachen „e“ geschrieben.

Selma war als Kind vermutlich viel allein, weil ihre Mutter und ihr Stiefvater arbeiten mussten, um die Familie durchzubringen, und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre Freundin Renée erinnert sich:
Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist rein gekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.“

Aus ihren ersten Schuljahren sind keine Dokumente erhalten, aber im Sommer 1934 wurde Selma in die frühere private jüdische Mädchenschule, das »Hofmann-Lyzeum«, eingeschult, das sich nun »Liceul particular de fete« nannte, und in dem Rumänisch die einzig erlaubte Sprache im Unterricht und auf dem Schulhof war. Französisch, Deutsch und Latein kamen als Nebenfächer erst später dazu, und Selma war gut in Rumänisch, sie las rumänische Schriftsteller, und begann früh Heine, Rilke, Klabund, Verlaine und die damals populären indischen Weisheiten von Tagore zu lesen – Literatur, die sie bei Freundinnen oder im jüdischen Volkslehrhaus auslieh…

…und „wenn Selma der Unterricht nicht interessierte, ist sie unter die Bank gerutscht und hat dort gelesen“, soRenée, ihre beste Freundin, mit der sie zusammen hinten in der letzten Bank saß, und die die Lehrer von Selmas Versteck ablenkte. Hier unter der Schulbank ist Selma wohl auch klar geworden, dass ihr das Schreiben helfen würde, sich in dieser Welt der äußeren Zwänge mit ihren Worten ihre eigene Welt zu erschaffen.

Zu den Zwängen gehörte nicht nur der Unterricht oder die Schuluniform – alles schwarz: der Rock, die Bluse, die Strümpfe, die Schuhe; die Mädchen durften sie einzig mit weißen Kragen oder farbigen Schleifen aufpeppen, so wie sie Selma auch auf den meisten erhaltenen Fotos trägt. Selma, inzwischen in der Pubertät und recht eigenwillig war, wehrte sich auch gegen die Zwänge, die ihre Mutter ihr auferlegte. Ihre Freundin Renée:
Solange sie Zöpfe tragen musste, gab es zwischen ihr und ihrer Mutter morgens immer Krach. Die Mutter bürstete und flocht das Haar. Die Prozedur war zeitraubend, so daß wir Mühe hatten, rechtzeitig in die Schule zu kommen“.

Auch die Schulnoten der immer aufmüpfigen Selma wurden schlechter, sie begann vor Elternhaus und Schule in die Natur zu fliehen, den einzigen Ort, wo sie sich frei fühlen konnte, und sie schloss sich mit ihren Freundinnen Renée, Berta und Else der zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hazir (Der junge Wächter) an – und sie schrieb, nun war sie 15 Jahre alt, ihr erstes Gedichte bzw. das erste, von dem wir wissen, weil es überlebt hat: „Gilu“ (Freue dich) – ein Tanzlied, das beginnt:
Eine Kette von glühenden, hingerissenen Menschen, die nichts wollen als sich austoben… Gilu… 

das Symbol unseres Lebens, unserer Wünsche: „Freiheit auf allen Gebieten!“ 
…und das endet: „…wir sind müde und heiser und atemlos – aber wir sind glücklich!   

1938 hat sich Selma also der linksgerichteten Jugendgruppe Hashomer Hazair angeschlossen. Hier wurde u.a. darpber gestritten, ob man bleiben oder nach Palästina auswandern sollte, wie es die rumänische Regierung und die Judenhasser wollten. Pogromartige Überfälle waren inzwischen an der Tagesordnung und die Freude groß, als die rechtsgerichtete Regierung abdanken musste, so dass Hitlers Einmarsch in Österreich im März 1938 beinahe unterging genauso wie das Münchner Abkommen vom September und die ferne Pogromnacht vom 9. November in Deutschland. Doch mit der Annexion des Sudetenlandes im März 1939 rückten die Grenzen zu den deutsch besetzten Gebieten immer näher. Etliche Freundinnen Selmas verließen Czernowitz und einen gewissen Halt und Orientierung boten nun nur noch die jüdischen Jugendgruppen, wie der Hashomer Hazair. Selma war begeistert, wie wir schon aus ihrem Gedicht „Gilu“ erfahren haben, und sie verbrachte jede freie Minute mit der Gruppe und mit ihr im Wald, in der Natur, wo sie alles tun konnte, was sie wollte: Deutsch sprechen, tanzen, singen, diskutieren über Zionismus, Kapitalismus, Sozialismus, Literatur und die »Freiheit.«

Aus diesem Jahr, 1939, als die Dichterin in Selma Merbaum erwachte, sind sieben Gedichte erhalten, Worte, in denen sie Trost und Zuflucht fand vor der immer unerträglicher werdenden realen Welt, Worte über den Sommer, die Farben, und ihre Gefühle. Denn Selma hatte sich verliebt, in einen Jungen aus ihrer Gruppe: Leiser Fichmann.
Seine Tante erinnerte sich später: „Wenn Selma und Lesjer zusammen spazieren gingen, wirkten sie sehr gegensätzlich: Er groß, sehr gepflegt und kontrolliert, Selma in Gedanken, gleichgültig gegen ihr Äußeres. Sie sahen wie zwei völlig verschiedene Individuen aus, aber sie betete ihn regelrecht an.“
Wir wissen nicht, ob Leiser auch in Selma verliebt war, oder ob die beiden sich jemals geküßt haben, aber sie haben viel Zeit miteinander verbracht, und Selma hat ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Nähe in Worte gefasst.

Komm zu mir, dann wieg ich dich,
Wiege dich zu Ruh.
Komm zu mir und weine nicht,
Mach die Augen zu.
[…]
Meine Augen sollen dir,
Blinkend Spielzeug sein.
Meine Lippen schenk’ ich dir –
Trink dich in sie ein.

oder
Es tut so weh, allein zu sein. Drum komm, ich warte ja.
Wir lachen uns ein neues Glück, so glaub es doch und komm
zurück – es ist ja soviel Lachen da.
[…]
Du bist so stark. Ich möchte mich so gern in deine Arme
lehnen…
O, komm und führe mich so gut von Hindernis zu Hindernis.
Und dann – in unsrem Liebeszelt, o dann, 
dann werfen wir der Welt das hellste Lachen zu.
Nicht wahr, du kommst, 
Ich wein nicht mehr. O nein, ich
Bin ja nicht mehr leer […]

Letztlich haben wir dieser wie auch immer gearteten Beziehung das Überleben der 57 Gedichte Selmas zu verdanken. Denn die ihre liebsten Gedichte wird Selma später in ein Album schreiben, es „Blütenlese“ nennen und diesem Jungen widmen: „Leiser Fichmann, zum Andenken und zum Dank für viel unvergesslich Schönes in Liebe“.

In einem anderen Gedicht Selmas heißt es: […]

Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.
[…]
Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh.
Und ich – ging.

Diese „Ansprache“ könnten ebenfalls an Leiser gerichtet gewesen sein, oder – nach Ansicht von Selmas Biografin Marion Tauschwitz – eher noch an ihre Mutter, mit der Selma, die sich inzwischen zu einer selbstbewussten jungen Frau entwickelt hatte, ständig im Streit lag, bis sie schließlich zu ihrer belesenen und klavierspielenden Großmutter Henie, eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen, in die Judengasse zog, wo sie ihr eigenes kleines Zimmer und es nicht weit zu ihren Freunden hatte, und wo noch Schabbat gefeiert wurde. Zu dieser Zeit, Ende 1939, entstand auch ihr Gedicht „Stille“, das sich auf einen dieser Schabbes-Abende beziehen mag:

Im Zimmer schwebt die Stille und die Wärme,
ganz wie der Vogel in durchglühter Luft,
und auf dem schwarzen kleinen Tische
liegt still das Deckchen, dünn und zart wie Duft.
[…]
Die rote Nelke dämmert in den Raum,
als wäre sie dort eine Königin.

Die ganze Stille scheint für sie zu sein,
und nur die Flasche mit dem süßen Wein
blinkt still und wie befehlend zu ihr hin.
Sie aber schwebt auf ihrem grünen Stengel,
dünn wie im Kindertraum das Kleid der Engel,
und ihr betäubend süßer Duft lullt ein,
als wollt’ er aus dem Märchenschlaf
Dornröschen rauben.

Als Selma diese Verse schrieb, hatte Deutschland bereits Polen überfallen. Die Flüchtlinge von dort berichteten von Gräueltaten gegen Juden und ein halbes Jahr später besetzte die Sowjetunion im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts im Juni 1940 Bessarabien und die Nordbukowina. Die Rote Armee marschierten in Czernowitz ein und 300.000 Rumänen flohen in das Altreich Rumänien. Renée, Selmas Freundin:
„Das war für uns wie ein schreckliches Autounglück – das hat die anderen getroffen, uns trifft das nie… Wir haben zuerst gedacht, jetzt wird alles besser. Wir haben ja an den Sozialismus geglaubt…“ 

Selma und ihre Freunde vom Hashomer Hazair setzten wie alle aus der linken jüdischen Jugend große Hoffnung in die Sowjets – Schluss mit Antisemitismus! Gleiche Freiheiten für alle!

und plötzlich ist das Grün der Bäume neu
und ein Geruch wie von ganz frischem Heu,
schlägt dir in dein Gesicht, das, heiß und blaß,
auf diesen Regen wohl gewartet hat.

Im Herbst 1940 wurden dann auch die Schulen wieder geöffnet. Selma und ihre Freundin Renée schrieben sich in der jiddischen Mittelschule Nr. 5 am Austriaplatz ein und trafen viele ihrer Klassenkameradinnen aus dem »Hofmann Lyzeum« wieder. Und sie alle waren begeistert. Zum ersten Mal wurden Jungen und Mädchen zusammen unterrichtet. Ein Lehrer eröffnete einen »dramatischen Zirkel« ein, der ihre Liebe für die jiddischen Lieder und Verse weckte, und in dem auch Itzig Manger, der »Prinz der jiddischen Ballade« auftrat, der Selma inspiriert hat, sich mit seinem Werk zu befassen und Gedichte von ihm zu übersetzen.

In dieser Zeit, als Selma in der Schule aufblühte und sich der Kraft ihrer Worte bewusst wurde, setzte bei ihr und ihren Freunden zugleich Ernüchterung ein. Die neuen Besatzer verboten alle politischen Organisationen außer der kommunistischen. Die Führer der zionistischen Gruppen wurden verhört, schuldig befunden, einer verbotenen Organisation anzugehören, und nach Sibirien deportiert. Und es wurden immer neue Listen mit »Volksfeinden« und »Bourgoises« angelegt: von ehemaligen Unternehmern, Beamten, Fabrikanten, Polizisten, Gutsbesitzern oder Prostituierten, die drangsaliert oder einfach deportiert wurden. In einem Gedicht vom 4. März 1941 lesen wir Selmas Verunsicherung:

Du, weißt du, wie ein Rabe schreit,
und wie die Nacht, erschrocken bleich,
nicht weiß, wohin zu flieh’n?
Wie sie verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es ihr Reich, ist es nicht ihr Reich,
gehört sie dem Wind oder er ihr,
und sind die Wölfe mit ihrer Gier
nicht zum Zerreißen bereit?
[…]
Du, weißt du, wie der Regen weint,
Und wie ich geh’, erschrocken bleich,
und nicht weiß, wohin zu flieh’n?
Wie ich verängstigt nicht mehr weiß:
Ist es mein Reich, ist es nicht mein Reich,
gehört die Nacht mir, oder ich, gehör’ ich ihr,
und ist mein Mund, so blass und wirr,
nicht der, der wirklich weint…?

Drei Monate später, am 22. Juni 1941, überfiel Deutschland die Sowjetunion. Eine Woche später zog die Rote Armee aus Czernowitz ab. Selma muss aufgewühlt gewesen sein. Von keinem anderen Tag sind ähnlich viele Gedichte erhalten. Regen beherrscht alle Verse. Sinnbild ihrer Tränen:
Ich starr hinaus
Und seh’ – versteh’! –
Dabei der Trauer in’s Gesicht.
Und so wie ich den Regen seh’ –
Oh, so siehst du ihn nicht.
[…]
Der Regen weint
Mit mir vereint
Fern und nah.
Die Sehnsucht blaut
Mir nah’ vertraut
Und bekannt
Sie ist in mir
Und blickt zu dir,
Wie gebannt.

Eine weitere Woche später kehrten die inzwischen mit Deutschland verbündeten Rumänen zurück. Unterwegs hatten sie sich regelrecht in einen Blutrausch gemordet. Die Bauern um Czernowitz herum zerrten ihre jüdischen Nachbarn aus den Häusern. Steinigten und erschossen sie. Vergewaltigten Frauen und Mädchen. Im jüdischen Viertel von Czernowitz begannen marodierende Horden zu morden. In den ersten beiden Tagen kamen dort etwa 2000 Juden um. Unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Gräueltaten schrieb Selma am 7. Juli 1941 eingangs zitiertes verzweifeltes „Poem“; eine Strophe lautet:
[…] Dann…
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
Tot.
Das Leben ist rot
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
Tot.

[…]

Dieser 7. Juli 1941 beendete zugleich abrupt alle Auswanderungspläne in Selmas Gruppe. Die Rumänen erließen Ausgeh- und Reiseverbote, konfiszierten jüdischen Besitz, Radios und Telefone und schreiben weiter Namenslisten, damit den geplanten Deportationen niemand entkommen konnte. Am 11. Oktober richteten sie ein Ghetto ein, aus dem in sechs Wochen 28.700 Juden deportiert wurden, bis die Bahngleise durch den Wintereinbruch blockiert waren. Am 15. November hoben sie die Gettoschranken wieder auf, da die jüdische Bevölkerung inzwischen so dezimiert war, dass man sie nicht mehr ghettoisieren musste.

Auch Selmas Jugendgruppe war seit der Deportation ihrer führenden Mitglieder zerschlagen. Leiser Fichmann meldete sich zum Arbeitsdienst, weil er hoffte, so leichter als aus Czernowitz nach Palästina gelangen zu können; und seine Einberufung kam so schnell, dass er sich nicht Selma verabschiedet hat. Selma war tief verletzt, aber sie wollte ihm doch etwas mit auf den Weg geben, das ihr lieb und teuer war und das sie beide verbunden hatte: ihre Gedichte.

Sie übertrug die Gedichte, die sie ausgewählt hatte, nach und nach in ihre „Blütenlese“ für Leiser. Die beiden letzten stammen vom 23. und 24. Dezember 1941.

Spürst du es nicht, wenn ich um dich weine,
bist du wirklich so weit?
Und bist mir doch das Schönste, das Eine,
um das ich sie trage, die Einsamkeit.

Und zuletzt:
Das ist das Schwerste: sich verschenken
und wissen, dass man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken
dass man wie Rauch ins Nichts verfließt.

Anfang Juni 1942 setzten die Deportationen wieder ein. Bislang war Selmas Familie verschont geblieben. Doch am 28. Juni war auch sie dran. Selma war die Nr. 1174 auf der Deportationsliste dieses Tages, Nr. 1172 war ihr Stiefvater, Nr. 1173 ihre Mutter. Rumänische Gendarmen brachten sie zum Makkabi-Platz und dort aus wurden sie in Viehwaggons nach Transnistrien zwischen Bug und Dnjestr transportiert.

Am gleichen Abend klopfte ein junger Mann an die Wohnungstür der Familie von Selmas Freundin Else, in der Hand ein Album: „Ich soll Ihnen das von Selma geben. Sie hat es mir zugesteckt, als man sie heute mit ihren Eltern holte. Sie möchten das Album an Selmas Freund Fichmann weiterleiten.“ 

Unter dem letzten Gedicht in dem Album stand in roter Schrift hastig hingeworfen: „Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Schade daß du dich nicht von mir empfehlen wolltest. Alles Gute Selma.«

Else hat das Album Anfang 1943 Leiser übergeben, als der für ein paar Tage aus dem Arbeitslager nach Czernowitz zurückkehren durfte.

Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die blau sind wie Sehnsuchtsweh.
Ich träume, es fallen von den Bäumen
Flocken von klingendem Schnee. 

Und all diese Flocken
Sie werden zu Tränen.
Ich weine sie heiß und wirr –
Begreif meine Träume, Geliebter, sie sehnen
sich alle nur ewig nach dir

Leiser hat das Album mitgenommen zur Zwangsarbeit. 1944, kurz bevor die Rote Armee Czernowitz einnahm und er Gefahr lief, rekrutiert zu werden, floh er aus dem Lager, um irgendwie nach Palästina zu kommen, traf sich noch einmal mit Else und gab ihr das Album zurück: „Ich will nicht, dass Selmas Gedichte verloren gehen, wenn ich es nicht schaffe.“
Leiser schaffte es nicht: Das türkische Fluchtschiff „Mefkure“, das ihn nach Palästina bringen sollte, wurde am 5. August 1944 – Selmas Geburtstag – von einem sowjetischen U-Boot versenkt. Leiser ist ertrunken.

Selma, die in das Lager „Cariera de patria“ (zu deutsch „Steinbruch am Bug“) deportiert worden war, musste dort mit ihren Eltern, mit Kranken, Kindern und Alten tagsüber unter freiem Himmel und glühender Sonne kampieren. Nur nachts durften die Häftlinge in die Unterkünfte. Außer einer dünnen Suppe gab es nichts zu essen. Auf Fluchtversuche oder Ungehorsam stand der Tod durch Erschießen.

Nach zwei Monaten bekam sie aus dem Lager, in dem ihre Freundin Renée einsaß, einen Brief von ihr ins Lager geschmuggelt. Sie war so glücklich von Renée zu hören und schöpfte soviel Kraft und Trost aus der Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit, dass sie mit einem langen Brief und vielen Koseworten antwortete, der Renée zurückgeschmuggelt wurde. Es ist ihr einzig erhaltener Brief aus dem Lager. Ein Auszug:
»Rena Tatanca, Netsel, es ist so heiß hier, daß ich zu faul bin, die Augen zu schließen, daß ich nicht imstande bin den Bleistift zu halten u. es mir schwer fällt einen Gedanken durch mein Hirn zu wälzen. […] Jetzt wenigstens kommt es mir vor, daß du bei mir sitzt, daß ich nach fast einem Jahr wieder mit dir sprechen kann. Was sage ich nach fast einem Jahr.
[…] Eigentlich sind ja schon mehr als zwei Jahre vergangen seit der Zeit, in der wir Nachmittage lang zusammen gesessen sind, ohne zu reden. Nachmittage an welchen du [Klavier] gespielt hast u. ich zugehört habe u. wir beide genau gewußt haben, wie es jeder von uns zumute war. Es ist vielleicht nicht gut, daß ich solche Erinnerungen heraufbeschwöre. Aber macht nichts. Ich weiß nicht, wie du es empfindest, ich jedenfalls, sehne mich manchmal schon nach dem unsagbar süßen Weh solcher Erinnerungen. […] Ich denke manchmal – Berta. oder – Leiser oder – ein Kuß. […] Lassen wir das. […]
Netsel […] wie lange wird das wohl noch dauern? Wie hältst du das noch aus? Ich bin noch nicht einmal 3 Monate hier u. es kommt mir schon vor, daß ich wahnsinnig werden muß. Besonders in diesen unsagbar hellen u. weißen Nächten, die zum Überströmen voll sind mit Sehnsucht. […] Es ist mir, als ob alle meine künftigen Tage in eine feste Masse zusammenfrieren und sich für immer schwer auf meine Brust legen wollten.
Rena, Rena. Wenn du wenigstens mit mir wärest, ich weiß nicht, vielleicht, würden wir einander, wenn wir zusammen wären, bald zuviel werden. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls könnten wir noch gut einen Monat durchhalten wenn wir zusammen wären.
Natürlich hält man es auch so aus. Man hält es aus, trotzdem man immer wieder meint: jetzt, jetzt ist es zuviel. Jetzt halte ich nicht mehr durch. Jetzt breche ich zusammen. […] 
Küße, Chasak [sei stark]. Selma

Kurz danach wurden die Häftlinge des Lagers am Steinbruch auf Lastwagen verladen und als Arbeitssklaven in das von Deutschen geführte Zwangsarbeitslager Michailowka östlich des Bug geschafft. Hier hatte die Organisation Todt und die SS das Sagen und die Häftlinge mussten unter der Peitsche ihrer Aufseher für die Remscheider Baufirma Dohrmann AG Steine behauen und die Heeresstraße IV, die bis in den Kaukasus reichen sollte, bauen. Wer das befohlene Pensum nicht schaffte, wurde erschossen und am Straßenrand verscharrt. Die Häftlinge bekamen schimmliges Brot zum Essen und abgestandenes Wasser zum Trinken und viele steckten sich mit Typhus an. Die Arbeitstrupps bemühten sich, die Kranken mitzuschleppen und die Krankheit zu vertuschen, denn die Diagnose Typhus bedeutete den sicheren Tod durch Erschießen. Selma war jung und zäh, und blieb von der ersten Epidemie im Oktober verschont. Weder Krankheit noch Hunger noch Durst hatten sie in die Knie gezwungen. Ihr Überlebenswille war unbeugsam.

und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei’n.

Selma musste alle Ängste, die sie zu lähmen drohten, weggewischt haben. Sie wollte mit Hilfe eines Wachmanns, der ihr offensichtlich wohlgesonnen war, fliehen und hatte schon einen Abschiedsbrief an ihre Mutter geschrieben, den sie im Futter ihres Mantels versteckte. Doch im Oktober fiel der erste Schnee; die Spuren hätten sie verraten, sie wäre schnell erfroren und musste ihre Fluchtpläne auf den Frühling verschieben.

Anfang Dezember überrollte eine zweite Typhus-Welle das Lager. Diesmal erwischte es auch Selma. Sie kämpfte eisern gegen die Krankheit an.

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei’n.
Ich will nicht sterben. Nein:
Nein.

Selma schleppte sich trotz Schwäche und hohen Fiebers weiter zum Arbeitseinsatz. Fast zwei Wochen lang gelang es ihr mit Hilfe der anderen, die Krankheit vor den Wachen zu verbergen.
Doch ihre Kräfte schwanden von Tag zu Tag. Am 16. Dezember 1942 war seit dem Nachmittag aus ihrer Koje in der dritten Etage der Pritschenbetten leiser Gesang zu hören. Selma sang sich aus dem Leben.
Anisoara Daghani erinnert sich: „Die Stimme wurde immer schmaler, schwächer. Dann war es still.“
Ihr Mann, der Maler Arnold Daghani fertigte eine Zeichnung von dem Moment an, als die tote Selma in eine Decke gehüllt von der obersten Plattform des Bettgerüstes heruntergehoben wurde: wie eine Pietá.
Am nächsten Tag beerdigte man die 18-jährige mit anderen Typhus-Opfern in einem Massengrab. Selmas Mutter und ihr Stiefvater wurden fast genau ein Jahr später, kurz vor Ankunft der Roten Armee, von den Deutschen erschossen.

Selmas Freundinnen Renée und Else haben sich 1944 in Czernowitz wieder getroffen: die eine war aus ihrem Lager geflohen, die andere war von der Deportation verschont geblieben. Sie tauschten Selmas Hinterlassenschaften. Renée gab Else den einzigen Brief Selmas aus dem Lager, und Else ihr die Leiser Fichmann gewidmeten Gedichte. Renée schlug sich mit Selmas Album im Rucksack quer durch halb Europa durch und landete 1948 mit dem Schiff in Israel, im Gepäck die Gedichte, die ihr so wertvoll waren, dass sie sie in einem Banksafe deponierte.

Ein Jahr später wanderte auch Else, wie Renée über Paris, nach Israel aus, auch sie mit ihrem einzigen Andenken an Selma, den Brief aus dem Lager, im Gepäck. Hersch Segal, ihr Klassenlehrer aus dem jüdischen Lyzeum in Czernowitz, machte die Beiden, wie anfangs erwähnt, dort ausfindig, nachdem er 1968 Selmas „Poem“ in der DDR-Anthologie „Welch Wort in die Kälte gerufen“ gelesen hatte.
Segal, der in Israel keinen Verlag fand, der Verse in der „Sprache der Mörder“ zu drucken bereit war, ließ sie auf eigene Kosten drucken – 57 Gedichte, die Selma Meerbaum unvergesslich gemacht haben, ein Mädchen, das zwischen 15 und 17 Jahre alt war, als es sie geschrieben hat, und das hätte eine wirklich große Dichterin werden können, wäre sie nicht wie Millionen anderer dem deutschen Rassenwahn zum Opfer gefallen.

Nimm hin mein Lied –
Es ist nicht froh,
Der Regen weint und weint.
Und wer ihn sieht,
Weiß sowieso,
Wie es das Glück gemeint.
[…] 
Nimm hin mein Lied.
Vielleicht bringt es
Das Lachen einst zurück.
Und wer es liest,
der sagt: Ich seh’s.
Und meint damit das Glück.

 

 





Mehr über Selma Meerbaum und alle überlieferten Gedichte in der akribisch recherchierten Biografie von Marion Tauschwitz: „Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“, zu Klampen Verlag, 2014

 

 

 

 

… und zehn ihrer Gedichte, wunderschön vertont von Albrecht Gündel-vom Hofe, interpretiert von Aviv Weinberg & Ensemble Z’lil schel Bet Haskala hier:https://www.selmamerbaum.de/cd/

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
spot_imgspot_img
5. Dezember 2024spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Oktober 2023spot_img
August 2024spot_img
August 2024spot_img
erscheint Oktober 2025spot_img
November 2020spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Set Youtube Channel ID
Instagram
Spotify