Weihnukka-Allerlei
Im Babylonischen Talmud, Schabbat 21b lesen wir: „Unsere Weisen lehrten: Am 25. Kislew – der entspricht in diesem Jahr dem 25. Dezember im bürgerlichen Kalender – beginnen die Tage des Chanukkafestes. Es sind ihrer acht, an denen man weder Trauerfeier abhalten noch fasten darf. Als nämlich die Griechen in den Tempel eindrangen, verunreinigten sie alle Öle, die im Tempel waren. Als die Herrschaft des Hasmonäerhauses erstarkte und jene besiegt waren, suchte man nach und fand nur ein einziges Krüglein mit Öl, das mit dem Siegel des Hohepriesters versehen war, und nur noch so viel darin, um einen Tag zu brennen. Da geschah ein Wunder, und man brannte davon 8 Tage. Im folgenden Jahre bestimmte man diese Tage mit Lob- und Dankliedern als Festtage zu feiern.“
Obwohl das Fest also an die Befreiung Jerusalems vom Syrer Antiochius IV. durch die Makkabäer im Jahre 165 v.u.Z. und an die Wiedereinweihung des zerstörten Tempels samt Wunder erinnert, kommt es nicht mal in der Bibel vor. In Deutschland soll sich Chanukka, wie es heute praktiziert wird, im 15. Jahrhundert herausgebildet haben. In dieser Zeit ist auch die Melodie zu »Maos Zur« (hebräisch für »Fels meiner Rettung«) – dem wohl bekanntesten Chanukka-Klassiker – entstanden sein.
Das gleiche gilt für das „Chanukka-Gelt“ oder den Dreidel (Sewiwon), der mit den hebräischen Anfangsbuchstaben für „Nes gadol haja scham“ (bzw. „po“) – „Ein großes Wunder geschah dort“ (bzw. „hier“, wenn in Israel mit ihm gespielt wird). Der ist allerdings gar keine jüdische Erfindung. Diverse Völker haben ihn schon Jahrhunderte gedreht, bevor er zu Chanukka-Ehren kam. Und auch das Fettgebackene, das man in Erinnerung an das Ölwunder im Tempel traditionell zu Chanukka isst, also zb. Lattkes (Kartoffelpuffer) und Pfannkuchen oder Krapfen – hebräisch „Sufganiot“ oder jiddisch „Pontchkes“ genannt – sind eine Übernahme aus schon bestehenden Küchentraditonen.
Im 19. Jahrhundert begann die „deutsche Weihnacht“ (der dazu gehörige Baum hatte schon im 17. Jahrhundert in die Wohnstuben gefunden) auf Chanukka abzufärben oder es sogar zu ersetzen, auch weil das Fest immer mehr zu einem gemütlichen Familienfest mit Geschenken mutierte und kaum noch religiös besetzt war. Viele Juden redeten sich nun damit heraus, dass Weihnachten nicht nur der Geburtstag Jesu, sondern auch der eines heidnischen Sonnengottes und ein Fest der Wintersonnenwende sei. Und so wurde „Weihnukka“ geboren; auch der Begriff selbst ist keine moderne Erfindung, sondern taucht schon im 19. Jahrhundert in der jüdischen Presse auf. Getaufte oder assimilierte Juden setzten sich jedenfalls im Wunsch „dazu zu gehören“ jetzt wie ihre christlichen Nachbarn unter den geschmückten Baum und demonstrierten deutsche „Leitkultur“, wobei sie einige jüdische Bräuche beibehielten.
Erst 1891 beschloss die alarmierte Rabbinersynode endlich – um „der Jugend einen Ersatz zu schaffen“ – das eigentliche Chanukka wieder aufzuwerten. Mit dem Aufkommen des Zionismus geriet das Ölwunder aber dann in den Hintergrund und Chanukka bekam dank der „Wiederauferstehung“ der heldenhaften Makkabäer eine eher symbolische Funktion – als Fest der Selbstbehauptung und Vorbild im Unabhängigkeitskampf. Wenig später hießen die ersten Sportvereine „Makkabi“, und heute schmückt sich alles mögliche vom Bier bis zur Krankenversicherung mit dem stolzen Namen.
Doch über 100 Jahre später platzen viele Diaspora-Juden im Dezember immer noch vor Neid. Die allermeisten sind ja seit dem Kindergarten einmal im Jahr umzingelt von Weihnachtsfeiern, -liedern, -bäumen, -essen, Glühweinduft, Lichterketten, Feierstimmung – und fühlen sich einfach ausgeschlossen. Während diese „Dezember-Dilemma“ in den jüdischen Gemeinden hierzulande in der Regel ignoriert wird, ist „Christmukkah“ in Amerika durchaus ein großes Thema. Schließlich ist das Feiern religionsübergreifender Feste nirgends verbreiteter als in den USA, dem Land mit den wahrscheinlich meisten „Mix“-Familien. Für viele amerikanische Juden ist es schon Tradition („Chinese and a movie“ genannt), an Weihnachten erst ins Kino und dann in eines der garantiert geöffneten chinesisches Restaurants zu gehen.
Anders als heute war es früher bei deutschen Juden gang und gäbe, unterm Weihnachtsbaum zu sitzen. Selbst der Begründer des Zionismus wollte nicht auf Weihnachten verzichten. Theodor Herzl schrieb am 24. Dezember 1895 in sein Tagebuch: „Eben zündete ich meinen Kindern den Weihnachtsbaum an, als Güdemann kam. Er schien durch den „christlichen“ Brauch verstimmt. Na, drücken lasse ich mich nicht!. Aber meinetwegen soll‘s der Chanukkabaum heißen – oder die Sonnenwende des Winters.“
In seinem Gedicht „Menora“ hat Herzl die Traditionen verknüpft und einen Chanukkabaum kreiert.
Der Kabbalist und Philosoph Gershom Scholem:
In unserer Familie wurde schon seit den Tagen der Großeltern Weihnachten gefeiert, mit Hasen- oder Gänsebraten, behangenem Weihnachtsbaum, den meine Mutter am Weihnachtsmarkt an der Petrikirche kaufte, und der großen „Bescherung“ für Dienstboten, Verwandte und Freunde. Es wurde behauptet, dies sei ein deutsches Volksfest, das wir nicht als Juden, sondern als Deutsche mitfeiern. Eine Tante, die Klavier spielte, produzierte für die Köchin und das Zimmermädchen Stille Nacht, heilige Nacht. Als Kind ging mir das natürlich ein, und 1911, als ich gerade begonnen hatte, Hebräisch zu lernen, nahm ich das letzte Mal daran teil: Unter dem Weihnachtsbaum stand das Herzl-Bild in schwarzem Rahmen. Meine Mutter sagte: weil du dich doch so für Zionismus interessierst, haben wir dir das Bild ausgesucht. Von da an ging ich Weihnachten aus dem Haus.
Bei meinem Onkel wurde Weihnachten natürlich nicht gefeiert, dafür aber das jüdische Lichterfest, Chanukka. Das Fest, das seinen Ursprung dem Sieg der Makkabäer im Aufstand gegen die Hellenisierungsversuche des Königs von Syrien (also gegen „Assimilation“!) und der Reinigung des Tempels in Jerusalem von hellenistischen Götterbildern verdankte, wurde von der Zionistischen Bewegung erst richtig hochgespielt. Am Weihnachtsabend fand damals, vor allem wohl zugunsten der vielen ledigen jungen Männer und Mädchen, die die Weihnachtsfeiern ihrer Eltern nicht mitmachen wollten, ein so genannter Makkabäerball statt, eine sonderbare Erfindung, gegen die die Makkabäer, wie gegen so manches, was später in ihrem Namen praktiziert wurde, wohl einiges zu sagen gehabt hätten.
Als ich in den Kriegsjahren einmal Chanukka zu meinem Onkel kam und die Töchter fragte, woher sie denn all die schönen Geschenke bekommen hätten, sagten sie: das hat uns der liebe Chanukkamann gebracht.
Der Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin:
In meinem Elternhause pflegte man Weihnachten ähnlich zu begehen wie die Nachbarn, freilich wurde dabei der eigentliche religiöse Sinn dieses Festes ausgeklammert. (…) Manche Familien behaupteten, diese schöne Sitte nur mit Rücksicht auf das christliche Dienstmädchen zu pflegen, andere wiederum, wie mein deutschnationaler Onkel, betonten nicht zu Unrecht, dass der Christbaum mit dem Christentum ja eigentlich nichts zu tun habe, sondern ein Relikt des germanischen Julfestes darstelle.
Man soll die Feste feiern wie sie fallen – das war die Philosophie des bürgerlichen Milieus, das mich umgab. Es kam uns nicht in den Sinn, dass es etwa um dieselbe Zeit ein jüdisches Lichterfest gibt, das an den Sieg der Makkabäer über den Diadochenkönig Antiochus Epiphanes und an ein Ölwunder im Tempel zu Jerusalem erinnert.
Das alles war mir in der Weihnachtsnacht 1928 noch nicht bewusst, wohl aber spürte ich zutiefst, dass wir kein Recht hatten, ein Fest der Christenheit zu begehen und gleichzeitig an unserem Judentum festzuhalten. Es war eine schmerzliche Erkenntnis, denn ich liebte dieses Fest mit allen Sinnen. Schon etwa zwei Wochen vor Weihnachten wurde der eiskalte Salon abgesperrt, denn hier wurden die Geschenke gehortet, die uns dann am Heiligabend auf dem mit einem Damasttuch bedeckten und mit Tannenreisern geschmückten Gabentisch erwarteten. (…)
Der Berliner Anwalt und Humorist Sammy Gronemann erzählte einmal, dass ein kleines jüdisches Mädchen aus dem Fenster guckt, den Weihnachtsbaum in der Nachbarwohnung wahrnimmt und erstaunt ausruft: »Mutti, guck mal, die Christen haben auch einen Weihnachtsbaum!«
Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath:
Es war im Kindergarten. Ich war fünf und saß neben meiner Freundin Gertrud, in die ich sehr verliebt war. Gertrud hatte wasserblaue Augen, blonde Zöpfe, dünne Arme und Beine. Sie war als Schmetterling zur Welt gekommen und hatte sich nur deshalb in ein kleines Mädchen verwandelt, um von mir Buntstifte zu bor- gen oder graubraune Knete, vielleicht auch, um meine Hände und Arme zu beschmieren, manchmal auch mein Gesicht und natürlich … um mir den Kopf zu verdrehen.
„Ich fahre Weihnachten zu meiner Oma“, sagte Gertrud.
„Nimmst du mich mit?“ – „Ja.“ –
„Wo wohnt deine Oma?“ – „Berlin.“ – „
Wo ist das?“ – „Dort, wo meine Oma wohnt.“
Aufgeregt lief ich nach Hause.
„Ich fahre Weihnachten mit Gertrud nach Berlin“, sagte ich.
„So“, sagte mein Vater. „Und wer ist Gertrud?“
„Na, die Gertrud“, sagte ich.
„Weißt du, wo Berlin liegt?“ fragte mein Vater.
„Ja“, sagte ich. „Dort, wo Gertruds Oma wohnt.“
Mein Vater erklärte mir, warum Gertrud zu ihrer Oma fährt und wie das mit dem Weih- nachtsfest sei, das die Christen feiern. Es sei nämlich ein Familienfest. Da wird ein Weih- nachtsbaum im Zimmer aufgestellt mit vielen Kerzen und kleinen Engeln und Pfefferkuchenherzen und allerlei anderem Baumbehang. Die Wohnungen werden doppelt geheizt, weil’s draußen schneit und weil sich zu Weihnachten keiner erkälten darf, wegen der Stimmbänder. Denn zu Weihnachten werden schöne Lieder gesungen wie zum Beispiel Stille Nacht, und niemand darf heiser sein. Außerdem gibt’s viele Geschenke. Die liegen unter dem Weihnachtsbaum, und man braucht sie nur auszupacken.“
Wer legt die Geschenke unter den Weihnachtsbaum?“
„Der Weihnachtsmann.“
„Kommt der zu Gertruds Oma?“ – „Natürlich.“ –
„Kommt der auch zu uns?“ – „Nein.“ –
„Warum?“ – „Weil wir Juden sind“, sagte mein Vater.
„Und weil der Weihnachtsmann nur zu den Christen kommt.“
Meine große Berlinreise fiel natürlich ins Wasser. Gertrud brach ihr Versprechen und nahm mich nicht mit. Damals wurde mir klar, dass die großen Entscheidungen nicht im Kindergarten gefällt werden.
Anne Frank, 1942:
Liebe Kitty,
Chanukka und Nikolaus fielen dieses Jahr fast zusammen, der Unterschied war nur ein Tag. Für Chanukka haben wir nicht viele Umstände gemacht, ein paar hübsche Sächelchen hin und her und dann die Kerzen. Da ein Mangel an Kerzen herrscht, wurden sie nur zehn Minuten angezündet. (…) Der Nikolausabend am Samstag war viel schöner. Bep und Miep hatten uns sehr neugierig gemacht und schon die ganze Zeit immer mit Vater geflüstert, so dass wir irgendwelche Vorbereitungen wohl vermutet hatten. Und wirklich, um 8 Uhr gingen wir alle die Treppe hinunter, durch den stockdunklen Flur (mir schauderte, und ich wünschte mich schon wieder heil und sicher oben!) in dem Durchgangszimmer. Dort konnten wir Licht anmachen, weil dieser Raum keine Fenster hat. (…) Vater machte den großen Schrank auf. „Oh, wie hübsch!“ riefen wir alle. In der Ecke stand ein großer Korb, mit Nikolauspapier geschmückt, und ganz oben war eine Maske vom Schwarzen Piet befestigt. Es war für jeden ein schönes Geschenk mit einem passenden Vers drin. Ich bekam eine Puppe aus Brotteig, Vater Buchstützen und so weiter. Es war jedenfalls alles schön ausgedacht, und da wir alle acht noch nie in unserem Leben Nikolaus gefeiert haben, war diese Premiere gut gelungen.
Deine Anne
Der Frankfurter Autor Valentin Senger:
Einmal, ich mochte neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, übte man Anfang Dezember im städtischen Kinderhort in der Bleichstraße eine Krippenspiel ein. Nach dem Wunsch Nach dem Wunsch der Hortleiterin sollte ausgerechnet ich den Engel spielen, der mit pathetischer Stimme zu sagen hatte: „Fürchtet euch nicht! Sehet, ich verkündige euch große Freude“ und so weiter. Das war eine besondere Auszeichnung und ich war sehr stolz darauf. (…) Als ich jedoch meiner Mutter erzählte, welche Ehre mir zuteil geworden war, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen: „Du bist wohl meschugge. Du und ein Engel!“ (…) Aber ich ließ mich nicht beirren und lernte eifrig den Text. Doch meine Mutter hatte nichts Eiligeres zu tun, als in ihrer Freundesrunde jüdischer Kulturfunktionäre die Geschichte von meiner Rolle als Engel in einem christlichen Krippenspiel zum besten zu geben. Alle Anwesenden amüsierten sich köstlich, nur meine Mutter nicht. Für sie war mein Auftritt eine gojische Peinlichkeit. „Was soll das?“ fragte sie ärgerlich. „Ein beschnittener Engel!“ (…) Es war David Levin, der zweite oder dritte Vorsitzende des Kulturbunds, der am Abend des darauf folgenden Tages ein dünnes Büchlein mit zu uns nach Hause brachte, mich zu sich rief und mir das Gedicht von Erich Mühsam mit dem Titel Heilige Nacht vorlas:
Heilige Nacht (1914)
Geboren ward zu Bethlehem
ein Kindlein aus dem Stamme Sem.
Und ist es auch schon lange her,
seit’s in der Krippe lag,
so freun sich doch die Menschen sehr
bis auf den heutigen Tag.
Minister und Agrarier,
Bourgeois und Proletarier –
es feiert jeder Arier
zu gleicher Zeit und überall
die Christgeburt im Rindviehstall.
(Das Volk allein, dem es geschah, das feiert lieber Chanukka.)
Es hat nichts genutzt. Ich habe den Engel doch gespielt, wenn auch mit recht blamablem Resultat, denn ich blieb bei dem kurzen Text zweimal hängen. //
Während viele Chanukka-Lieder sehr alt sind, stammen die meisten berühmten Christmas-Songs aus dem 20. Jahrhundert und aus den USA, und wurden zu neunzig Prozent von Juden geschrieben, auch wenn sie zum Sinnbild für eine »christlich-amerikanischen Weihnachtstradition« geworden sind.
Im Grunde genommen ist die Geschichte der »koscheren« Weihnachtslieder die Geschichte der jüdischen Einwanderer in Amerika, die sich Nischen suchen mussten, um ins Geschäft zu kommen. Weihnachtslieder schreiben war früher kein besonders gefragtes Metier und wenig lukrativ. Wenn jemand beauftragt wurde – egal ob Jude oder Christ –, eines zu schreiben, dann schrieb er es.
Damit ging aber gleichzeitig einher, dass viele der Songs, wenn Juden sie getextet hatten, einen anderen »Drall« als die klassischen Lieder bekamen. In den Texten geht es eben nicht ums Christkind und um heilige Nächte, sondern zum Beispiel um Schnee und Kälte wie in »White Christmas«, »Let ist snow« oder »Baby, It’s Cold Outside«, um ein Rentier names Rudolph oder »am Feuer geröstete Kastanien« in dem Song »Chestnuts Roasting on an Open Fire« von Mel Tormé und Robert Wells, die eigentlich Torma und Levinson hießen und russisch-jüdische Wurzeln hatten.
Ein weiteres geniales Duo war Ralph Blane und Hugh Martin, die 1944 für das Filmmusiacl „Meet Me In St. Louis“ den Weihnachtssong „Have Yourself A Merry Little Christmas“ geschrieben haben. Die Verfasser von »It’s The Most Wonderful Time Of The Year« wiederum waren Edward Pola und George Wyle – der erste ein ungarischer Jude, der früher mal »Pollacsek« geheißen hatte, und der zweite ein deutscher Jude, der als Bernard Weissman zur Welt gekommen war. In den USA hat sich für diese Art von »Wetterbericht«-Weihnachtsliedern jedenfalls so auch der Name »Season Songs« eingebürgert.
Apropos Wetter. Die meisten dieser Songs wurden im Sommer im glühend heißen Kalifornien geschrieben. Tormé sagte einmal in einem Interview, bei den »Kastanien am heißen Feuer« habe er sich kalte Gedanken machen wollen. Und »Let it Snow, let it snow, let it snow!« ist während der historischen Hitzewelle 1945 in Chicago entstanden, wo einer der beiden, die für diesen Ohrwurm verantwortlich waren, damals lebte: Jule Styne, der als Julius Kerwin Stein und Sohn ukrainischer Juden in London geboren worden war. Sein Co-Autor war Sammy Cahn, der eigentlich Samuel Cohen hieß, und dessen Eltern aus Polen in die arme Lower East Side von New York gezogen waren, wo dann auch Sam geboren wurde.
Viele Amerikaner, und wohl auch Europäer, wissen gar nicht, dass die Lieder, die sie zur Weihnachtszeit gern hören, jüdische Autoren haben. Und die es wissen, sind nicht alle begeistert. Michael Feinstein, ein Sänger und Pianist, schrieb einmal in einem Artikel unter dem Titel »Wem gehört Weihnachten?« in der New York Time, der Vorstand des Orchesters, mit dem er gesungen hatte, habe sich, nachdem er den jüdischen Hintergrund einiger Songwriter erwähnt hatte, darüber beschwert, dass sein Weihnachtsprogramm »zu jüdisch« sei.
In einem anderen Artikel mit dem Titel »Ungläubige, lasst Weihnachten in Ruhe« schreibt der Autor Garrison Keilor: »All diese lausigen Weihnachtslieder von jüdischen Kerlen, die jedes Jahr die Einkaufszentren malträtieren – Rudolph und die Kastanien und der Rest von diesem Dreck…. Hat etwa einer unserer Jungs geschrieben »Schnapp dir deine Schuhe, komm mit, wenn du willst, und wir werden das Schofar für Rosch Haschana blasen«? Nein, haben wir nicht. Weihnachten ist ein christlicher Feiertag – wenn Sie nicht im Klub sind, dann hauen Sie ab.« – If you’re not in the club, then buzz off…!«
Im Übrigen waren auch in der jüdischen Community nicht alle angetan von diesen Songs jüdischer Autoren. Einer der Vorwürfe lautete, dass mit ihnen die jüdische Identität verloren gehen würde. Aber sehen wir uns beispielsweise Felix Bernhard an, den Komponisten von »Winter Wonderland«, zu deutsch auch als »Weißer Winterwald« bekannt. Der Song stammt von 1934, wurde aber erst 1946, zwei Jahre nach Bernhards Tod, in der Version der Andrew Sisters richtig zum Dauerbrenner. Felix Bernhards Vater, der sich hinten noch mit »dt« schrieb, kam aus Deutschland und seine Mutter Anna aus Russland. Bei der Volkszählung haben beide ihre Muttersprache mit Jiddisch angegeben. Felix Bernhard bekam von seinem Vater, einem Berufsgeiger, seinen ersten Unterricht, tourte dann als Pianist in Varieté-Shows durch die Gegend und schrieb Songs für die bekanntesten jüdischen Sänger seiner Zeit, darunter für Sophie Tucker, Eddie Cantor und Al Jolson – Interpreten also, die sehr viel für den Erhalt gerade einer jüdischen Identität getan haben.…
Irving Berlin, der Komponist und Texter von »I’m Dreaming of a White Christmas«, dem wohl berühmtesten aller amerikanischen Weihnachtslieder, gilt als einer der größten Songwriter der amerikanischen Geschichte. Sein Vater war Kantor in einer Synagoge im heutigen Belarus, bis die Familie mit ihren neun Kindern 1893 vor den Pogromen im Russischen Kaiserreich in die USA flüchtete. Da war Irving Berlin fünf Jahre alt und hieß noch »Israel Isidore Beilin«. Sein Vater verdingte sich in New York wieder als Kantor und seine Mutter als Hebamme.
Als Isidore, der »Izzy« genannt wurde, acht Jahre alt war, starb sein Vater. Er musste die Schule abbrechen und begann, Zeitungen zu verkaufen, um den Lebensunterhalt für die Familie mitzuverdienen. Mit 13 wechselte er den »Beruf«. Da er genauso gut singen konnte wie sein Vater, tingelte er nun mit ein paar Kumpels von Saloon zu Saloon, um sich dort ein paar Münzen zu verdienen. Mit 18 bekam er einen Job als singender Kellner in Chinatown, und brachte sich selbst das Klavierspielen bei (Noten lesen und schreiben hat er nie gelernt). Und kurz darauf veröffentlichte Izzy seinen ersten Song, mit dem er 37 Cent verdient hat. Aber ein Schreibfehler auf dem Notenblatt, das den Komponisten dabei fälschlicherweise als »I. Berlin« angab, brachte ihn darauf, seinen Namen zu ändern. So wurde aus »Isidore« Irving, und aus Beilin wurde »Berlin«.
Und dieser Berlin war fasziniert von dem friedlichen Familienfest »Weihnachten«, das seine christlichen Nachbarn in der Lower East Side feierten und er war Amerika zutiefst dankbar, dass es seine Familie von der Verfolgung und Armut befreit hatte. Sowohl sein berühmtes »God bless America«, die inoffizielle amerikanische Nationalhymne, als auch »White Christmas« von 1942 sind Tribute an das Land, das ihn aufgenommen hat.
Der Song wurde übrigens von Bruno Balz, dem Texter von „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“, „Kann denn Liebe Sünde sein“ usw. verdeutscht: „Süß singt der Engel Chor… Und ein einz’ger Wunsch stellt sich ein / Möcht’s auf Erden Frieden immer sein.“ Lustig fand ich, dass diese deutsche Version 1948 zuerst ausgerechnet in der Sowjetischen Besatzungszone für eine Amiga-Schallplatte aufgenommen wurde. Kurz danach fiel das Radio Berlin Tanzorchester, das den Song eingespielt hat, dem Kalten Krieg zum Opfer, weil dann in der frischgebackenen DDR »westliche« Musik und amerikanische Titel nicht mehr opportun waren.
Der »King of Weihnachtslied« aber ist nicht Irving Berlin. sondern zweifellos Jonny Marks, dem mindestens ein Dutzend populärer »Season Songs« zu verdanken ist. Er war der Sproß einer recht wohlhabenden säkularen jüdischen Familie mit polnischen und niederländischen Wurzeln aus Mount Vernon in der Nähe von New York. Eigentlich sollte er Ingenieur werden wie sein Vater, studierte auch erstmal brav, hatte dann aber mehr Spaß an Musik. Anfangs tingelte er als Pianist durch Bars, war dann im Krieg als Soldat in der Normandie, und hatte seine ersten echten Erfolge als Komponist Ende der 40er-Jahre, u.a. mit Songs, die er für Chuck Berry schrieb. Sein richtiger Durchbruch aber kam 1949 mit »Rudolph The Red Nosed Reindeer«.
Der Text war schon älter. Er stammte von Robert May, dem ebenfalls jüdischen Schwager von Jonny Marks. May hatte vor seinem Zusammentreffen mit Marks als mies bezahlter Texter für eine Warenhauskette in Chicago gearbeitet. 1939 sollte er eine fröhliche Weihnachtsgeschichte für Kinder schreiben, die als Beilage mit den Katalogen der Firma an die Käufer verschenkt werden sollte. Während er an dem Gedicht saß, starb seine Frau an Krebs und May machte das Lieblingstier seiner kleinen Tochter – ein Rentier – zum Helden der Geschichte, um sie zu trösten.
Die Story vom rotnasigen Rudolph wurde ein Riesenerfolg bei den Kunden und nach der Vertonung durch Marks ein Welthit. Und der konnte sich vor Aufträgen nicht mehr retten und produzierte anschließend einen Weihnachts-Renner nach dem anderen: »Rockin’ Around The Christmas Tree« , »When Santa Claus gets your letter« oder »I don’t want a lot for Christmas«.