Sonntag, 6. Oktober 2024

Wer war Eleke Sirewitz?

Fritz? Scherwitz? 21. August? 1903?

1948 wird Eleke Sirewitz, eben noch zuständig für die Betreuung der NS-Opfer in Schwaben, verhaftet. Er soll kein Häftling, sondern der Leiter der KZ-Außenstelle „Lenta“ in Riga und ein Mörder gewesen sein. Durch die genüssliche Schlagzeile einer deutschen Zeitung erfährt auch Bertha Scherwitz von dem Fall. Sie outet den Angeklagten als ihren Ehemann Fritz, Vater einer Tochter und SS-Mitglied seit 1935, von dem sie seit 1945 nichts mehr gehört hat. Dass er Jude sein soll, ist ihr neu, wenngleich er Aktionen gegen Juden immer verurteilt habe…

Es ist kein Einzelfall. 1945 haben sich etwa 80.000 Deutsche eine neue Identität zugelegt. Doch dürfte die widersprüchliche Palette an Fakten, Leerstellen, Legenden, Lügen und Halbwahrheiten, die um den Fall Scherwitz/Sirewitz kreisen und der Umgang der Justiz mit ihm einzigartig sein. So dass auch die Berliner Journalistin Anita Kugler, die in jahrelangen Recherchen versucht hat, dieses Knäuel zu entwirren, zu keinem eindeutigen Urteil – schwarz oder weiß, Schwindler oder Schindler – kommen konnte (Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier“, 2004).

Denn bei Fritz Scherwitz/Eleke Sirewitz ist beinahe nichts wirklich gesichert: nicht sein Name, nicht der seiner Eltern, nicht sein Geburtsort, nicht das Datum, schon gar nicht seine ethnische Zugehörigkeit – trotz der in aller Welt gefundenen Zeugen und vermeintlichen Zeugen, Spuren und vermeintlichen Spuren.

Wer war der Mann, der es geschafft hat, obwohl kaum des Schreibens mächtig und ohne Papiere, je nach Bedarf als Arier, Litauer, Jude, SS-Mann, KZ-Häftling usw. durchzugehen. Ist er 1903 (1908, 1909?) in Schaulen (Wilna, Buscheruni?) geboren und Kind jüdischer Eltern, die im KZ ermordet oder doch deutscher Eltern, die von den Bolschewisten umgebracht wurden? Oder noch etwas anderes?

In den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg wird Scherwitz, soviel ist sicher, von Freikorpssoldaten mitgeschleppt, heimatlosen Gesellen, die ihn erziehen, ihn Kameradschaft, vielleicht auch plündern und lügen lehren. Mitte der 20er-Jahre ist er nachweislich in Berlin, Ingenieur oder Doktor, wie er behauptet, das war er nie. Seine Behauptung, er sei lediglich „Uniformträger“, nicht aber SS-Untersturmführer gewesen (er hat auch keine Tätowierung), hat sich indes im nachhinein als wahrscheinlich erwiesen; in dem Prozess gegen ihn 1949 hält man sie für eine besonders blöde Ausrede.

Nach einer von Sirewitz/Scherwitz’ eigenen Versionen kommt er 1940 als Jude ins Ghetto, kann sich als Polizeiwachtmeister tarnen und macht so ab 1941 in Riga Karriere, bekommt erst ein Haus, dann die leere Fabrik „Lenta“ zugewiesen, wo er Werkstätten einrichtet und Juden beschäftigt, mit dem Ziel, sie so vor dem KZ zu bewahren. Die Amerikaner werden ihm das später jedenfalls glauben und ihn aus dem Internierungslager entlassen…

Ein Teil dieser Story ist belegt. Die ehemaligen Lenta-Häftlinge schildern ihren Werkstatt-Leiter als charmanten Frauenhelden, vor allem aber als Mix aus Münchhausen und Schwejk, der geschickt für „seine Juden“ trickst und lügt. Er lässt Ausweise ausstellen, die die Kriegswichtigkeit seiner Arbeiter bescheinigen. Er bewahrt Hunderte davor (indem er sie in den Werkstätten einsperren lässt), wie die Ghetto-Bewohner ins KZ Kaiserwald oder in den Wald von Rumbula gebracht zu werden, wo die Deutschen 25.000 Juden erschießen. Er „arisiert“ ihm wichtige Personen und lässt Familien zusammenführen. Die einen sagen, Scherwitz habe sich dafür bezahlen lassen. Andere bestreiten das. In jedem Fall holt er mit der Zeit fast 1000 vom Tode Bedrohte auf seine „Insel“, die sich zu einer irrwitzigen Luxus-Schmiede auswächst. In den Lenta-Werkstätten – Druckerei, Strickerei, Weberei, Goldschmiede, Gärtnerei, Fotolabor – wird alles hergestellt, was die Herzen der Besatzer und ihrer Frauen erfreuen könnte: Damenhandschuhe, seidengefütterte Büstenhalter, Uniformen mit Nerzfellbesatz und diverse ausgefallene Souvenirs.

Was für Scherwitz gut ist, der sicher ungern seinen schönen Posten verlieren und schon gar nicht an die Ostfront will, ist auch für seine Juden gut und umgekehrt. Produzieren sie Qualität, haben alle etwas davon. Wie im Freikorps gelernt, verlangt er von seinem „Gefolge“ Loyalität und belohnt mit Fürsorge. Die Lenta-Häftlinge bekommen Tabak, Seife, Bettwäsche, ein Radio, ein Klavier, genügend zu essen und sind gut gekleidet. Mehrfach sammeln sie große Summen für die Kinder im Ghetto. Scherwitz lässt eine Krankenstation einrichten und toleriert den Schwarzhandel, es gibt keine Schläge und keine Appelle. „Das Leben auf der Lenta war fast wie im Kurort“ schreibt Abrahm Bloch in sein Tagebuch. Und irgendwann führt Scherwitz auch noch körperliche Ertüchtigung ein: Fußball, Tischtennis, Billard.

Das Klima ändert sich erst, als die Front näher rückt, Scherwitz einen Chef vor die Nase gesetzt bekommt und Leute abgeholt werden, ohne dass er eingreifen kann. Im Sommer 1944 verliert er schließlich ganz die Kontrolle über sein Reich. Viele seiner Schützlinge werden nach Stutthof deportiert, andere erschossen, auch die große Gruppe seiner Elitehandwerker, die er noch aus der Gefahrenzone schafft, kann sich nur zum Teil retten.

Scherwitz selbst verschwindet im Herbst 1944 spurlos und taucht erst im Februar kurz bei seiner Frau in der Lausitz wieder auf. Im April geht er bei Erfurt in amerikanische Gefangenschaft – und gibt sich als Jude Eleke Sirewitz zu erkennen. Nun beginnt seine neue Karriere, erst als umtriebiger Treuhänder und Entnazifizierer, dann gut positioniert im „Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“. Bis zur Verhaftung.

Ohne die judenfeindliche, erpressbare und bigotte deutsche Nachkriegsgesellschaft hätte das „System“ Scherwitz nicht funktioniert können. Man glaubt ihm, weil man ihm glauben will und verdammt ihn drei Jahre später, weil man das will, nicht, weil man jetzt mehr weiß. Der ganze Prozess gegen ihn – erstmals wird in der amerikanischen Zone im Widerspruch zum Besatzungsrecht ein Fall durch ein deutsches Gericht verhandelt – ist eine Farce. Man wirft Scherwitz vor, drei Juden erschossen zu haben. Doch niemand hat es gesehen. Häftlinge, die vor Ort waren, werden nicht gehört, andere geben Gerüchte als Wahrheiten weiter, Gehörtes als Gesehenes, widersprechen sich oder nehmen ihre Aussagen wieder zurück.

Die, die es besser wissen, schweigen, um die Kameraden nicht zu diskreditieren. „Wir glühten vor Hass“, erklärt einer der Häftlinge. „Ja. Er hat mir das Leben gerettet, sogar zweimal, aber das war mir egal… Er war Nazi, das reichte damals, um ihm alles anzuhängen“, zumal wenn der Nazi plötzlich als Jude und „wichtiges Tier“ im DP-Lager auftaucht – „Das war zuviel“.

Die meisten, die Scherwitz kennen, betonen wiederum sein akzentfreies Russisch und Polnisch, seine „Chochme“ und „Chuzpe“ und dass er im Suff jiddische Lieder gesungen hat. Der deutschen Justiz ist das Kuddelmuddel nur recht. Sie ignoriert alle Widersprüche und kann so endlich die frohe Botschaft verkünden, dass nicht nur die Deutschen Verbrecher sind. Mehr noch: Es wirkt strafverschärfend, dass der Angeklagte Jude ist (zumindest für das Gericht). Denn es zeuge von niedriger Gesinnung und sei besonders verwerflich, so die Richter, dass ein Jude Juden erschossen habe. Andersherum: es ist weniger schlimm, wenn Christen Juden töten. Ein klassisches antisemitisches Urteil.

Sirewitz/Scherwitz wird zu sechs Jahren Haft verurteilt, 1954 entlassen und stirbt 1962 in München. Ob er schuldig, unschuldig, Täter, Opfer oder beides, Jude oder nicht war, bleibt Glaubenssache. Für Margers Vestermanis und Abe Karelitz, die ihn erlebt haben, steht fest: „Zweifelsfrei ist er ein Schuft gewesen, aber einer mit a jiddische Harz“ und: „Gegen Scherwitz war Schindler ein Waisenknabe“.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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