Montag, 11. November 2024

„Ich wollte eigentlich noch länger bleiben, aber ich konnte es nicht aushalten“

Wieder stehen jüdische Deutsche vor der Frage, ob sie in diesem Land noch sicher sind, ob sie gehen oder bleiben sollen

Zu dieser Jahreszeit erscheinen seit etwa vierzig Jahren regelmäßig Artikel zur Erinnerung an die einst verharmlosend als „Kristallnacht“ bezeichneten Novemberpogrome 1938, verbunden mit der Mahnung, dass sich „so etwas“ nicht wiederholen darf. Doch es hat sich gerade wiederholt. In Israel, am 7. Oktober 2023, 85 Jahre nach den staatlich organisierten Pogromen in Deutschland.

Gerne wird in der aktuellen Debatte vergessen, welche Rolle Deutschland bei der erzwungenen Flucht jüdischer Menschen in das damalige Palästina gespielt hat. Jüdinnen und Juden wurden in Deutschland nicht verfolgt und gezwungen, unter Zurücklassung ihres gesamten Eigentums aus dem Land zu fliehen, weil sie eine andere Religion hatten. Sie gingen nach Palästina, weil sie vor Rassismus flohen. Dem Rassismus der nationalsozialistischen Deutschen. Ein Rassismus, der tödlich war. Und der mitverantwortlich dafür war, dass Juden einen eigenen Staat gegründet haben.

Das ist es, was sich hinter der abstrakt klingenden Formulierung verbirgt, das Existenzrecht Israels sei „deutsche Staatsräson“. Die von Theodor Herzl erkannte Notwendigkeit eines eigenen „Judenstaats“ ist das Eingeständnis weltweiter Intoleranz, die sich in Deutschland ab 1933 besonders unverhohlen und brutal zeigte. Und die heute wieder genauso ungeniert zum Vorschein kommt, wenn auf deutschen Straßen die Forderung nach der Vernichtung des Staates Israel unterstützt wird.

Diese Staatsräson bedeutet nicht, dass falsche Entwicklungen in Israel nicht angesprochen werden dürfen. Selbstverständlich ist Kritik an der israelischen Politik und besonders der Regierung von Benjamin Netanjahu zulässig. Nicht zulässig ist es, das Existenzrecht Israels anzuzweifeln. Das derzeit vielfach zu sehende und skandierte Free Palestine klingt wie eine humanistische Forderung nach Menschenrechten. Das ist es aber nicht. Free Palestine ist die Forderung, Palästina judenfrei zu machen, auf die gleiche Art wie es die Nationalsozialisten in Deutschland ab 1933 taten: indem sie die Juden ausplünderten und dann umbrachten.

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„Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!“ So hieß es in einem Lied, das ab 1933 auch in Osnabrück oft und öffentlich bei allen möglichen Gelegenheiten gesungen wurde. Man hörte es von marschierenden SA-Kolonnen und bei den Heimatabenden der Hitlerjugend – das Lied vom Judenblut, das man so gerne vom Messer spritzen sähe, war in Osnabrück allgegenwärtig. Ebenso, wie alle Osnabrücker das sogenannte Borkum-Lied kannten, das die Kurkapelle auf der Insel seit etwa 1900 täglich spielte: „Doch wer dir naht mit platten Füßen. mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muss hinaus! der muss hinaus! Hinaus!”

Mit dem Slogan „Licht, Luft, Sonne, Sand, am deutschen judenreinen Borkum-Strand“ warb die Insel 1934 um Gäste. Borkum und auch Juist, die bei Urlaubern damals weniger attraktiv als das benachbarte Norderney waren, nutzten die Tatsache, dass die Insel „judenfrei“ und man als reinrassiger Arier dort entre nous war, als Alleinstellungsmerkmal für das Marketing: „Judenfrei“ als Werbeslogan. Das galt bald nicht mehr nur für das „grüne Inselland mit echtem deutschen Sinn“, das sich deshalb für einen „Ehrenschild Germanias“ hielt, sondern für das ganze sturmfeste deutsche Arierland.

Jüdinnen und Juden, die den erschreckenden Text des Liedes vom Judenblut und seine blutrünstige Drohung ernst nahmen – und das waren nicht viele – taten gut daran. Die meisten hörten weg, redeten sich ein, Deutschland sei ein zivilisiertes Land, hier könne einem außer zunehmenden antisemitischen Beleidigungen und einigen Schikanen nicht ernsthaft etwas passieren. Schließlich hatte man im Ersten Weltkrieg voller glühendem Patriotismus Seite an Seite mit den nichtjüdischen Kameraden für Deutschland und gegen den Erzfeind Frankreich gekämpft, hatte, wie Philipp Nussbaum, den gefallenen Sohn der christlichen Nachbarn mit dem eigenen Auto zur Beerdigung in die Heimat geholt und Witwen und Waisen unterstützt, egal welcher Konfession sie angehörten.

Die wenigen deutschen Zionistinnen und Zionisten, die es vor dem Nationalsozialismus gab, hatten selber nie ernsthaft vorgehabt, nach Palästina auszuwandern. Sie unterstützten die Idee eines eigenen Landes aus der jüdischen Verfolgungserfahrung heraus, „damit, wenn Juden irgendwo in der Welt Schwierigkeiten haben und dort nicht mehr leben können, sie ein eigenes Land haben, in das sie kommen können“. So erklärte es Elieser Elbaum, dessen osteuropäische jüdische Familie 1933 als eine der ersten aus Osnabrück fliehen musste und mit Hilfe der Zionistischen Vereinigung Zuflucht in Palästina fand.  Aus dem Zionismus als Idee wurde erst unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung in Deutschland Realität – auch innerhalb der Osnabrücker Jüdischen Gemeinde.

Fritz Markus war einer von denen, die die unverhohlene Drohung in dem Lied vom Judenblut ernst nahmen. Er gab seine Salamander-Filiale an der Großen Straße auf und emigrierte bereits 1933 in die USA – früh, und rechtzeitig. Entsetzt über das Lied waren auch zwei Gymnasiastinnen aus dem Katharinenviertel, Ingeburg Flatauer und Gretel Falk. Sie beschlossen, Deutschland zu verlassen, wenn man sie hier nicht mehr haben wollte und ihr Leben bedrohte. Noch mehr als das Lied erschreckte sie die Tatsache, dass es ganz offiziell in ihrer Schule gesungen werden durfte – von ihren Mitschülerinnen, und mit Billigung der LehrerInnen am Lyzeum für höhere Töchter.

Die Mädchen gingen nach Hause und teilten ihren Eltern ihren Entschluss mit, die Schule abzubrechen und nach Palästina auszuwandern. Wie die Mehrzahl der Mitglieder der Osnabrücker Jüdischen Gemeinde waren weder die Flatauers noch Gretel Falks Eltern Zionisten. Gustav Falk war absolut dagegen, dass seine jüngste Tochter nach Palästina gehen wollte. „Das ist doch Unsinn! Du hast doch noch nie gearbeitet, du machst doch nicht mal dein eigenes Bett. Was weißt du, was Arbeit ist?“ fragte ihr Vater sie. Nur mühsam konnte sie ihren Eltern die Erlaubnis abringen, zunächst auf zwei Jahre „auf Probe“ nach Palästina zu gehen.

Familie Elbaum verabschiedet sich  vor der Synagoge von ihren FreundenFamilie Elbaum verabschiedet sich vor der Synagoge von ihren Freunden

Voraussetzung für die Einwanderung war der Nachweis einer handwerklichen oder landwirtschaftlichen Ausbildung. Auf einem Bauernhof bei Westerkappeln bereiteten sich deshalb jüdische Jugendliche nicht nur aus Osnabrück, sondern aus ganz Deutschland auf die Auswanderung nach Palästina vor. Auch hierher, in einen der abgelegensten Winkel der Osnabrücker Umgebung, verfolgte sie das Lied vom Judenblut. Wieder waren es, wie in der Schule, aufgehetzte junge Menschen, die es schmetterten. Chanan Maor, damals Hans Leichtentritt, berichtete von der Bedrohung durch die Männer aus einem sogenannten „Freiwilligen Arbeitsdienstlager: „Uniformierte Kolonnen dieses Lagers veranlassten uns mehrmals täglich, die schwere landwirtschaftliche Arbeit zu unterbrechen. Singend marschierten diese jungen Leute an uns vorbei und unterbrachen pflichtgetreu ihre Lieder. Unvermeidlich stimmten sie ein Lied an, dessen Refrain wie folgt endete: Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!“ Ein paar Jahre später setzte die SA aus Westerbeck das, was die jungen Leute im Arbeitsdienst sangen, in die Tat um. Das Leben im „Kibbuz Westerbeck“ sollte bei mehreren Überfällen auf den Hof im Zusammenhang mit den Novemberpogromen 1938 ein dramatisches und brutales Ende finden. Die jüdischen Bewohner wurden zusammengeschlagen, Frauen vergewaltigt.


Schwere Landarbeit bei heißem
Klima

Die jungen Leute, die sich auf die Alijah, den Weg der Rettung nach Palästina machten, flohen vor dieser Gewalt, Gewalt, die in dem Versuch endete, sie, ihre Freunde, Eltern, Großeltern und Geschwister umzubringen. Doch auch in Palästina waren Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland keineswegs in Sicherheit. Als Lea Levy nach zwei Jahren im Herbst 1936 noch einmal nach Osnabrück zurückkehrte, wie sie es mit ihren Eltern vereinbart hatte, las sie in der Zeitung, dass das Auto des Kibbuz, mit dem ihr Mann täglich nach Haifa fuhr, auf eine Landmine gefahren war. Siegfried Levy, den sie in Palästina geheiratet hatte, stammte ebenfalls aus Osnabrück. Sie sagte ihren Eltern: „Wenn das so geht, dann muss ich mit meinem Mann zusammen sein“. Eine Gruppe Nationalsozialisten, die durch das Katharinenviertel zog, machte ihr die Entscheidung, Osnabrück schneller als geplant zu verlassen, leicht: „Ich saß mit meinen Eltern im Zimmer, als draußen eine Parade vorbeikam ‚Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt…‘ Ich wollte eigentlich noch länger bleiben, aber ich konnte es nicht aushalten.“

Das Leben in Palästina war für sie und andere deutsche Jüdinnen und Juden nicht nur ungewohnt, sondern durch das andere Klima und die harte körperliche Arbeit auch sehr anstrengend. Viele der jungen AuswandererInnen nach Palästina wohnten zunächst in Zelten, Lea und Siegfried Levy in einer Wellblechbaracke, die die britische Armee für unbrauchbar erklärt hatte. Ida Rosenthal aus Osnabrück berichtete von ihrem Leben in einem Kibbuz in Ra‘anana in den Jahren 1937 bis 1938: „Wie es in einem solchen üblich war, schliefen wir dort in Zelten und nicht in Häusern und waren die Lebensverhältnisse dort entsprechend primitiver. […] In der ersten Zeit musste ich in dem genannten Kibbuz schwere Landarbeit verrichten und zwar bei dem heißen Klima, das mir bisher nicht bekannt war.” Paul Wertheim arbeitete in Palästina als Lastenträger im Hafen und bei der Eisenbahn, „musste in Orangen- und Zitrusplantagen schwere Erdarbeiten mit der Hacke verrichten, Kühe melken, Kuhstall sauberhalten sowie sonstige Erdarbeiten auch am Toten Meer bei großer Hitze ausführen“.


„Geht nach Palästina!“

Raphael Flatauer reiste mit seiner Frau Alma 1935 zur Hochzeit des Sohnes Kurt und seiner Frau Lucie nach Palästina. Alma Flatauer war schockiert: “Hier lebt ihr? In einem Zelt in der Wüste?“ Sie und ihr Mann konnten sich ein derart primitives Leben nicht vorstellen. Sie kehrten nach Deutschland zurück. Wie viele deutsche Juden erkannten sie die Lebensgefahr, in der sie sich befanden, erst zu spät und versuchten später vergeblich, noch nach Palästina zu gelangen. Doch sie wurden von den Briten nicht zu ihren Kindern ins Land gelassen, weil sie nicht über die notwendigen Zertifikate verfügten. Viele jüdische Deutsche realisierten die mörderische Dimension des Nationalsozialismus erst, als bei den Novemberpogromen 1938 die Synagogen brannten und sich davor wie in Osnabrück Menschen ansammelten, die laut zum Mord an ihren jüdischen MitbürgerInnen aufriefen. Die „Hängt sie!“-Rufe, die vor ihrer und anderen Wohnungen im Katharinenviertel erklangen, blieben Ethel Gittelsohn und ihren Töchtern ihr Leben lang im Gedächtnis. Sie flohen in das Haus der Flatauers in der Herderstraße. Auf der Straße vor dem Haus, wo die johlende Menge am nächsten Tag Steine in die Wohnung warf und „Geht nach Palästina!“ schrie, liegen Stolpersteine. Alma und Raphael wurden deportiert und ermordet. „Ich habe nach meiner Emigration noch ein, zwei Mal von ihnen gehört“, berichtet der zweite Sohn, Hans Flatauer. „Ein Brief des Roten Kreuzes ist meine einzige Information, dass sie – sie waren über sechzig Jahre alt – ins Konzentrationslager gekommen sind (final solution).“

Lea und Jehudah Falk in Palästina 

Was Alma und Raphael Flatauer von der rechtzeitigen Auswanderung nach Palästina abschreckte, waren die primitiven Lebensumstände. Die Auswanderer kamen damals nicht in blühende Landschaften. Sie nannten sich nicht umsonst Pioniere, siedelten auf nacktem Sand und machten das Land urbar. Woher stammte das Land, auf dem die jungen Leute ihre Zelte aufschlugen? In Osnabrück hatte man wie in vielen deutschen Städten Geld für den Keren Kayemeth LeIsrael, kurz KKL (hebräisch: Ewiger Fonds für Israel), gesammelt. Der 1901 in Basel auf Initiative von Theodor Herzl gegründete Jüdische Nationalfonds erwarb mit finanzieller Unterstützung der jüdischen Gemeinden in aller Welt Land für jüdische Siedler im britischen Mandatsgebiet Palästina, das unter anderem von Mitgliedern des Makkabi Hazair bearbeitet und besiedelt wurde. Aufgrund der sich rapide verschlechternden Situation für jüdische Menschen in Deutschland richtete der Makkabi, der eigentlich ein Sportverein war, seine Arbeit Mitte der 1930er Jahre immer stärker auf die Auswanderung nach Palästina aus, indem er jüdischen Jugendlichen Ausbildungsplätze im Handwerk oder der Landwirtschaft vermittelte.

 

Das Geld für den Landkauf stammte nicht vom einem imaginären „Internationalen Judentum“, sondern von Menschen, die Angst vor Verfolgung hatten, Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder. Das Osnabrücker Hetzblatt Der Stadtwächter, das von 20.000 OsnabrückerInnen abonniert wurde, versprach schon vier Jahre vor der Machtübergabe an Hitler am 7. Juli 1929 die „Lösung der Judenfrage“, und drohte, sie werde „als Weltproblem“ gelöst, und die Lösung werden den Juden „nicht angenehm“ sein. Solche Drohungen, denen niemand öffentlich entgegentrat, waren der Grund, warum in Osnabrück 1929 Geld für den KKL gespendet wurde, um davon Land in Palästina zu kaufen, zwanzig Jahre vor der Staatsgründung Israels.


„Die letzte, wirkliche Hoffnung des Volkes“

Der „Erfinder“ des Zionismus, Theodor Herzl, entwarf das Konzept eines jüdischen Staates, der nach modernen, säkularen Grundsätzen verfasst sein sollte: Vollständige Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, zwischen Juden, Arabern und Angehörigen anderer Ethnien. Die jüdische Religion sollte im neuen Staat eine wichtige, aber keine führende Rolle spielen. Der Zionismus unterschied bewusst zwischen Kolonialismus und Kolonisierung und verstand sich nicht als Okkupationspolitik. Mit einer jugendlichen Begeisterung, geboren aus Verzweiflung, wollten die SiedlerInnen durch harte körperliche Arbeit und Urbarmachung des Bodens ein Recht auf Land erwerben. Das meiste Land, das der KKL erwarb, war vorher nicht kultiviert worden. Das Land der SiedlerInnen wurde teils gekauft, teils von arabischen Eigentümern gepachtet.

Der Makkabi verstand sich als Wegbereiter eines jüdischen Staates. In einem seiner deutschen Mitteilungsblätter war zu lesen, dass man die Ansiedlung als „die letzte, wirkliche Hoffnung des Volkes“ betrachtete. Man erkannte jedoch auch die bis heute andauernde Problematik: „Beide Gruppen, die Juden sowohl als auch die Araber, stellen in allen Dingen, wo die verschiedenen Interessen zusammenstoßen, heute derart radikale Forderungen, dass augenblicklich keine Besserung der Lage zu erwarten ist“, hieß es in den Mitteilungen des Makkabi vom April 1936. Es kam immer wieder zu Angriffen von Arabern auf die jüdischen Siedlungen. Nachdem es im April 1936 Überfälle auf Siedlungen mit Todesfällen gegeben hatte, hoffte der Verfasser eines Artikels im Mai 1936: „Mögen diese Ereignisse der letzte blutige Preis für unsere Erlösung sein! Gebe Gott! Aber wir haben nicht die Gewissheit, dass dem so ist.“

Gerne wird in der aktuellen Debatte nicht nur vergessen, welche Rolle Deutschland bei der erzwungenen Auswanderung nach Palästina gespielt hat, sondern auch die Tatsache, dass sich die arabischen Staaten 1947 der Errichtung eines jüdischen und eines arabischen Staates im damaligen britischen Mandatsgebiet verweigerten und stattdessen einen Tag nach der Staatsgründung Krieg gegen den jüdischen Staat führten, um ihn zu vernichten. Vor dem Sechstagekrieg von 1967 kündigte Abdel Nasser an, er werde die Juden ins Meer treiben. Hamas, Hisbollah und der Iran verfolgen weiter das Ziel, Israel zu vernichten. Wer sich einer Demonstration mit dem Slogan „From the River to the Sea, Palestine will be free“ anschließt, fordert genau das. In der deutschen Hauptstadt Berlin waren es gerade knapp 10 000 Demonstranten, die die Auslöschung Israels forderten.


Forderung nach einem Kalifat mit Einführung der Scharia

Zu den palästinensischen Demonstranten gesellen sich ehemalige Querdenker, die froh sind, wieder an die frische Luft zu kommen. Sie fordern jetzt „Demokratische Grundrechte verteidigen: Meinungsfreiheit auch für PalästinenserInnen“ und rufen wie gewohnt dazu auf, anwesende JournalistInnen im Auge zu behalten, denn die wollten „ein bestimmtes Bild“ vermitteln. Zu sehen sind auch die Flaggen linker Gruppierungen, darunter solche, die Flugblätter verteilen, die einen „imperialistisch-zionistischen Völkermord“ des Westens anprangern. Zu sehen und hören sind die Forderung nach einem Kalifat mit Einführung der Scharia und der völligen Entrechtung von Frauen, der von der islamistischen Terror-Miliz verwendete Tauhid-Finger und Allahu Akbar-Rufe vom Neptunbrunnen am Alexanderplatz. Eine Rednerin fordert eine „neue weltweite Intifada“. Bei der letzten wurden bei 143 Selbstmordanschlägen 513 Israelis getötet und mehr als 3.000 verletzt. Was man bei den Pro-Palästina-Demonstrationen weder sieht noch hört, ist eine Verurteilung des Hamas-Terrors. Dabei ist die Dimension der Grausamkeit unvorstellbar. In Deutschland wurden darüber bisher wenig Details berichtet. Freunde und Eltern der 260 jungen Menschen, die bei dem Psytrance-Festival ermordet wurden, erzählen unter Tränen, dass sie erleichtert über die Gewissheit sind, dass ihre Freunde oder Kinder tot sind, und sich nicht in Händen der Hamas-Terroristen befinden und gefoltert und erniedrigt werden. Das widerliche Bild, wie einer der Terroristen wie ein Großwildjäger mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck seinen Fuß auf die schwerverletzte 22jährige Deutsche Shani Louk stellt, die auf der Ladefläche eines Trucks liegt, während ein palästinensischer Junge ihr auf den Kopf spuckt, wird niemand wieder los, der es gesehen hat. Es wird zur Ikonographie des menschenverachtenden Antisemitismus gehören wie das des Jungen aus dem Warschauer Ghetto.

Das ist die frauenverachtende islamistische Welt, die sich die Hamas anstelle des Staates Israel vorstellt, und die sich hinter dem Slogan Free Palestine verbirgt. Den angeblichen Kämpfern für die Rechte der Palästinenser fehlt jeder Respekt für Menschenrechte, und besonders vor denen von Frauen. Die Hamas-Terroristen haben bei ihrem Angriff eine monströse Brutalität gezeigt, die an die Nationalsozialisten erinnert. Ewald Aul, Holocaust-Überlebener und langjähriger Vorstand der Osnabrücker Synagogengemeinde, erlebte mit, wie SS-Männer in Riga Säuglinge in die Luft warfen und mit Bajonetten aufspießten. Genauso bestialisch gingen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober mit Säuglingen in Israel um. Die feigen Angreifer haben sich nicht mit der israelischen Armee angelegt, sondern über 200 Frieden liebende junge Leute, die sich kritisch gegen ihre Regierung engagiert haben, bei einem Festival überfallen und abgeschlachtet, ebenso Familien mit Kindern und alte Menschen. Die bewusste brutale Tötung von Babys und Kindern sollte genau die heftigen Gegenschläge Israels provozieren, die jetzt stattfinden. Der Hamas geht es überhaupt nicht um die Verbesserung der Situation der Palästinenser, sondern im Gegenteil darum, eine friedliche Lösung zu verhindern, um ihre Macht zu erhalten. Und das Einkommen, dass ihre Anführer aus den Hilfsgeldern für Gaza in Billiardenhöhe ziehen, dass sie im Ausland anlegen statt es in die Infrastruktur in Gaza zu stecken.


Selektiver Humanismus

Bis heute sind nicht alle Toten des Massakers identifiziert, weil sie auf so grauenvolle Weise zerstückelt oder verbrannt wurden. Der Überfall der Al-Kassam-Brigaden der Hamas stellt einen erschreckenden Zivilisationsbruch dar. Diesen bei Demonstrationen für den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza nicht ebenfalls zu thematisieren, ist eine eindeutige Parteinahme für die Terroristen der Hamas, die das Leid der israelischen Bevölkerung völlig ausblendet. Nicht nur das der 1.400 Menschen, die am 7. Oktober heimtückisch ermordet wurden, der 240 Geiseln und ihrer Angehörigen. Auch in Israel stehen jeden Tag Zivilisten unter Raketenbeschuss, wagen Menschen sich nicht mehr auf die Straße, geraten Kinder in Panik, können nicht mehr schlafen, weil sie Angst haben, dass bewaffnete Hamas-Kämpfer sie in ihrem Zuhause überfallen und ermorden könnten. Israel ist ein kleines, ein sehr kleines Land. Jeder in Israel kennt einen der Jugendlichen, die bei der Menschenjagd der Hamas auf Festivalbesucher ermordet wurden. „Ich sitze nach jedem Interview und weine, weil unsere Welt zusammengebrochen ist und ich mir keine zukünftige Welt vorstellen kann“, sagt der Autor und Musiker Ofer Waldman, der entsetzt ist über die Bilder jubelnder Palästinenser aus seiner ehemaligen Nachbarschaft in Berlin-Neukölln.

Man kann (nicht nur in Deutschland) deutlich einen „selektiven Humanismus“ wahrnehmen. Doch in Berlin wird auch noch „Free Palestine from German guilt“ skandiert. Man hat in Deutschland, das Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder ermordet hat, oft den Eindruck, dass manche Menschen hier besonders gerne mit dem Finger auf Israel zeigen, wenn es um die Behandlung der PalästinenserInnen geht, weil sie sich absurderweise dadurch etwas von unserer NS-Vergangenheit entlastet fühlen. War es bei der Generation, die den Krieg erlebt hatte, häufig der Verweis auf die britischen Bomben auf die deutsche Zivilbevölkerung oder Stalins Verbrechen, so scheint ein Teil der Nachkriegsgeneration die ungeheuerlichen Verbrechen und die einzigartige Dimension des Holocaust gerne durch Kritik an der israelischen Politik gegenüber PalästinenserInnen zu relativieren. Warum das massive deutsche Engagement gerade für das palästinensische Volk, und nicht zum Beispiel für die Millionen Kurden im Nahen Osten, oder für die Menschen im Jemen, die eine der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit erleben? Auch dort sieht man Eltern, die ihre toten oder verletzten Kinder aus den Trümmern zerstörter Häuser tragen. Im Jemen gibt es derzeit sogar 4,5 Millionen Binnenflüchtlinge, weitaus mehr als in Gaza.  2,2 Millionen jemenitische Kinder leiden an schwerer akuter Unterernährung. Doch niemand geht für sie in Deutschland auf die Straße.


Achtzig Prozent der antisemitischen Straftaten aus dem rechten Spektrum
 

Der Antisemitismus in Deutschland, der sich schon länger wieder ungeniert zeigt, ist nicht nur importiert. Achtzig Prozent der 2022 registrierten antisemitischen Straftaten sind dem rechten Spektrum zuzuordnen, das das gerne behauptet. Doch Antisemitismus wurde in allen Bevölkerungsschichten bis heute konserviert. Selbst ein Akademiker wie Richard David Precht verbreitet fast die gleichen Stereotypen von den „reichen Juden“ wie Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der vor dem Palästinensischen Nationalrat behauptete, der Holocaust sei nicht durch Antisemitismus ausgelöst worden, sondern durch das „soziale Verhalten“ von Juden, wie dem Verleihen von Geld. Die eigentlichen Brandstifter sind nicht die Leute, die am Ende die Synagogen in Brand setzen, sondern die, die den Antisemitismus populär machen. Darum nützt es nichts, dass Precht sich dafür entschuldigt, antisemitische Klischees verbreitet zu haben. Der Schaden ist angerichtet.

Die Behauptung, alle Juden seien reich, und die meisten von ihnen Geldverleiher oder Banker gewesen, hört man in Deutschland noch immer, auch in Osnabrück. Und es klingt immer ein bisschen so, als wäre das, wenn es wahr gewesen wäre, eine Rechtfertigung für den Holocaust. Reichtum wird in dieser Legende mit Macht in Verbindung gebracht. Die Theorie von der Jüdischen Weltverschwörung, die heute oft mit Formeln wie Hochfinanz oder New World Order (NWO) umschrieben wird, diente immer wieder zur Ablenkung von tatsächlichen Problemen und den dafür Verantwortlichen. So wie die angeblichen Protokolle der Weisen von Zion, die 1893 vom Geheimdienst des russischen Zaren verfasst wurden, um die Bevölkerung zu Pogromen gegen die jüdische Minderheit aufzuhetzen, die zur Ablenkung von sozialen und ökonomischen Problemen in Russland dienen sollten.

Wie andere Verschwörungstheorien wurde und wird der Antisemitismus von Politikern immer dann gerne benutzt, wenn es ihnen nicht gelingt, reale Probleme zu lösen, oder sie das gar nicht erst versuchen wollen. Viele Menschen erkennen nicht, dass der Antisemitismus deshalb nicht nur jüdischen Menschen schadet, sondern allen, die sich tatsächlich eine Lösung von weltweiten Problemen wünschen. Darum ist es besonders bedauerlich, dass selbst eine wichtige Bewegung wie Fridays for Future auf antisemitische Abwege geraten und in diese Propaganda-Falle getappt ist, und Greta Thunberg unter anderem behauptet, die Medien seien „von imperialistischen Regierungen finanziert, die hinter Israel stehen“. Luisa Neubauer dagegen äußerte in einem Interview in der Zeit, sie finde es persönlich „befremdlich, dass manche das Leid der palästinensichen Menschen selbstverständlich in seinem historischen Kontext sehen, während der historische Kontext des jüdischen Leids immer wieder ausgeblendet wird“. Die deutsche Sektion von Fridays for Future, die regelmäßig an Workshops zum Thema Antisemitismus teilnimmt, hat sich bei dem Thema als deutlich informierter erwiesen und das antisemitische Narrativ hinter der  von Greta Thunberg verbreiteten Behauptung erkannt und sich davon distanziert.


Eine Hakenkreuzfahne mit Palästinaflagge in Osnabrück 

Für eine Demokratie ist steigender Antisemitismus ein Warnzeichen. Für Juden ist er lebensgefährlich, wie sich während des NS-Regimes zeigte. Sie waren eine Minderheit, die schutzlos der Verfolgung ausgeliefert war, weil es das mächtige Weltjudentum eben nicht gab, von dem viele noch heute faseln. Es gibt keine jüdische Weltverschwörung. Was Juden in aller Welt in Wirklichkeit verbindet, ist nicht Einfluss oder Reichtum, sondern Angst, die Angst vor Verfolgung, die Angst, dass sie den Staat Israel einmal brauchen könnten, um ihr Leben zu retten, weil man ihnen in ihrer Heimat nach dem Leben trachtet, wie das ab 1933 in Deutschland der Fall war. Heute müssen sie wieder Angst haben, in Deutschland nicht mehr sicher zu sein, wenn Molotowcocktails auf eine Synagoge geworden werden, Davidssterne an die Türen von jüdischen BerlinerInnen gemalt werden, oder, dank der verbreiteten antisemitischen Klischees, auf die Fassade eines Frankfurter Bankinstituts. Subtiler Judenhass darf sich jetzt offen als Anti-Israel-Hass zeigen. Während überall in Deutschland Israel-Flaggen abgerissen oder sogar verbrannt werden, wurde in Osnabrück am 13. Oktober zum ersten Mal seit 1945 wieder öffentlich eine Hakenkreuzfahne aus einem Fenster gehängt, zusammen mit einer Flagge Palästinas. Das öffentliche Interesse an dem Vorfall schien gering. Inzwischen erschien auch an der Gedenkstätte für die zerstörte Synagoge in der Stadt ein Hakenkreuz.

Jüdische Menschen fühlen sich in Deutschland nicht mehr sicher. Sie fürchten sich, zur Synagogen zu gehen, oder ihre Kinder in jüdische Kindergärten und Schulen zu bringen. Und sie müssen Angst haben, auch keine Zuflucht mehr in Israel zu haben, wenn Menschen in Deutschland offen für die Vernichtung dieses Landes demonstrieren und sich mit den Schlächtern der Hamas solidarisieren.

Viele Menschen vergessen, dass Israel trotz Benjamin Netanjahus kritikwürdigem Vorgehen zur Wiederherstellung seines Images als „starker Mann“ die einzige, von autoritären Regimes umgebene Demokratie in der Region ist, eine Demokratie, in der sich die Zivilgesellschaft seit Januar des Jahres massiv gegen eine Einschränkung demokratischer Prinzipien durch die von der israelischen Rechten unter Premierminister Netanjahu geplante Justizreform gewehrt hat Bis zu 140.000 Menschen gingen zehn Monate lang wöchentlich gegen Netanjahu auf die Straße. Unter ihnen waren sogar Reservisten. 200 Ärzte und 150 Pilotinnen und Piloten der israelischen Armee verweigerten den Dienst – ein Ausmaß an Zivilcourage, das in Deutschland unvorstellbar wäre. Ein ähnlicher Protest der Palästinenser gegen die seit 16 Jahren ohne Wahlen in Gaza herrschende Hamas mag unter einem Regime, dass die eigene Bevölkerung terrorisiert und ihren Machtinteressen opfert, nicht möglich sein. Die vielen Pro-Palästina-Demonstrationen weltweit hätten jedoch die Gelegenheit geboten, deutlich zu machen, dass die Palästinenser nicht mit dem Terror der Hamas und ihrer Politik einverstanden sind. Stattdessen hört man von einem Professor der Universität Gaza, Refaat Alareer, dass der Angriff der Hamas legitim und moralisch korrekt gewesen sei. Zynisch macht er sich lustig über den entsetzlichen Mord an einem israelischen Baby in einem Backofen. Die Trennlinie zwischen der Hamas und palästinensischer Zivilbevölkerung ist nicht überall so scharf, wie manche es gerne glauben möchten.

Für Menschenrechte zu demonstrieren fühlt sich immer gut und gerecht an. Aber wer bei
pro-palästinensischen Demonstrationen in deutschen Städten mitläuft, bei denen der Überfall der Hamas überhaupt nicht thematisiert und Free Palestine gefordert wird, demonstriert nicht für Menschenrechte, oder die Zweistaatenlösung. Free Palestine bedeutet eine Einstaatenlösung, ein Land ohne Juden, das im Übrigen ein islamistischer Gottesstaat wäre, in dem die Scharia gilt. Bei einer Demonstration in Essen wurde von 3.000 DemonstrantInnen ganz offen die Einführung des Kalifats in Deutschland mit der Abschaffung von Frauenrechten gefordert, wie die Demonstration mit der Trennung von Männern und verschleierten Frauen auch optisch deutlich machte. Wie bei den von Anfang an von Nazis unterwanderten Querdenker-Demonstrationen sollte man genau hinsehen, mit wem man derzeit auf die Straße geht. Wer sich mit der Parole Free Palestine identifiziert, tut eigentlich das gleiche wie die Deutschen, die damals das heute noch in der Neonazi-Szene beliebte Lied vom „Judenblut“ sangen, das man gerne vom Messer spritzen sehen wollte.

Der Holocaust hat gezeigt, wie wichtig es ist, Demokratie und Menschenrechte zu schützen und sich dabei auch frühzeitig und immer wieder gegen Antisemitismus und jede Art von Rassismus zu engagieren.

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