Heute ist der Holocaust Gedenktag
Heute um 11.30 Uhr findet eine Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Sie beginnt an der Gedenktafel für die jüdischen Opfer unter den Arkaden der Stadtbibliothek am Markt und wechselt dann zur Gedenktafel für die Opfer unter den Sinti und Roma neben der Stadtwaage. Auf die Kranzniederlegung durch Oberbürgermeisterin Katharina Pötter und Landrätin Anna Kebschull folgt das Kaddisch durch den Kantor der Jüdischen Gemeinde, Baruch Chauskin. An der Gedenktafel für die ermordeten Sinti und Roma an der Stadtwaage spricht Mario Franz, Sprecher des Niedersächsischen Verbands deutscher Sinti e.V., ein Gebet.
Auf der Gedenktafel für Sinti*zze stehen die Namen von 54 Opfern aus Osnabrück. Sie wurden 1943 nach Auschwitz deportiert, ebenso wie jüdische Bürger*innen der Stadt. Am 27. Januar 1945, vor 79 Jahren, befreite die Rote Armee die Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz. Der Jahrestag wird seit 1996 als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Mehr als 150 jüdische Osnabrücker*innen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Siebzig von ihnen wurden direkt aus Osnabrück deportiert – nicht bei Nacht und Nebel, wie später behauptet wurde, sondern am hellen Tag. Frieda Höchster war eine von ihnen.
Auf der Karteikarte der Osnabrücker Gestapo für Frieda Höchster wurde mit dem Datum 19. März 1942 vermerkt: „Sachverhalt: Die H. hatte auf der Straße einen Deutschen angesprochen und sich mit ihm längere Zeit freundschaftlich unterhalten. Gegen die H. wurde eine Schutzhaft von 14 Tagen verhängt.“ Frieda Höchster wurde vier Wochen im Polizeigefängnis Turnerstraße eingesperrt und ein Jahr später mit den letzten Osnabrücker Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert. Sie war die einzige Überlebende dieser Deportation von Osnabrück nach Auschwitz im März 1943 und konnte daher nach ihrer Rückkehr über die Hölle berichten, die sie erleben musste.
Frieda Höchster arbeitete zunächst bei den Radebeuler Unionswerken, bis zum Zweiten Weltkrieg eines der bedeutendsten Unternehmen der sächsischen Verpackungs- und Werbemittelindustrie, die vor dem Krieg Blechverpackungen und Werbeschilder produziert hatten und dann in Auschwitz-Birkenau von KZ-Häftlingen in Fließbandarbeit Granaten herstellen ließen. Sie arbeitete in der Kontrollabteilung für Einsatzstücke. „Der Lagerführer hieß Tauber, der Arbeitslagerführer hieß Hessler“, erinnerte sich Frieda Höchster 1954 an die Namen ihrer Peiniger. Franz Hössler (1906-1945) war in Auschwitz-Birkenau ab August 1943 Schutzhaftlagerführer und für Selektionen verantwortlich. Frieda Höchster musste auch als Pflegerin und im Leichenkommando arbeiten, das heißt, bei der Beseitigung der Leichen helfen.
„Sie sagte, die Leichen, die hätten sie oben und unten angefasst und durch’s Fenster hinausgeworfen, so häufig wären die Menschen da umgekommen“, erinnerte sich eine Osnabrücker Freundin daran, was ihr Frieda Höchster nach ihrer Befreiung erzählte. Auf die Frage nach erlittenen Misshandlungen gab Frieda Höchster im Antragsformular für den Sonderhilfs-Ausschuss für den Kreis Osnabrück am 6. Februar 1946 die unfassbare Bilanz ihrer KZ-Zeit an: „25 Schläge mit dem Gummiknüppel, 200 Hundebisse, 4 Zähne ausgeschlagen, Kiefer gebrochen.“ Der Schlosser Wilhelm Gerhard Gehring (1901 -1948) aus Osnabrück war als SS-Hauptscharführer seit Januar 1942 im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt und misshandelte Häftlinge teils so schwer, dass „man seine Opfer manchmal sogar direkt ins Leichenhaus bringen musste“. Ob Frieda Höchster ihm begegnete, ist nicht bekannt. Doch an einen anderen Namen erinnerte sie sich genau: „Während meines Aufenthaltes in Auschwitz wurde von einem SS-Mann namens Karl Peplov ein Hund auf mich gehetzt, der mir zwei starke Bisswunden am rechten Bein beibrachte.“
In ihren Erinnerungen an „Folter, Grausamkeit, Brutalität und Tod in Auschwitz“ berichtete eine andere Mitgefangene, Judith Sternberg, wie Frieda Höchster durch ihren Mut in Auschwitz dem sicheren Tod entkam: „Lagerleiter Hössler hat für seine Arbeit nur die gesündesten und stärksten Mädchen ausgewählt. Er fragte, ob wir bereits Typhus hatten, denn in einer Munitionsfabrik konnten sie sich keinen häufigen Austausch leisten, weil zu viel Zeit verloren gehen würde. Wir mussten uns nackt vor Lagerleiter Hössler präsentieren, damit er uns inspizierte. Jeder, der Schorf oder andere Hauterkrankungen zeigte, wurde eliminiert. Meine Freundin und Begleiterin Frieda Höchster wurde herausgenommen (…). Traurig mussten wir voneinander Abschied nehmen. (…) Kurz darauf gab es eine Selektion, und meine Freundin Frieda wurde für die Gaskammern ausgewählt. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Ihre letzte Hoffnung war, selbst zum Arzt zu gehen und um ihr Leben zu betteln.“
Vergebens bat Frida Höchster Lagerarzt Dr. Klein, sie zu verschonen. Doch sie gab nicht auf, und ging zu Lagerleiter Hössler und bat ihn, ihr Leben zu retten. Er antwortete brutal: „Es macht keinen Unterschied, ob du früher oder später stirbst.“ Sie erzählte ihm, dass ihr Mann im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und sogar für seine hervorragenden Leistungen ausgezeichnet worden sei. Hössler fragte: „Wo kommst du her?“ Sie antwortete: „Aus Osnabrück.“ Hössler versprach ihr, sie von der Liste zu streichen. Aber als die todgeweihten Frauen auf die Lastwagen verladen wurden, stand ihr Name doch auf der Liste. Frieda Höchster schrie, so laut, dass sie ihre Stimmbänder beschädigte: „Herr Lagerführer! Herr Lagerführer!“ Hössler erkannte sie und fragte: „Bist du die aus Osnabrück? Hau ab!“
Wie groß Frieda Höchsters verzweifelter Mut war, wird erst klar, wenn man weiß, dass der Ehemann, auf dessen Verdienste im Ersten Weltkrieg sie sich berief, nicht nur bereits seit 1934 von ihr geschieden, sondern auch ein Kommunist und damit einer der meistgehassten Gegner der Nationalsozialisten war. Er war deshalb bereits 1940 in die USA geflohen. Dass Hugo Höchster im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde, traf allerdings zu: Er war Frontkämpfer und Kriegsbeschädigter, besaß das Frontkämpferkreuz, das Eiserne Kreuz II. Klasse, das Kriegsverdienstkreuz und das Verwundetenabzeichen in Schwarz. Dem Tod im allerletzten Moment entkommen, wurde Frieda Höchster von Auschwitz in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verlegt, und von dort zur Zwangsarbeit in das in der Mecklenburger Seenplatte gelegene Munitionswerk Malchow gebracht. Auf dem 340 Hektar großen Gelände produzierte die GmbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse (Verwertchemie), eine Tochterfirma der Dynamit Nobel AG, Sprengstoff für Granaten. Die Hälfte der Arbeitskräfte waren ausländische Zwangsarbeiter:innen. Im letzten Kriegsjahr arbeiteten in den zur Tarnung im Wald verteilten Gebäuden etwa 5.500 Menschen.
Die Außenlager der Konzentrationslager wie Ravensbrück oder Auschwitz dienten der Ausbeutung der Arbeitskraft der Gefangenen, vor allem in „kriegswichtigen“ Betrieben, gleichzeitig aber auch der „Vernichtung durch Arbeit“ durch die unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Häftlinge eingesetzt wurden. Viele Gefangene starben an Misshandlungen oder Erschöpfung. Frieda Höchster musste in einem der in die Erde eingelassenen Stahlbeton-Gebäude zwölf Stunden Nachtschicht in der Munitionsherstellung leisten. Die Baracken des sogenannten Bereitschaftslagers waren teilweise fünffach überbelegt. Die Osnabrückerin erkrankte an Bauchtyphus, Krätze und Mundfäule. Doch trotz Fieber und Gelenkschmerzen musste sie weiter in Nässe, Kälte, Schnee und hungernd ihre Arbeit verrichten. Weil die SS mit der „niedrigen“ Sterblichkeit in Ravensbrück nicht zufrieden war, wurden dort Gaskammern eingeführt.
Eine Osnabrückerin, die keine Jüdin war, sondern wegen eines Streits mit einem in ihrem Haus einquartierten Mitarbeiter der Osnabrücker Gestapo festgenommen und nach Ravensbrück deportiert wurde, berichtete: „Im Lager war ich zweimal sehr krank und kam in’s Revier. Eine hier diensttuende polnische Hilfsschwester sagte mir, daß ich Glück gehabt hätte, weil ich die Injektionsspritze nicht bekommen hätte. (…) Anzunehmen ist, daß es sich hier um die Todesspritze handelte, die Leute bekamen, die hohes Fieber hatten. Wir bemerkten es ja oft, daß Frauen, die sich krankgemeldet hatten, nicht wiederkamen. Wenn wir zu Siemens geführt wurden, kamen wir am Krematorium vorbei, wo wir häufig sahen, dass Särge hineingetragen wurden.“ Als die russische Armee immer näher rückte, sollten die Häftlinge von Ravensbrück in ein anderes Lager gebracht werden. Dabei wurden sie von Angehörigen der Waffen-SS mit Hunden begleitet. Bei einem Fliegerangriff mussten Häftlinge und Bewacher:innen auf einer Landstraße in Deckung gehen. Frieda Höchster nützte die Gelegenheit und versteckte sich zusammen mit einer anderen Gefangenen im Wald. Sie fanden Unterschlupf bei einem Bauern, bis am 15. April 1945 die sowjetischen Truppen sie erreichten. Nach zwei Jahren und sieben Monaten im Konzentrationslager war Frieda Höchster frei.
Mit eintätowierten Häftlingsnummern wurden Menschen in Auschwitz wie Vieh markiert. Der Osnabrücker Heinz Engers erhielt in Auschwitz die Nummer 54636. Am 4. Oktober 1942 wurde sein Tod aktenkundig: erschossen bei einem Fluchtversuch. In der standesamtlichen Todesurkunde für die Angehörigen vom 8.Oktober 1942 lautet die Todesursache, festgestellt durch den zuständigen Lagerarzt Kremer: „plötzlicher Herztod“. Nach ihrer Auswanderung zu ihren Kindern in den neugegründeten Staat Israel musste Frieda Höchster ein ärztliches Attest über die eintätowierte Häftlingsnummer aus Auschwitz auf ihrem Arm vorlegen, um Entschädigungsansprüche für die schweren gesundheitlichen Schäden geltend machen zu können, die sie erlitten hatte. Als sie die Tätowierung beim Spaziergang durch Osnabrück nach ihrer Rückkehr aus dem Konzentrationslager demonstrativ öffentlich zur Schau gestellt und auf eine Reaktion oder Fragen gewartet hatte, hatte sich niemand dafür interessiert. 1957 besuchte die Auschwitz-Überlebende noch einmal ihre Freundin in Osnabrück, die sich erinnerte: „Mehrere Male bin ich damals mit Frau Höchster in der Großen Straße einkaufen gegangen. Es war Sommer und sie trug ärmellose Kleidung, nicht wegen der Hitze, sondern ganz bewußt: jeder konnte ihre eintätowierte KZ-Nummer sehen. Aber keiner hat hingeguckt. Es hat die Leute einfach nicht interessiert.“
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