Mit Aschenputtel und Hans im Glück auf Zeitreise in die Vergangenheit

Ein regionaler Ausflugstipp: Das Freilichtmuseum Detmold

„Das müsst ihr unbedingt sehen! Da müsst ihr mal mit uns hin!“ haben unsere Eltern jahrelang gedrängelt. Das Ziel war das LWL-Freilichtmuseum in Detmold. Vorgeschädigt durch schulische Besuche in einem anderen Freilichtmuseum, die wir als nicht sehr spannend in Erinnerung hatten, versuchten meine Schwester und ich uns jahrelang vor diesem Ausflug zu drücken. Doch zum Glück ließen unsere Eltern nicht locker, und so packten wir eines Tages den obligatorischen Picknickkorb und machten uns auf den Weg. Das größte Freilichtmuseum Deutschlands liegt eine gute Stunde entfernt in Detmold, am Teutoburger Wald im Schatten des Hermannsdenkmals. Was wir dort erlebten, war so interessant, dass es nicht bei diesem einen Besuch blieb. Die Zeitreise durch 500 Jahre westfälischer Alltagskultur begeisterte vor kurzem Wochen nicht nur Freundinnen aus Osnabrück, sondern auch solche aus den USA. Und nicht nur sie. Fast elf Millionen Besucher hatte das Museum, das nicht umsonst zu den bedeutendsten Freilichtmuseen in Europa zählt, seit seiner Gründung vor 50 Jahren.

Denn das Detmolder Freilichtmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) wirkt trotz der 120 historischen Gebäude nicht wie ein verstaubtes Museum. Es ist eine idyllische, alte Kulturlandschaft, in der verstreut mehrere kleine Museumsdörfer liegen (das Video auf der Startseite des Museums gibt davon einen guten Eindruck). Das Gelände ist mit seinen 90 Hektar so groß, dass die drei Siedlungen in der hügeligen Landschaft am Fuß des Teutoburger Waldes außer Sichtweite voneinander liegen. Es ist vor allem die Weitläufigkeit des hügeligen Geländes, die den Besuch zu einem Zeitreise-Erlebnis macht. Man kann durch den einstigen Alltag von Menschen aus dem 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart und von einem Dorf zum anderen wandern, um es auf eigene Faust zu entdecken.

 

alle Fotos: Martina Sellmeyeralle Fotos: Martina Sellmeyer
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Obwohl die Entfernungen durchaus überschaubar sind, können sie mit Hilfe einer regelmäßig verkehrenden Pferdekutsche abgekürzt werden, mit der man sich ins Paderborner Dorf am Ende des Geländes bringen lassen kann – ein entschleunigender Auftakt für die Reise in Vergangenheit. Am Museumseingang gibt es auch einen Fuhrpark voller Bollerwagen, die ausgeliehen werden können. Gleich hinter dem Eingang wird man nach einem kurzen Waldweg vom Osnabrücker Hof begrüßt, einem Wiehengebirgshof mit acht Gebäuden aus der Zeit um 1800. Solche monumentalen niederdeutschen Hallenhäuser waren typisch für die Region zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge.

Wer sich vor dem Ausflug in der ARD-Mediathek den Märchenfilm Aschenputtel aus der Reihe „Sechs auf einen Streich“ angesehen hat, der hier gedreht wurde, kann sich im benachbarten Mindener Hof vorstellen, wie Aylin Tetzel mit Hilfe der Tauben am Herdfeuer die „Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ sortieren musste. Hier kann man auch herausfinden, was es hieß, beim Kochen im riesigen Kessel über dem offenen Feuer „einen Zacken zuzulegen“. Überdimensionale geflochtene Körbe an der Wand, obskure hölzerne Geräte auf der Diele, Brunnen wie aus der Puszta und Misthaufen direkt vor dem Haus werfen viele Fragen zum Leben in längst vergangenen Zeiten auf, in denen jeder Haushalt ein paar Schweine, Ziegen oder Hühner für den eigenen Bedarf hielt. Die Menschen waren weitgehend Selbstversorger.

Das drangsalierte Aschenputtel lebt im Film in einem prächtigen Bauernhaus mit Haupt- und fünf Nebengebäuden. Doch gleich nebenan finden sich die Häuser der ärmeren Landbevölkerung, zu der achtzig Prozent der alteingesessenen heutigen Bevölkerung gehörte. Hier erkundet man Heuer– und Kötterhäuser, von denen eins aus Tecklenburg hierher versetzt wurde.Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!“ hieß es früher. Die Kötter mussten, wie noch meine Großeltern, Arbeiten in der Landwirtschaft übernehmen, die einen Teil der Miete darstellten.

Im Armenhaus aus Rinkerode von 1824 wird man mit einer noch viel extremeren Abhängigkeit konfrontiert. Sobald die Gebetsglocke im Dorf läutete, mussten die mittellosen alleinstehenden oder verwitweten Frauen, die hier lebten, kniend gemeinsam fünf Vaterunser und Ave-Maria beten. Zudem waren sie verpflichtet, an jedem Werktag pünktlich die Messe zu besuchen, um für das „Seelenheil“ der Adelsfamilie zu beten, die für ihren armseligen Lebensunterhalt aufkam.

Dieses Haus war einer der Drehorte für ein weiteres Märchen, das 2008 hier im Freilichtmuseum verfilmt wurde. Hier wohnte der Schneider aus der Geschichte vom Tischlein deck dich mit Christine Neubauer, Helmut Zierl, Ingo Naujoks und Dietmar Bär. Weitere Szenen spielen im Paderborner Dorf, der Kappenwindmühle und dem Münsterländer Gräftenhof im Eingangsbereich.  Gräfte ist die westfälische Bezeichnung für einen Wassergraben, der ursprünglich einen Adelssitz zu Verteidigungszwecken umgab. Diese und andere alte Wörter kann man beim Spaziergang durch die Vergangenheit nebenbei entschlüsseln lernen. Anhand der vielen rätselhaften Geräte in Dielen und Ställen lässt sich herausfinden, was längst vergessene Arbeiten wie Dreschen oder Hecheln waren, wie ein Butterfass oder ein Melkschemel aussahen, und warum in der Diele so viele Holsken standen.

In der Textilwerkstatt kann man Webstuhl und Spinnrad im Echtbetrieb erleben, hier den BäckerInnen, dort einem Schmied oder dem netten Töpfer bei der Arbeit zusehen. Vor allem aber kann man ihnen Fragen stellen, für die sie sich Zeit nehmen und gerne alles erklären, was zu ihrem Handwerk gehört. Dafür stehen auch in jedem der historischen Häuser fachkundige MitarbeiterInnen bereit.

Ein besonderes Highlight sind die gepflegten Bauerngärten und der Apothekergarten, in denen das gemeinsam mit farbenprächtigen Blumen Gemüse und knackiger Salat wachsen. Hier sieht man, wozu Erbsenbraken da waren und dass Liebstöckel auf Plattdeutsch Levestock heißt. Hier gibt es  manche Pflanze, die man heute kaum noch kennt wie Guter Heinrich, Stielmus oder Ramanken. Auch auf den Feldern stehen alte Sorten von Getreide. Was daraus wird, kann man erleben, wenn  eine der beiden Windmühlen in Betrieb ist.

Im Paderborner Haufendorf, der vorherrschenden Siedlungsform im Osten Westfalens, liegen 40 Gebäude um den idyllischen Dorfteich. In den Ställen des Dorfes kann man die Pferde wiedertreffen, die die Kutsche gezogen haben, denn die Gespanne arbeiten in Schichten. In einem alten Hof mit einem 1699 gebauten Ackerbürgerhaus aus Obermarsberg findet man das Weiße Ross, den Gasthof des Dorfes mit leckerem rustikalen Essen.

Auch das Haus einer jüdischen Familie aus dem Kreis Siegen-Wittgenstein gibt es zu sehen. Es wurde 1797 von Benjamin Moses erbaut und bis 1871 bewohnt. Das Sauerländer Dorf zeigt eine Zeit, in der es bereits Elektrizität gab. Hinter dem Hügel liegt der Siegerländer Weiler. Auf dem Weg dorthin ist sogar eine Tankstelle aus früheren Zeiten zu sehen. Ganz neu zeigt das Haus Stöcker dort auch das Wohnen in den 1950er und 1960er Jahren, das heute bereits „historische“ Vergangenheit ist.

Für Kinder gibt es auf dem Gelände eine große Spielescheune mit Rutschen und einem Heuwagen. Mit dem „Hof Remberg“ im Sauerländer Dorf bietet das Freilichtmuseum Schulklassen bis zu 30 Personen und anderen Bildungsgruppen die Möglichkeit, als „Museumsschläfer“ im Museum für mehrere Tage zu übernachten.

Das Museum ist vom 1. April bis 31. Oktober geöffnet. An einigen Tagen in der Saison ist der ohnehin moderate Eintritt frei, für Kinder unter 18 Jahren sowieso. Am ersten Septemberwochenende (3./4.9.) verwandelt sich das Museum von 9 bis 18 Uhr in eine Genussmeile, auf der die BesucherInnen regionale Produkte probieren können. Samstag und Sonntag um 11 und 15 Uhr kann man an der Bockwindmühle die Kaltblutpferde beim Holzrücken beobachten. Die Anreise über die A33 dauert eine gute Stunde. Hunde dürfen auf das Gelände mitgenommen werden, müssen aber an der Leine bleiben und dürfen nicht in die Häuser.

Neben dem Freigelände entsteht für 58 Millionen Euro unter Verwendung von Ökobeton und Lehm ein Neubau für Sonderausstellungen, der es ermöglichen soll, das Museum ganzjährig öffnen und große Sonderausstellungen zeigen zu können.

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