Dienstag, 16. April 2024

Martina Sellmeyer: The German Atomic Angst

Abgehoben über den Wolken … Wohlstandsverteidiger im Sturzflug

Ich war immer ein Fan von Reinhard Mey. Auch wenn der Liedermacher nicht auf der Liste der UNESCO steht, gehört er für mich zum wertvollsten deutschen (Nachkriegs-)Kulturgut.

Trotzdem fand ich es absolut unpassend, als mehrere Freundinnen mir zu Beginn des Ukraine-Krieges kommentarlos einen Link zu seinem Lied „Nein, meine Söhne geb ich nicht her“ schickten. Nicht, weil ich eine Tochter und keine Söhne habe. Ich finde das Lied ebenso richtig und wichtig wie Bob Dylans richtig böses „Masters of War“. Aber beide Antikriegslieder passen nicht zur aktuellen Situation, ebensowenig wie manch andere Pazifistenhymnen.

In Reinhard Meys Lied von den Söhnen, die er nicht hergeben will, ist von Ungehorsam, Widerstand und Unbeugsamkeit die Rede und davon, dass man nicht mehr in Reih‘ und Glied marschieren will. Ein Idealbild, das das Gegenteil der noch vom preußischen Untertanengeist und blindem „Führer befiehl, wir folgen“ geprägten Mentalität darstellt, mit der die deutsche Wehrmacht losmarschierte, um Länder zu erobern und dort auch Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder zu töten. Zu so etwas sollte in der Tat niemand seine Kinder hergeben, in der aktuellen Situation besonders die russischen Soldatenmütter und -väter nicht. Aber wegen dieser Perspektive wurde das Lied nicht seit dem 24. Februar endlos in deutschen Chat-Kanälen geteilt. Es war ein Statement deutscher Mütter, keine Aufforderung an die in Russland. Aber Deutschland bereitet keinen Angriffskrieg, keinen Überfall auf andere Länder vor, den Soldaten in blindem Gehorsam auszuführen bereit sind, und wird das (hoffentlich) nie wieder tun. Hoffentlich, weil das Beispiel Frankreichs zeigt, wie schnell eine bei uns längst überwunden geglaubte rechte Ideologie 41,4 Prozent eines Landes erfassen kann. Das sind 13 Millionen Franzosen. Die AfD wählten 4,8 Millionen Deutsche. Für den Verschwörungsideologen Trump stimmten 74,22 Millionen US-Amerikanerinnen und Amerikaner.

Reinhard Meys Lied ist in der aktuellen Situation keine Orientierungshilfe. Wir stehen nicht kurz davor, wieder in Reih und Glied zu marschieren. Deutschland wird gebeten, einem überfallenen Volk zu helfen, dass sich alleine nicht ausreichend verteidigen kann, und tapferen Widerstand leistet, Widerstand, bei dem es viele seiner Töchter und Söhne verliert. Ukrainerinnen und Ukrainer nehmen das in Kauf als Preis für ihre Freiheit und Selbstbestimmung – westliche Ideale, die für uns schon so lange selbstverständlich sind, dass wir überhaupt nicht mehr wahrnehmen, wie privilegiert wir sind. Viele Männer und Frauen in der Ukraine haben sich entschieden das zu tun, was Reinhard Mey seinen Söhnen ersparen will: „Durchhalten,  kämpfen bis zuletzt und eher auf einem gottverlass’nen Feld zu erfrieren“, als ein Teil von Putins diktatorischem und menschenverachtendem System zu werden, dass sich gerade in allen seinen Schrecken zeigt.

Diese Entscheidung müssen wir akzeptieren. Stattdessen beanspruchen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des offenen Briefes an Olaf Scholz, unter ihnen Reinhard Mey, für sich das Recht, „moralisch verbindliche(r) Normen (…) universaler Natur“ festzusetzen. Man kann dagegen sein, die Menschen in der Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen – ob aus Angst vor einem Atomkrieg, aus Sympathie für Putin, weil man denkt, dass uns dieser Konflikt nichts angeht, Sorge um seinen Lebensstandard hat oder sich die steigenden Heizkosten nicht leisten kann. Das darf man alles sagen. Aber man darf nicht moralische Manifeste über der Ukraine abwerfen und den Menschen dort von oben herab erklären, dass es jetzt an der Zeit ist, aufzugeben – so, wie es die Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg getan hat. Aber die warf ihre Flugblätter über dem faschistischen Deutschland ab, und nicht über dem von Deutschland überfallenen Polen!

Stattdessen glauben die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des von der EMMA veröffentlichten Briefes, „dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten‘ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“ nicht ausschließlich in die Zuständigkeit der ukrainischen Regierung falle. Sie sind der Meinung, dass man aufgrund „moralisch verbindliche(r) Normen (…) universaler Natur“ die Ukrainerinnen und Ukrainer darüber belehren darf, wann „das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“ erreicht ist und „der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor“ deswegen aufgegeben werden muss. Was geht das Reinhard Mey und die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Petition an? Sie wollen um Himmels willen nicht Kriegspartei werden, aber aus sicherer Entfernung an Stelle des überfallenen Landes entscheiden, wann es die weiße Fahne zu hissen hat? Was für eine wieder mal typisch deutsche Arroganz! Die Frage, „wozu weiterkämpfen, wenn die Niederlage feststeht? Wie viele Menschenleben noch opfern für ein Ziel, das nicht zu erreichen ist?“, die auch die Autorin Natascha Wodin stellt, haben ganz bestimmt nicht deutsche Prominente zu beantworten.

Tatsächlich geht es jetzt wohl eher um eine andere, in dem offenen Brief der EMMA genannte „Grenzlinie“: Das „kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen“. Die  Unterzeichnerinnen und Unterzeichner schreiben, die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen und ein russischer Gegenschlag so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Dabei wurde Wladimir Putin bereits zu Beginn des Krieges, am 5. März, von russischen Medien mit der Aussage zitiert, dass er die westlichen, also auch unsere Sanktionen als Kriegserklärung auffasst. Das gleiche hat er von Waffenlieferungen an die Ukraine gesagt.

Doch ob Putin Atomwaffen einsetzt, hängt nicht davon ab, ob wir das Embargo verschärfen, immer mehr und schwerere Waffen liefern oder wirklich Nato-Mitglieder den Himmel über der Ukraine verteidigen. Putin droht, um den Westen von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Wann seine persönliche Schmerzgrenze überschritten ist, weiß niemand, wahrscheinlich nicht mal er selbst. Wenn der in Großmacht-Phantasien abgedriftete Diktator Atomwaffen einsetzen will, wird er das tun, wann immer ihm danach ist. Putin beachtet keine Spielregeln. Ihn interessiert nicht, wie ehemalige Generalinspekteure der Bundeswehr oder der Vorsitzende des Militärausschusses einen offiziellen Kriegseintritt der NATO definieren. Die Auffassung der NATO davon, was eine Kriegserklärung darstellt und was nicht, ist für seine Entscheidungen nicht relevant. Dass wir uns daran klammern, diese von westlichen Experten definierte Rote Linie ja nicht zu übertreten wie einst Soldaten im Ersten Weltkrieg an ihre wundertätige Muttergottes-Medaille, schützt uns nicht vor einem Angriff. Ein Vorwand wie der für den Überfall auf die Ukraine lässt sich für Putin jederzeit finden. Zum Beispiel, dass auch Deutschland entnazifiziert werden muss. Bei uns gibt es genau so viele bekannte Rechtsextremisten mit einer legalen Erlaubnis zum Führen von Waffen, wie die Azow-Brigade Mitglieder hat.

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Die Generation unserer Eltern oder Großeltern saß vor achtzig Jahren in Stollen am Piesberg oder am Schölerberg, im Redlinger- oder dem Ostbunker. In Todesangst, Nacht für Nacht, „Irgendwo ist Vernichtung, Häusereinsturz, Erdriß (…) Menschen in Todesnot, im Kampf, erschlagen und zermalmt. (…) Jeden Augenblick glaubt man, getroffen zu werden: Hauseinsturz, fallende Decken. Ein kurzer Kampf oder Einkerkerung in Stein und Holz.“ Osnabrück 1944. Oder Mariupol 2022. Bei uns, den Kindern der Kriegskinder, wecken die Berichte über den Beschuss von Wohnhäusern in der Ukraine Ängste, die in rudimentären Erinnerungsfetzen an uns überliefert wurden und doch ganz tief sitzen. Todesängste.

Doch auch die Angst vor einem Atomkrieg ist eine Urangst der Generation, die den Kalten Krieg und Tschernobyl erlebt hat. Die weiß, dass es mit „duck and cover“ unter dem Tisch nicht getan ist und man sich vor einem Atomangriff nicht in Sicherheit bringen kann. Der Autor Wolfgang Müller schreibt, die Drohung mit Atomwaffen sei „so entsetzlich, dass sie gleichzeitig irrelevant wird“. Er hat recht. Inzwischen hat Putin Großbritannien angedroht, es mit einem atomaren Mega-Torpedo im Meer zu versenken –  einer Monsterwaffe, von der man nicht weiß, ob es sie wirklich schon gibt. Aber die Briten legen deswegen jetzt nicht die Schwimmringe an.

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Und ist Putins Drohung mit einem Atomschlag wirklich die größte Gefahr? Sein Agieren ohne Rücksicht auf Verluste und der daraus resultierende leichtfertige Umgang mit den Atomkraftwerken Tschernobyl und Saporischschja hätte längst zum Supergau führen können. Als er anordnete oder zumindest zuließ, dass mit Saporischja Europas größtes Atomkraftwerk mit Artillerie beschossen wurde, hat Putin längst die nukleare Dimension in diesen Krieg hineingebracht, auch ohne  Atomwaffen einzusetzen. Gewinnt er, bleibt Saporischja in russischer Hand und eine dauerhafte Bedrohung. Warum kam es zur Katastrophe von Tschernobyl? Weil die Mitarbeiter des Kraftwerks nicht wagten, sich den Anordnungen des Direktors zu widersetzen. Wie sich gerade wieder zeigt, ist in Russland das militärische System von Befehl und Gehorsam sehr ausgeprägt. Wenn man Militärs befiehlt, einen Kernreaktor zu beschießen, obwohl sie selber direkt vor Ort sind und die ersten Opfer wären, dann tun sie das. So, wie die russischen Soldaten gehorsam Gräben in der verstrahlten Erde von Tschernobyl ausgehoben haben. So, wie mitten in London ein Mensch nuklear verseucht wurde ohne Rücksicht darauf, wie viele Menschen er anschließend noch verstrahlt. Doch das autoritäre System von Befehl und blindem und deshalb gefährlichem Gehorsam gilt im russischen Staat nicht nur beim Militär. Auch im zivilen Bereich haben Menschen Angst, sich Anordnungen zu widersetzen. Die ganze Welt konnte beobachten, wie selbst Putins Geheimdienstchef anfing, sich vor Angst zu verhaspeln. Ein Atomkraftwerk wie Saporischja möchte man nicht in der Hand eines Diktators wissen, der ständig mit Atomwaffen droht und dem auch das Personal eines Atomkraftwerks blind gehorcht.

Rücksichtslosigkeit, die sich nicht um die Folgen ihres Handelns für andere Menschen schert,  Gleichgültigkeit gegenüber der Vernichtung von menschlichem Leben, oder lebenswichtiger Ressourcen wie dem Getreide der Ukraine, sind Gründe dafür, warum Menschen ohne Skrupel in dieser Welt nur allzu oft siegen. Es macht dennoch einen Unterschied, den entscheidenden Unterschied, ob man zumindest versucht, das zu verhindern. Warum sind wir als Deutsche so froh über die Männer des 20. Juli und jede oder jeden, die den Mund gegen die Nazis aufgemacht haben und dafür ins KZ gegangen sind?  Putins Taten zeigen, dass er keinen Respekt vor dem Leben und der Würde anderer Menschen hat. Er ist wahrlich nicht der einzige lebende Politiker, auf den das zutrifft. Aber jetzt, in diesem Moment der Weltgeschichte, ist er die Personifikation des Bösen. Wie beim deutschen Überfall auf die Niederlande, auf Polen oder die Sowjetunion war selten in der Weltgeschichte so klar zu erkennen, was Gut und was Böse, wer an einem Krieg schuld ist. Wir verdanken es den Ländern, die gegen Hitler kämpften, dass wir nicht im Faschismus und jeden Tag in Angst leben müssen, wenn wir etwas sagen, was dem Staat nicht passt. Ungezählte Angehörige der Alliierten starben in diesem Krieg, der nicht nur die von Deutschland besetzten Länder, sondern auch uns von Diktatur und Faschismus befreite.

Die Menschen in der Ukraine sind bereit, für ihre Freiheit zu kämpfen und ihr Heimatland bis zum bitteren Ende zu verteidigen, und zeigen dabei einen Patriotismus, der uns in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg verständlicherweise fremd geworden ist. Wir leben aufgrund unserer Vergangenheit in einem anderen Land, einer anderen historischen Kontinuität. Nach Jahren der Scham über Deutschlands Arroganz, als vermeintliche Nation von „Herrenmenschen“ andere Länder zu überfallen, und nach dem Trauma der Millionen Toten und des Leids, das statt des „neuen Lebensraums“ daraus erwuchs, wachen wir langsam aus unserem Traum von einem simplen „Nie wieder“ auf.

Sicher ist, dass Olaf Scholz nichts dafür tun kann, dass es zu einem Waffenstillstand oder einem „Kompromiss kommt, den beide Seiten akzeptieren können“, wie es die Briefschreiber in der EMMA fordern. Welchen Kompromiss soll es geben, wenn Putins Kriegsziel die Vernichtung der Ukraine ist? Bereits am 12. März hat Emmanuel Macron nach einem 75minütigen Gespräch mit Putin festgestellt, dass der Diktator keinen Willen erkennen, lässt, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden.  Wer angesichts dieser Haltung „Diplomatie statt Waffenlieferungen“ oder wie bei einer Demonstration der Osnabrücker Friedensbewegung nach Kriegsbeginn „Verhandeln statt sinnlos sterben“ fordert, liest entweder keine Zeitung oder ist naiv.

Der einzige verbleibende Weg, Putin zu Verhandlungen zu bringen, ist es, die Ukraine militärisch zu unterstützen. Geschieht das nicht, geht sie unter, und der Aggressor Putin siegt. Und macht weiter, auch wenn wir (noch) nicht die Nächsten sind, gegen die sich Putins Aggression richtet, sondern Moldawien und danach die baltischen Staaten wohl vor uns dran sind. Das Böse lässt sich, wie dieser Krieg zeigt, nie endgültig besiegen und schon gar nicht dauerhaft ausrotten. Was zählt ist, welche Haltung man im Angesicht dieser Erkenntnis zeigt. Wir können uns von Putins Drohungen einschüchtern lassen. Aber möchten wir in einer solchen Welt leben? Einer Welt, in der wir zusehen, wie die Menschen in der Ukraine untergehen, die todesmutig ihr Leben für ihre Freiheit riskieren?

Ich bin dafür, dass wir alles, was in unserer Macht steht, tun, um ihnen in ihrem Kampf zu helfen, in dem sie auch unsere Freiheit verteidigen – auch wenn mich das mit Reinhard Mey entzweit. Für den Fall, dass die russische Führung als nächstes droht, ganz Europa atomar abzuspalten und im Meer zu versenken, greife ich statt auf Reinhard Mey auf ein Zitat meines Lieblingsphilosophen Terry Pratchett zurück: „Ich habe solche Angst vor euch, dass sich mein Rückgrat in Brei verwandelt. Allerdings leide ich derzeit an einer Überdosis des Entsetzens. Ich meine, wenn ich mich davon erholt habe, habe ich bestimmt Gelegenheit, mich angemessen vor euch zu fürchten.”

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