Mansoureh tanzt

 

Mansoureh Behkish tanzt

Zu den Klängen iranischer Musik wiegt sich die grauhaarige Menschenrechtsaktivistin in einem Video anmutig hin und her, so groß ist ihre Freude über den Tod des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi, des „Schlächters von Teheran“, der in den 1980er Jahren mehrere tausend Menschen hinrichten ließ, darunter sechs ihrer Angehörigen.

An den Trauerfeierlichkeiten nach Raisis Tod nahm auch Ismail Haniyeh teil, der Chef der Hamas. „Wir sind uns sicher, dass die Islamische Republik Iran ihre Unterstützung für das palästinensische Volk aufrechterhält“, sagte er, begleitet von „Tod für Israel“-Rufen.

Szenenwechsel. Beim Eurovision Song Contest in Malmö gab es heftige propalästinensische Proteste gegen die Teilnahme Israels und die Sängerin Eden Golan. Trotzdem – oder gerade deshalb – kam ihr Lied bei den Publikumsvoten „auf so viele Höchstwertungen wie kein anderer Song – auch aus Ländern, in denen seit dem 7. Oktober 2023 propalästinensisch agiert wird“, schrieb Jan Feddersen in der taz. Das zeige, „dass es um die Mainstreamigkeit der hamasgewogenen Proteste an Unis und im Kulturbetrieb nicht weit bestellt ist. Offenbar sind weite Teile des europäischen Publikums (und Anrainerstaaten) nicht bereit, Israel zu dämonisieren.“

Das sieht eine junge propalästinensche Aktivistin namens Esma Öztürk ganz anders. Angesichts eines Haufens propalästinensischer Student*innen an der Genfer Uni jubelt sie auf Facebook: „Die Welt ist auf der richtigen Seite.“

Solche Aktivist*innen, die sich in ihrer ganzen Realitätsblindheit nicht nur für den Nabel der Welt, sondern gleich für die Welt selbst halten, können einem leidtun, denn eigentlich ist ihr Protest gegen die unmenschliche Kriegsführung der in Teilen rechtsradikalen israelischen Regierung im Gaza-Streifen mit inzwischen fast vierzigtausend  Toten ja durchaus berechtigt, selbst wenn man Israel das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht. Aber man muss angesichts des Massakers vom 7. Oktober und der Drohung der Hamas mit weiteren solchen Angriffen eben auch klar sagen: „Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot.“ (Jeffrey Herf, Antisemitismusforscher und Historiker an der Universität Maryland)

Und gäbe es keine Juden und keinen jüdischen Staat auf „palästinensischem Boden“, würden die Palästinenserfreund*innen darauf vermutlich erwidern, gäbe es auch keine Hamas. Und schon ist man in der mindestens 75-jährigen Geschichte eines unlösbaren Konflikts verstrickt und kommt über gegenseitige Schuldzuweisungen nicht mehr hinaus.

Was die historischen Dimensionen betrifft, argumentiert jedoch selbst die BDS-Anhängerin Naomi Klein in ihrem Buch mit dem Titel „Doppelganger“ durchaus differenziert: „Es wäre hilfreich, wenn all jene, die nicht direkt von diesem Kampf betroffen sind, differenzierter miteinander ins Gespräch kommen und anerkennen könnten, dass die Israelis, die in den 1940er Jahren nach Palästina kamen, Überlebende eines Völkermords waren, verzweifelte Flüchtlinge, denen oft gar keine andere Wahl blieb – dass sie aber zugleich kolonialistische Siedler waren, die sich an einer ethnischen Säuberung, der Vertreibung eines anderen Volkes, beteiligten. Dass sie Opfer des weißen Vorherrschaftsdenkens in Europa waren, in Palästina aber als Weiße galten. Dass die Israelis selber Nationalisten sind und dass ihr Land lange als eine Art fremdvergebener Militärbasis der Vereinigten Staaten in der Region fungierte. All das ist gleichzeitig wahr. Solche Widersprüche passen nicht so recht in die Binaritäten des Antiimperialismus (Kolonisator/Kolonisierter) oder der Identitätspolitik (weiß/rassifiziert) – aber wenn Israel-Palästina uns etwas lehrt, dann vielleicht, dass wir mit binärem Denken nie über unser gespaltenes Ich oder unsere gespaltenen Nationen hinauskommen werden.“ Und Jean-Paul Sartre, der ebenfalls Verständnis für die palästinensischen Sache aufbrachte, schrieb schon 1967: „Der Gedanke, dass die Araber den jüdischen Staat zerstören und seine Bürger ins Meer werfen, ist nicht einen Augenblick lang zu ertragen, es sei denn, man ist Rassist.“

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Seit 1948 sind Generationen jüdischer Staatsbürger in Israel geboren worden und aufgewachsen. Allein deshalb haben sie schon ein Recht, dort zu sein und zu bleiben. „Possession is nine points of the law“, wie man im Englischen sagt. Jan Feddersen übersetzt das in der taz so, an die palästinensischen Migranten in Deutschland gewandt: „Palästina wie in eurer Phantasie ist nicht mehr. `From the river to the sea …´: vergesst es. … Was viele von euch wollen, wäre ohne einen Holocaust 2.0 nicht zu haben, es käme einem Massaker in ganz Israel im Stil der Hamas gleich. Mithin: Hier ist jetzt eure Heimat, das muss es ja sein, sonst wäret ihr ja nicht gekommen, also macht was draus. … Und zeigt euch von eurer besten Seite, nämlich, indem ihr euch entschieden fernhaltet von jeder Solidarität mit der Hamas.“

Davon kann jedoch bei den internationalen propalästinensischen Aktivist*innen keine Rede sein. „Glory to Hamas!“, jubelt der Vorsitzende des Palestine Solidarity Committee an der Indiana University auf Twitter; Israel sei „eine dämonische, nicht zu ändernde Gesellschaft, die niemals ein einziges Recht auf Existenz hatte und niemals haben wird“.

„Vor dem Tor der Columbia University“, schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner, „singen und brüllen Demonstranten ihre Hymne auf die Kassam-Brigaden, den bewaffneten Arm der Hamas: `Kassam, du machst uns stolz, töte noch einen Soldaten (. . .) brenne Tel Aviv bis auf das letzte Haus nieder. Hamas, wir lieben dich, wir unterstützen deine Raketen und Flugkörper (. . .), Kassam verbreitet die Hölle unter den Israeli.´ Radikale Aktivisten der Students for Justice in Palestine sind für diesen Unfug verantwortlich.“

Dabei sind die intellektuellen Vordenker*innen kein Stück besser als die Studierenden. 144 Professorinnen und Professoren der Columbia University schrieben in einem Brief, man „könnte die Ereignisse des 7. Oktober als Ausübung des Rechts auf Widerstand eines besetzten Volkes gegen eine gewaltsame und illegale Besetzung betrachten“. Für diese „Linken“ sind Vergewaltigung, Folter und Mord an Unbewaffneten also Akte des Widerstands. Und in einer Rede vom 2. März dieses Jahres jubelt Naomi Klein, das Hamas-Massaker (für das sie keinen einzigen Satz, sondern nur zwei dürre, banale Adjektive übrig hat: „brutal“ und „schrecklich“), habe Israels Exportschlager, den „Iron Dome“, vor den Augen der Welt einstürzen lassen und so „die gesamte Illusion der von diesem Modell verkörperten Sicherheit für die Wenigen“ zerstört. Erstens ist das Unsinn: Der Iron Dome ist ein Abwehrsystem, das Raketen und Granaten abfangen kann, nicht aber eine mit Gleitschirmen und Geländewagen anrückende Killerbande. Zweitens scheint es für Klein ein Grund zur Freude zu sein, dass sich die Juden selbst nach den Erfahrungen des Holocaust in ihrem eigenen Staat nicht mehr sicher fühlen können. Wenn es um Israel geht, setzen bei manchen offenbar Verstand und Empathiefähigkeit komplett aus.

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Die (restliche) internationale „Linke“ glänzt weitgehend durch Schweigen, was die Mord- und Vergewaltigungslust der Hamas betrifft. „Wäre es … nicht an der Zeit, die Internationale der Hamas-Nichterwähner:innen erklärte uns `konkret und kohärent´, wie sie sich eine Zukunft in der Region mit diesen Leuten in verantwortlicher Position denken?“, fragt Ambros Waibel in der taz. „Soll der 7. Oktober der Nationalfeiertag eines Staats `from the river to the sea´ werden? Was wird man den Kindern zum Anlass der Party sagen? Heute feiern wir, dass Zivilisten abgeschlachtet, gedemütigt, missbraucht und entführt wurden?“

Bruckner läuft „ein kalter Schauer über den Rücken“, wenn er „in Paris und New York den Slogan `Queers for Hamas´ an Hausfassaden liest“. Dabei, so Andreas Scheiner in der Neuen Zürcher Zeitung, „dürfte jedem offen homosexuell lebenden oder auch nonbinären Menschen klar sein, dass er in den palästinensischen Gebieten nicht gern gesehen wäre. Wahrscheinlich würde er kaum einen Tag überleben. Von einem queeren Mann, den die Islamisten von einem Dach in den Tod gestoßen haben, erzählt eine palästinensische Transperson in Yolande Zaubermans Dokumentarfilm `La Belle de Gaza´. Auch ein transsexueller Junge, dem der Kopf abgeschnitten wurde, ist Thema. Oder eine Transprotagonistin schildert, wie sie entführt und misshandelt wurde.“ Die Hamas macht aus ihrer LGBTQ+-Feindlichkeit auch gar keinen Hehl. „Ist das das Gesetz, auf das Palästina wartet? Den Homosexuellen und Lesben, einer Minderheit von Perversen, Geistesgestörten und Unmoralischen, Rechte zu geben?“, schrieb Mahmoud az-Zahar, einer der führenden Hamas-Politiker in Gaza, vor einigen Jahren zum Thema Homo-Ehe.

In propalästinensischen Kreisen muss man die Hamas offenbar nicht lieben, um sie zu unterstützen. „In den Anfangstagen des israelischen Angriffs auf Gaza habe ich `Vertraut ihr der Hamas?´ gepostet“, schreibt die eingangs erwähnte Esma Öztürk. „Einige meiner palästinensischen Freunde haben mich gebeten, das zu löschen, und ich habe es gelöscht. Denn sie hatten recht. … Die Hamas kämpft gegen Israel, möge Allah ihr beistehen. Wir alle beten für ihren Sieg.“ So einfach ist das also. Wenn es gegen Israel geht, spielt nichts anderes mehr eine Rolle.

Die unheilige Allianz – zumindest des Schweigens – zwischen „Linken“ und Klerikalfaschisten erinnert nicht nur an die historische Querfront zwischen Rechten und Linken in der Weimarer Republik, sondern auch an die Entwicklungen in der Querdenker-Szene, wo viele Impfgegner eine frappierende Offenheit gegenüber rechten und rechtsradikalen Gruppen an den Tag legten. Von daher kann man die propalästinensischen Faschistenfreunde und Antisemiten wohl mit Fug und Recht als „linke“ Querdenker*innen bezeichnen. Was vor ein paar Jahren die Fixierung auf die Corona-Impfungen war, ist heute die Fixierung auf Israel als die Inkarnation des Bösen.

Wenn es im Ãœbrigen noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Juden einen eigenen Staat brauchen – zumindest als Fluchtpunkt -, so liefert ihn die propalästinensische Querdenker-Aktionseinheit von Linken, Faschistenfreunden und Antisemiten gleich selbst: 2023 gab es in Deutschland einen Anstieg politisch motivierter Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt um mehr als das Siebzigfache gegenüber dem Vorjahr. Fast die Hälfte dieser Straftaten gelten als antisemitisch, und die allermeisten von ihnen wurden ab dem 7. Oktober begangen.

Dabei ist die Hamas für die israelische Rechte nicht einmal „der Antagonist“. Im Gegenteil, sie wurde von Netanjahu und seinen politischen Freunden offenbar nach Kräften gefördert, weil sie garantierte, dass es keine Zwei-Staaten-Lösung geben würde. Bereits 2015 argumentierte der rechtsradikale gegenwärtige israelische Finanzminister Bezalel Smotrich in einem Interview, die eigentliche Gefahr für Israel komme nicht von der Hamas, sondern von der Diplomatie mit Fatah-Präsident Mahmud Abbas: „Die Fatah ist uns lästig, aber die Hamas ist unser Trumpf […] Die Hamas ist eine terroristische Organisation, niemand wird sie anerkennen, niemand wird sie eine Resolution im UN-Sicherheitsrat einbringen lassen.“ Nach Recherchen der New York Times verfügten Israels Sicherheitsbehörden seit 2018 über eine detaillierte Auflistung von Hamas-Vermögen. Dennoch unternahmen Netanjahus Regierungen nichts gegen das Geld und die Finanzierungsquellen der Hamas. Um Abbas zu schwächen, schreibt Tal Schneider in der Times of Israel, habe die israelische Regierung indirekte Verhandlungen über Ägypten mit der Hamas aufgenommen und die Geldströme aus dem Ausland geduldet. Kurz: Wenn es die Hamas nicht gäbe, die israelische Rechte hätte sie erfinden müssen. Oder hat sie etwa …?

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Nun führt die israelische Regierung also einen gnadenlosen Krieg gegen ihre eigenen Protégés. Doch offenbar gelingt es ihr nicht, die Hamas militärisch zu vernichten. Noch schlimmer: Die vielen Opfer unter der Zivilbevölkerung werden dafür sorgen, dass die Organisation beständig neue Mitglieder gewinnt. Und das ist nicht alles: „Die menschenverachtende Strategie der Terrororganisation Hamas ist aufgegangen“, schreibt Erica Zingher in der taz. „Sie konnten morden und verschleppen, ihre Taten stolz in die Welt streamen, sie später leugnen, Juden weltweit damit traumatisieren, ihre eigene Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde missbrauchen und weltweit Sympathie und Unterstützung für die von ihnen begangenen Massaker ernten.“

Die Hamas wird man wohl nur politisch besiegen können. Solange sie noch die rechtmäßige Vertretung der Palästinenser im Gaza-Streifen ist, kann es nur humanitäre Unterstützung, aber keine politische Solidarität mit den Palästinensern geben. Ebenso verdienen die jüdischen Opfer der Hamas, viele aus dem linken politischen Spektrum, unser Mitgefühl. Aber eine politische Solidarität mit Israel („Staatsräson“) sollte es erst geben, wenn dort eine Regierung an der Macht ist, die für eine nichtmilitärische Lösung des Konflikts eintritt, sei es nun eine Zwei-Staaten-Lösung oder ein binationaler Staat.

„Tatsache ist, dass jeder normale Mensch nur erschüttert darüber sein kann, was gerade in Gaza passiert, über das Ausmaß an unschuldigen Toten. Ich finde aber, die Demonstrierenden könnten ruhig auch mal die Hamas erwähnen. Denn mit ihnen fing das alles an“, sagt Salman Rushdie. „Es ist doch komisch, dass eine junge progressive Studentenpolitik eine faschistische terroristische Gruppe unterstützt, denn das tun sie auf eine Art. Sie fordern `free palestine´, befreit Palästina. Ich war die meiste Zeit meines Lebens für einen eigenen palästinensischen Staat. Seit den 1980ern schon. Aber wenn es jetzt einen palästinensischen Staat gäbe, würde er von der Hamas geführt und wir hätten einen Taliban-ähnlichen Staat. Einen Satellitenstaat des Iran. Ist es das, was die progressiven Bewegungen der westlichen Linken erschaffen möchten?“

Ja, was will sie, „die“ westliche Linke?  Gibt es sie überhaupt noch, in der bisherigen Bedeutung des Wortes? „Es gab immer das Gefühl eines unausgesprochenen linksalternativen Grundkonsenses“ schreibt Carolina Schwarz in der taz. „Gemeinsames Feiern ging irgendwie. Doch seit dem 7. Oktober stellt sich die Frage, wie so eine linke Parallelgesellschaft – und sei es auch nur für ein paar Tage – möglich sein soll.“ Vielleicht hat es sich ja einfach ausgefeiert mit den Israelhassern und Faschistenfreunden, auch wenn die sich als „links“ bezeichnen.

Erst wenn die Menschen im Iran, in Israel, im Gaza-Streifen und im Westjordanland vor Freude tanzen wie Mansoureh Behkish, weil sie ihre jeweiligen islamofaschistischen Peiniger und rechtsradikalen Regenten losgeworden sind, wird es möglich sein, die Wunden der Nakba – der Vertreibung der Palästinenser (wie auch fast ebenso vieler Juden aus den arabischen Ländern) – wenn nicht zu heilen, so doch zumindest gemeinsam zu verbinden und einen Weg zur Versöhnung zu finden. Nur wer dazu beiträgt, steht auf der richtigen Seite.

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