Bienenschwärme im Frühling
„Wäre links eine Musikrichtung, es wäre out wie Folk in den Achtzigern“, diagnostiziert Christian Brangel in einem Beitrag zur „Zeit“-Serie „Sind die Linken selber schuld?“ – ein recht skurriler Befund angesichts der Tatsache, dass die Linkspartei bei der letzten Bundestagswahl ungefähr halb so viele Sitze errang wie die SPD, zwei Drittel so viele wie die Grünen sowie anderthalb mal so viele wie die CSU und damit im Bundestag die Partei mit dem stärksten Zuwachs (abgesehen von der AfD) ist.
Aber für ein liberal-konservatives Blatt wie die „Zeit“ zählen natürlich auch die Mitteparteien SPD und Grüne zur Linken, und die mussten bei den letzten Wahlen bekanntlich arg Federn lassen. Man könnte daraus auch den Schluss ziehen, dass die Mitte zusehends erodiert, die Wähler zu den Rändern abwandern und eine auf die Mitte orientierte Politik zum Scheitern verurteilt ist. „Die Erfahrung im Ministeramt sagt mir, dass die Gesellschaft vielleicht gar keine Mitte hat, sondern lauter Gruppen, die verschiedene Interessen artikulieren und die sich nur noch rhetorisch auf eine Gemeinsamkeit beziehen“, wie Robert Habeck in schöner Offenheit erklärt. Wenn das zutrifft, werden gesellschaftliche Mehrheiten immer weniger durch faule Kompromisse und zunehmend durch konsequente Interessenpolitik errungen. Und es wäre schön, wenn man konstatieren könnte, dass die Linke auf allen Feldern eine solche breite Schichten ansprechende Interessenpolitik betreibt.
Nur leider, es ist nicht so. Aus mehreren Gründen. „Ewig ist der Fortschritt, der neue Ideale auf den Horizont schreibt“, schwärmte die Anarchistin Louise Michel 1898, 27 Jahre nach der Niederschlagung der Pariser Kommune, „als ob irgendetwas die übermächtige Anziehungskraft verhindern könnte, die der Fortschritt auf uns ausübt!“ Tja, diese Zeiten sind vorbei. Die permanente Selbstdemontage linker, sozialistischer Regierungen (letztes Beispiel: Bolivien) hat den ehemals massenwirksamen Traum von der sozialistischen Alternative längst in einen veritablen Albtraum verwandelt. „Übermächtige Anziehungskraft“ übt heute nur noch der Rückschritt in eine Welt aus, die es nie gegeben hat.
Zudem hat „die Linke“ viele Gesichter; ihr werden propalästinensische Antisemit*innen und Faschistenfreund*innen ebenso zugerechnet wie jene Identitätspolitiker*innen und Trans-Aktivist*innen, die beim Einsatz für ihre durchaus berechtigten Anliegen wahlweise die Juden, die Weißen oder gleich alle Menschen, die nicht davon überzeugt sind, dass ihr Geschlecht bei der Geburt willkürlich „zugewiesen“ wurde, zu Feinden erklären und ihnen obendrein auch noch die politisch korrekte Wortwahl aufdrängen möchten. Jens Jessen hält es in der „Zeit“ für bezeichnend, „dass vor allem der einfache Bürger und Konsument gegängelt, die Arbeitgeber- und Kapitalseite aber höchstens rhetorisch angegangen wird.“ Natürlich ist es legitim und nötig, die Rechte von Minderheiten zu verteidigen und sich gegen Diskriminierung zu wehren. Aber so ist das Ganze bloß eine moralisierende – und polarisierende – Werbekampagne für Antirassismus-Workshops und Achtsamkeitstrainings. Mehrheiten gewinnt man damit nicht.
In der Linken hat man diese Strömungen lange als vielleicht nervige, aber eigentlich unwichtige Randphänomene abgetan. Auch Brangel verharmlost und beschönigt sie in seinem Beitrag in der „Zeit“. „Ja, manche versuchen, in ihrem Sprechen Diskriminierungen zu vermeiden. Vielleicht wirkt das auf andere nervig“, schreibt er – als ob es darum ginge – und spottet: „Und vielleicht gibt es in irgendeinem innerstädtischen Viertel tatsächlich eine zu allem entschlossene Meinungsguerilla, die den lieben langen Tag damit verbringt, andere zurechtzuweisen.“ Ähnlich die taz: Die Aussage der Schauspielerin Iris Berben, Linke hätten „wichtige ureigene Themen vernachlässigt wie Wohnungsnot, Ausbildung, Arbeitsplätze, Infrastruktur, Gesundheit und sich stattdessen in Feldern verkämpft, wo ihr die meisten Leute nicht mehr folgen“, kommentiert sie mit den Worten, Berben habe damit „ohne Not“ die politische Linke kritisiert. Dabei sind es doch Teile dieser Linken selbst, die ohne Not dafür sorgen, dass sich viele Menschen von ihr abwenden.
Trotzdem: Der Linken die Schuld am Rechtsruck zu geben, geht zu weit. Da spielen andere Faktoren eine größere Rolle – zum Beispiel, dass Abschottung und neoliberale Egozentrik (moralisch betrachtet: Niedertracht, Empathielosigkeit und Hass) für parasitäre, stark auf Besitzstandswahrung orientierte Gesellschaften wie unsere eine wesensgemäßere Antwort auf Krisen darstellen könnten als Solidarität und soziale Gerechtigkeit.
Immerhin zieht die Linkspartei nun die richtigen Schlüsse aus ihrem Wahlerfolg und legt den Fokus auf die Wohnungsfrage, das Gesundheitssystem und andere Aspekte der Daseinsvorsorge – Themen, die viele Menschen bewegen und mit denen sich Mehrheiten gewinnen lassen.
Und Folk? Der ist und war nie tot, er lebt in neuen Varianten (z.B. Devendra Banhart, Bon Iver, Rhiannon Giddens) weiter und erfreut sich bester Gesundheit: „Heutzutage findet auf zahlreichen Festivals ein reger internationaler Austausch statt und Folkmusik ist sowohl in Produktion, Vertrieb als auch Konsum nicht mehr auf einzelne Staaten oder Regionen beschränkt“, weiß Wikipedia. Das lässt doch für die Linke hoffen! Allerdings: „Will sie weiterhin Motor gesellschaftlichen Fortschritts bleiben“, so Eva Illouz in der „Zeit“, „muss sie ihre Identität neu erfinden: im Kampf gegen die wachsenden Ungleichheiten der letzten Jahrzehnte, gegen die ungebändigte Macht der Tech-Giganten und die Aushöhlung des öffentlichen Diskurses, für eine Humanität, die auch den Gefahren der künstlichen Intelligenz standhält. Nur so lässt sich der Faden wieder aufnehmen, den die Linke einst spann: Fortschritt für alle.“
Und wenn sie eines Tages auch noch eine neue, attraktive, meinetwegen gern: ökosozialistische Zukunftsvision entwirft, in der statt der Diktatur des Proletariats, die in Wahrheit immer nur die Diktatur einer Partei und letztlich eines einzelnen Mannes war, eine gerechte Gesellschaftsordnung mit einem resilienten Geflecht von Checks and Balances entsteht – dann könnten wir wenigstens wieder davon träumen, dass es irgendwann so kommt, wie Louise Michel es damals beschrieb: „Heroische Zeiten brechen an; die Massen versammeln sich wie Bienenschwärme im Frühling; die Barden stehen auf und singen von den neuen Taten.“