Die amerikanische Herausforderung für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik …

… und eine Antwort des Bündnisses Sarah Wagenknecht oder Was ist das nationale Interesse Deutschlands?

Er ist noch nicht einmal offiziell zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gekürt, nicht zum Präsidenten der USA gewählt und noch nicht im Amt, aber allein sein Name und die Möglichkeit, dass er am Ende dieses Jahres auch sein Ziel erreicht und dann die zweite Präsidentschaft erreicht hat, versetzt den Rest der Welt in helle Aufregung. Jedenfalls in Deutschland.

Es geht mal wieder um Donald Trump und um den Artikel 5 des Nato-Vertrages. Von dem glauben viele, bei einem Angriff auf eines der Nato-Mitgliedstaaten träte der „Bündnisfall“ in der Form ein, dass „automatisch“ eine gemeinsame militärische Antwort erfolge. Einen solchen „Beistandsautomatismus“, den vor 75 Jahren die Europäer gerne gehabt hätten, gibt es aber nicht. Die USA lehnten das mit Rücksicht auf ihre Souveränität ab, sie wollten über die jeweilige Art der Reaktion selbst entscheiden. Die vertragschließenden Parteien vereinbarten im Falle eines Angriffs auf einen der Mitgliedstaaten, das als Angriff auf alle anzusehen. Daraus resultiert die „Musketierformel“: Einer für alle, alle für einen. Aber über die Art der Beistandsleistung entscheidet letztlich jeder Mitgliedstaat selbst. Das reicht von militärischer Beteiligung und Unterstützung bis zur Protestnote an einen Aggressor.

Als Donald Trump anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung in South Carolina seinen Fans erzählte, er habe einem „Präsidenten eines großen Landes“ auf die Frage, ob die USA dieses Land verteidigen werde, wenn es seinen Verteidigungsbeitrag nicht zahle, mit „Nein“ geantwortet und hinzugefügt, er würde Russland sogar ermutigen, zu tun, „was auch immer zur Hölle sie wollten“. Ob dieses Gespräch eine Erfindung ist oder nicht, ist egal. Wichtiger ist, warum erzählt er das seinem Fanclub? Trump geht es nicht primär um bezahlen oder nicht. Er hasst internationale Organisationen allgemein und Allianzen im Besonderen. Er trifft damit offensichtlich eine Grundstimmung in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung. Tenor: die Amerikaner wollen nicht mehr für andere zahlen und einstehen. Anerica first – auf allen Ebenen. Volle Handlungsfreiheit einerseits und Senkung der zu hohen Kosten für den Status einer Welthegemonialmacht, der keine hinreichenden Gewinne einfährt.

Nato-Generalsekretär Stoltenberg sah in Trumps Äußerungen das Ende der Allianz, denn sie ist ohne ein glaubhaftes Beistandsversprechen aller, aber insbesondere der USA ein zahnloser Tiger und schreckt niemanden mehr ab. Der Streit um die Militärhilfe der USA für die Ukraine ist noch im vollen Gange, da folgt die Steigerung mit der Drohung eines Rückzugs aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine. Er wird von den Republikanern zu einer Angelegenheit degradiert, die allein die Europäer betrifft. Die Relativierung des Beistandes durch Koppelung an den Verteidigungsbeitrag für Nato-Mitglieder ist nur ein weiteres populäres Element.


Deutsche Reaktionen auf Trumps Drohungen

Die transatlantische außen- und sicherheitspolitische Community von Siegmar Gabriel bis Norbert Röttgen, der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ und den Kommentatoren der überregionalen Presse verbanden das Entsetzen über Trumps Äußerungen sogleich als Warnung und fordern von Deutschland die zu erbringenden zwei Prozent des BIP als Verteidigungsbeitrag gemäß dem Nato-Beschluss aus dem Jahre 2014. Darüber hinaus herrscht wie in der Ampel-Regierung große Ratlosigkeit, was denn zu tun ist, wenn das nicht Unvorstellbare bald Wirklichkeit wird. Schon das naheliegende Debakel der weiteren Finanzierung des Krieges für die Ukraine stürzt die europäische Sicherheitspolitik in schier unlösbare Probleme. Selbst mit dem verlässlichen Partner Biden im Amt gibt es wegen der Veto-Position der Republikaner im Kongress keine gesicherte Unterstützung mehr. Was im Senat noch gerade durchgeht, scheitert im Repräsentantenhaus.

Unbestritten ist, dass die Europäer auf absehbare Zeit einen Ausfall amerikanischer Militärhilfe für die Ukraine unmöglich kompensieren können. Wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass der vermeintliche „Zauderer“ Deutschland nach den USA den Löwenanteil der Waffenlieferungen und sonstigen Hilfen für die Ukraine aufbringt. Die Unsicherheiten der weiteren Kriegsunterstützung trifft die Ukraine in einer extrem kritischen Situation des Kriegsverlaufs. Die erhoffte und von westlichen Militärexperten im Sommer in Aussicht gestellte „Gegenoffensive“ der Ukraine fiel aus. Sie galt als Basis eines Sieges, der die Rückeroberung der Krim einschloss oder zumindest als Erlangung einer Positionierung, von wo aus „auf Augenhöhe“ mit Russland hätte verhandelt werden können.

Nichts davon ist derzeit Stand der Dinge. Die Zeit der großen Gemeinsamkeit in der Ukraine ist nicht nur im Regierungsapparat keine Selbstverständlichkeit mehr. Unklar ist auch, wie lange das notleidende Volk an der Heimatfront diesen Dauerkriegszustand noch ohne innere Konflikte, die auch die Geflüchteten mit einbeziehen, noch durchhält.

Anders ist dagegen die Lage in Russland. Wenig deutet darauf hin, dass Putins Macht und Zustimmung durch den Krieg leidet, eher scheint er davon zu profitieren. Eine politisch relevante Opposition mit Aussicht auf Veränderung der Machtverhältnisse in Russland und damit auch eine Änderung zur Kriegsführung ist weit und breit nicht sichtbar. Putin wird wiedergewählt, während im Westen alles hofft, dass es Biden doch noch irgendwie schafft. Aber selbst dann, so glauben die transatlantischen Insider zu wissen, werden die Karten im westlichen Bündnis neu gemischt, u.z. zu Lasten der Europäer. Das betrifft einerseits die Kriegskosten der Ukraine und andererseits die Unterstützung der Amerikaner im Konflikt mit China. Der würde unter Trump möglicherweise schneller und intensiver ins Rampenlicht der Weltauseinandersetzung gerückt, wobei die Frage nach Trumps Erwartungen bezüglich der Europäer noch nicht absehbar sind. Bei Biden sind die Erwartungen deutlicher und für die Europäer im Verbund mit der Ukraine eine zusätzliche Herausforderung.


Eine neue Definition deutscher Interessen

Vor diesem Hintergrund dieser Weltkonstellation ist es nicht verwunderlich, dass es neben dem momentan ziemlich ratlosen transatlantischen Mainstream neue außenpolitische Ansätze gibt. Eine Variante servierte auf seinem Europaparteitag das neu gegründete „Bündnis Sarah Wagenknecht“ (BSW). Die neue große Dame der deutschen Politik hat eine erstaunliche Definition der Interessen Deutschlands in der aktuellen Krisensituation vorgenommen. Wagenknecht hielt zwar keine außen- und sicherheitspolitische Grundsatzrede, aber ihre Forderungen nach sofortiger Einstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine und die Beendigung des Öl- und Gasembargos gegen Russland reichten in der Presse zwar für die üblichen Verurteilungen wie „naiver Pazifismus“ und Hilfe für Putin, ansonsten schenkte man ihnen aber keine größere Beachtung.

Eine Ausnahme fand sich in der Frankfurter Rundschau vom 3./ 4. Februar 2024, wo aus der Feder von Wolfgang Streeck, einem prominenten Mitunterzeichner des von Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten Manifest für den Frieden, Wagenknechts außenpolitisches Programm in einem umfassenderen Kontext unter dem Titel Nibelungentreue und ihre Gefahren dargestellt wird.

Wolfgang Streeck war bis 2014 Direktor des renommierten „Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung“ in Köln. Er ist als emeritierter Professor immer noch aktives Mitglied mehrerer Universitäten und Forschungseinrichtungen. Furore machte er vor zehn Jahren mit seinem vielbeachteten Buch Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Er erhielt für diese brillante Analyse der seit den 1970er Jahren währenden Dauerkrise des westlichen Kapitalismus den Preis der Leipziger Buchmesse. Das Werk wurde breit diskutiert und wegen der Analyse überwiegend hoch gelobt, Streit entfachte seine euroskeptische Kritik, die als Abkehr von der EU interpretiert wurden.

Nun übernahm es Streeck in dem oben genannten Beitrag das außenpolitische Konzept des „Bündnis Sarah Wagenknecht“ zu begründen. Da davon auszugehen ist, dass diese Argumentationslinie nicht ohne Bedeutung für die künftigen Diskurse sein wird, drängt sich eine Auseinandersetzung auch deshalb geradezu auf, weil angesichts der anstehenden weitreichenden politischen Entscheidungen davon auszugehen ist, dass der kommende Bundestagswahlkampf stark von außenpolitischen Fragen bestimmt wird.

Streeck hält eine umfassende Debatte über „das nationale Interesse Deutschlands unter den Bedingungen des Zusammenbruchs der US-beherrschten Neuen Weltordnung nach 1990, der sich die etablierten Parteien hartnäckig verweigerten“ und die Wagenknecht nun angestoßen habe, für dringend erforderlich.

Für Streeck hat diese Verweigerung Tradition. Mit Ausnahme der Ära Brandt habe die BRD in einem unhinterfragten gemeinsamen Interesse mit der westlichen Führungsmacht USA gestanden, wo es jenseits des Westens für eigene nationale Interessen keinen Platz geben konnte und durfte. Wer davon abwich, das war für Streeck neben Willy Brandt und Egon Bahr auch Hans-Dietrich Genscher, geriet sogleich unter Nationalismusverdacht und als unsicherer Kantonist im Bündnis. Diese „Nibelungentreue“ bedarf aber angesichts der katastrophalen Fehlleistungen der amerikanischen „Weltbeherrschungspolitik“ insbesondere nach der Wende 1990 einer dringenden Überprüfung und angesichts der drohenden zweiten Präsidentschaft Trumps einer grundlegenden Revision.

Im Falle der Ukraine sei von den USA eine Wiederholung Afghanistans zu erwarten. Mit viel Aufwand rein, wenn’s nicht so läuft wie geplant, nichts wie raus. Für Streeck ist die Niederlage in der Ukraine vorprogrammiert, die propagierten maximalistischen Kriegsziele sind militärisch unrealistisch, der Verschleiß an Menschen und Material ungeheuerlich und das alles für ein innerlich tief gespaltenes und korruptes Land. Zweifel am Sinn der Waffenlieferungen seien zwingend und werden sich mehren.

Grundlegende Unterschiede prägen die Sicherheitslagen und Sicherheitsinteressen der Amerikaner von den Europäern. Ihr Halbkontinent mit „nur zwei Nachbarstaaten, beide in ihrer Tasche, macht sie unbesiegbar.“ Das erkläre auch die „Leichtfertigkeit“ mit der die USA ihre globale „Unsicherheitspolitik“ betreibe, die nun parteiübergreifend nach China ausgreife. Der Unterschied sei nur, dass Biden glaube, dazu die Europäer zu gebrauchen, während das bei Trump nicht so sicher sei. Aber egal wer regiere, der Rückzug der USA aus Europa sei unaufhaltsam und die Frage sei eigentlich, ob das nicht auch Chancen biete.

Gegenwärtig lasse sich die Ampel-Koalition, vorangetrieben von den Grünen und der FDP, von der Biden-Administration vermittelt durch den Ukrainekrieg in eine europäische Führungsrolle drängen. Dabei werde erstmals Frankreich übergangen, um eine neue transatlantische Arbeitsteilung zu installieren. Deutschland werde der US-Stellvertreter in Europa mit Übernahme der ukrainisch-amerikanischen Kriegsziele, während sich die USA verstärkt dem indo-pazifischen Raum für die Auseinandersetzung mit China widme.

Streeck listet die bisherigen Kosten des Ukrainekrieges für Deutschland auf. Seit Kriegsbeginn 2022 sind es 28 Mrd. Euro, allein der Aufwand für die Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine betrug 17 Milliarden. Für dieses Jahr verdoppelt sich die direkte Militärhilfe schon jetzt auf 8 Mrd. Euro, wobei noch weitere 12 Mrd. drohen falls die amerikanischen Hilfslieferungen ausfallen sollten. Wie das alles angesichts der „Schuldenbremse“ ohne scherwiegende gesellschaftliche Zerwürfnisse finanziert und politisch durchgehalten werden soll, ist in der Tat mehr als schleierhaft. Die Folgen des Krieges ruinieren die Gesellschaften und die politischen Institutionen der europäischen Staaten. Aber dass Putin auf solche Kollateralschäden spekulieren könnte, ist Streecks Analyse fremd.

Er sieht für Deutschland in der Übernahme einer „Führungsrolle im Krieg“ ein potenzielles „Himmelfahrtskommando“. Zusätzlich zu der immer drohenden Selbstgefährdung durch eine Eskalation der Gewaltspirale läuft Deutschland Gefahr, bei ausbleibenden Erfolgen zum „Sündenbock“ zu werden. Wagenknechts Forderung nach sofortigem Waffenlieferungsstopp würde durch strikte Ablehnung der Kriegsverlängerung solchen Zumutungen und Unterstellungen entgegenwirken. Streeck vergisst anzumerken, dass sie damit aber auch erst recht forciert würden.

Neben dem Stopp der Waffenlieferungen bietet Wagenknecht eine Wiederaufnahme der Öl- und Gaslieferungen aus Russland an. Streeck ist allerdings unsicher, ob Russland daran noch interessiert ist, nachdem der westliche Versuch, Russland als „Staat und Industriegesellschaft auszulöschen“, gescheitert ist. Ebenso fraglich ist, ob es eine Chance zur Rückkehr zum Minsker Abkommen oder zu dem Verhandlungsstand von Istanbul im März 2022 gibt. Hier bedient Streeck die Deutung, Boris Johnson habe die einigungsbereite ukrainischen Regierung im letzten Moment davon abgehalten und ihr die Chance eines totalen Erfolges durch westliche Sanktionen in ein paar Monaten suggeriert.

Streeck schließt auch nicht aus, dass sich Russland erfolgreich auf einen langwährenden Krieg ohne allzu große Risiken für das eigene Regime einstellt. Das generelle Misstrauen gegen den Westen, genährt durch Bidens „regime change“ und Baerbocks Drohung, Putin vors Haager Tribunal zu bringen, sei so wenig vertrauensbildend wie Merkels Auskunft, man habe Minsk nur gemacht, um Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen.

Das alles sind nicht wenige Imponderabilien, denen sich anvisierte – ja was eigentlich? – Friedensverhandlungen (?) ausgesetzt sehen. Das Einzige, was in dem Analysepaket und Handlungsentwurf wirklich feststeht, ist das deutsche Interesse. Wer da große Worte der Umschreibungen von Frieden etc. erwartet, der ist im falschen Zug. Der Bundesverband der Deutschen Industrie oder andere ökonomische Interessenverbände hätten das nicht hinbekommen, was hier als das deutsche Interesse definiert wird: „Wagenknechts
Forderung nach Rückkehr zu russischen Energielieferungen entspricht dem deutschen Interesse an einer gesicherten Energieversorgung, auch zur Erhaltung der deutschen industriellen Basis.“ Und hier werden zugleich entgegengesetzt die amerikanischen Interessen angeführt, ersatzweise den Part Russlands für Deutschlands Energieversorgung übernehmen zu wollen. Da habe Wagenknecht alternativ für Russland noch das Angebot, als „Anreiz für das Ende des Ukraine-Krieges eine eurasische Staaten- und Wirtschaftsgemeinschaft“ nach Art des „Gemeinsamen Hauses Europa“ von Gorbatschow zu entwickeln. Damit würde nicht nur die unheilvolle Teilung des europäischen Kontinents durch den Ausschluss Russlands überwunden, sondern durch die Einbindung Asiens eine Linie von Lissabon bis Wladiwostock gezogen.

Dieses große Friedensprojekt ist die Alternative zur gegenwärtigen Teilung, die Russland nach Asien abschiebt und einen für alle ruinösen Rüstungswettlauf auslöse. Es wäre der Weg der Friedenssicherung statt der Befähigung zur „Kriegstüchtigkeit“ des Bundesverteidigungsministers. Aber entscheidend dafür sei zu allererst die Befreiung aus dem „geostrategischen Klammergriff der Vereinigten Staaten“ und von der „Nibelungentreue gegenüber dem weltpolitischen Herrschaftsanspruch der USA“, das dem „nationalen deutschen Überlebensinteresse“ zuwiderlaufe. „Genau darauf läuft die Rede von Wagenknecht hinaus.“ Womit er offensichtlich richtig liegt.


Was ist nun Deutschlands Interesse?

Was hier als Analyse aufgefahren wird, ist eine selektive Mischung aus Fakten und daraus folgenden Diagnosen, die in der Tat der Diskussion bedürfen, aber erstaunliche blinde Flecken aufweisen, die zu Schlüssen führen, die mit ihrem Ökonomismus sprachlos machen. An wen richtet sich ein nationales Interesse, das die billige und gesicherte Energieversorgung zum Kern der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik macht? Zielt das BSW hier auf die „hart arbeitende Industriearbeiterschaft“ und den Mittelstand, ist das eine Bedienung eines Wohlstandschauvinismus, der in der Beseitigung ökologischer Themen incl. des Klimawandels seine Ergänzung findet? Abgesehen davon, ob man mit solchem Themenangeboten die gewünschten Wahleffekte erreicht, zeugt eine solche politische Strategie von einer äußerst bedenklichen Kurzsichtigkeit der Problemanalyse und Verantwortungslosigkeit des Handelns.

Es ist an Streecks Analyse zwar richtig, dass er das Problem USA als Anker der westlichen Sicherheitsdoktrin zum Thema macht. Die USA befinden sich als angeschlagene Welthegemonialmacht in einer tiefen Identitätskrise, wofür Trump und der Zustand der Republikanischen Partei nur ein deutlicher Ausdruck sind. Eine neue Positionsbestimmung der USA in der Welt und damit auch eine Neubestimmung dessen, was „der Westen“ künftig sein soll und noch sein kann, wird auch die Demokratische Partei mit höherer Intensität ereilen. Und damit auch Europa und Deutschland.

Erstaunlich ist allerdings, dass Streeck und das BSW nicht an der schon im Fluss befindlichen Debatte über eine neue Weltordnung ansetzen und in diesem Kontext die Frage erörtern, was darin die „nationalen Interessen Deutschlands“ wären, sondern diese industriepolitisch setzen, zum Allgemeinwohl deklarieren und zum Dreh- und Angelpunkt einer Entscheidung machen, die der Dimension, die eine solche Entscheidung nach sich zieht, in keiner Weise gerecht wird. Billige Energie ist von solch entwaffnender Schlichtheit, dass es sprachlos macht.

Es ist nüchtern betrachtet schon ein Ding aus dem Tollhaus, wie hier politische Ereignisse wie Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine komplett ignoriert werden. Streeck tut so, als ob es Putins Russland gar nicht gäbe. Zu den großen Veränderungen der weltpolitischen Konstellation nach der Wende 1990 und zu den sicherlich verpassten Gelegenheiten gehören nicht nur die Fehlleistungen amerikanischer Weltmachtphantasien, dazu gehört auch ein Wandel in Russland, der nicht nur eine Folge amerikanischer Politik ist, sondern selbst zur Ursache von Konflikten und vor allem auch Kriegen wurde, wovon der Krieg gegen die Ukraine nur einer ist. Streeck erweckt den Eindruck, als könne man mit Russland da weiter machen, wo man mit Gorbatschow nicht einmal angefangen hat. Dass Putins Russland in dem Text als eigenes politisches Gebilde mit seinen expansiven Sicherheitsinteressen, die sich um Völkerrecht so wenig kümmern wie die gescholtenen Amerikaner, das alles spielt in Streecks „Analyse“ keine Rolle, es wird nicht einmal erwähnt.

Eine eurasische Wirtschaftsunion Russland als Alternative zur „Teilung Europas“ heute anzubieten, das ist nicht einmal naiv. Es zeigt exemplarisch eine gefährliche Blindheit gegenüber einem Russland, das nicht mehr das Russland Gorbatschows ist, es eigentlich auch nie gewesen ist. Selbst wenn es die Schuld des Westens sein sollte, dass es nun das ist, was es unter Putin geworden ist, hieße das für eine den Realitäten angemessene Politik, dass man diese Entwicklungen nicht dadurch aus der Welt schafft, indem man sie ignoriert oder sagt, wir haben es so nicht gewollt, also zurück auf Start.

Streeck und BSW wollen eigentlich zu einer Politik zurück, die da lautete „Wandel durch Handel“. Unabhängig der Frage, ob diese Politik von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, wie die Kritiker, insbesondere die Grünen, heute dominant vertreten, bedarf es keines übermäßigen Realismus, um zu erkennen, dass es zu dieser Politik gerade mit Putin kein Zurück gibt. Und hier beginnt eine unverantwortliche Naivität, die auch dadurch nicht aufgehoben wird, dass Streeck immerhin in Frage stellt, ob Putins Russland für eine Wiederauflage des „Wandels durch Handel“ noch zu haben ist.

Um eine solche Frage zu stellen, muss allerdings all das, was uns der Krieg gegen die Ukraine über dieses Russland leider gelehrt hat, komplett ausgeblendet werden. Dass das schon rein analytisch kaum erklärbar ist, lässt sich zwar politisch ignorieren, führt aber zu einer Außen- und Sicherheitspolitik, die sich nicht nur als Gegenpol zur werteorientierten Außenpolitik der Grünen als ökonomisch inspirierter Pseudorealismus profiliert. Das entscheidende Manko ist zum einen, dass sie an einer Strategie anknüpft, die in einer Sackgasse endete und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass man mit dem gleichen Ansatz da wieder herauskommt.

Statt die Herausforderungen für eine künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im europäischen und Weltkontext zu diskutieren, kopiert man fatalerweise eigentlich Trump wie die AfD, die das mit „Deutschland zuerst“ direkt macht. Dafür ist Sarah Wagenknechts Botschaft griffiger: Wir wollen billige Energie, egal wie!

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