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Die Mitte als Mythos und Problem – Teil 3

Die Mitte als Mythos und Problem – Teil 3
(Teil 1  Teil 2)
Schelskys Ideologie der BRD als „nivellierte Mittelstandgesellschaft“ und die Notwendigkeit der sozialen Ungleichheit

Mit der Entstehung und Gründung der BRD änderten sich die sozialen Verhältnisse gegenüber dem Dritten Reich – anders als in dem Konkurrenzunternehmen DDR – keinesfalls. Kritischen Beobachtern galt das als Indiz für den „restaurativen Charakter“ der Nachkriegsära. Der „linkskatholische“ Publizist Walter Dirks brachte das im Jahre 1950 in einem Aufsatz in den von ihm mit herausgegebenen Frankfurter Heften unter dem Titel Der restaurative Charakter der Epoche auf den Begriff.

An der Verbreitung des Wortes „Wiederaufbau“ verriet sich die Zeit selbst. Nichts Neues wurde nach den dramatischen Erfahrungen geschaffen, keine substanziellen Lehren wurden aus dem Ungeheuerlichen der noch nicht vergangenen Vergangenheit gezogen. Der wiedergewonnene Frieden wurde für einen Neubeginn verspielt, die Rückkehr zum Alten und Gewohnten suggerierte eine gefährliche Geborgenheit. Eine Welt, die sich selbst zerstört hatte, wieder aufzubauen, verhieß nichts Gutes. Sie folge nicht einmal einem Willen, denn Restauration bezeichnet nach Dirks etwas anderes als „Reaktion“, nämlich ein „Trägheitsgesetz“, das sich ohne handelndes Subjekt Geltung verschafft, weil es auf bewusste Gestaltung verzichtet. „Ordnung“ wird zum beruhigenden Zauberwort gegen alles, was nach Veränderung aussieht und dem Makel des Revolutionären erhält. Darin lag die Illusion von der „Stunde null“. Es war nichts mit „Neu beginnen“.

Die westlichen Siegermächte waren nach Walter Dirks an diesem Prozess nicht unbeteiligt, insbesondere beim „Wiederaufbau“ der Wirtschaft mitsamt ihren alten Strukturen und den die Gesellschaft dominierenden Eigentums- und Besitzverhältnissen. Und da sich die sozialen Verhältnisse im Dritten Reich nicht wesentlich von denen der Weimarer Republik unterschieden, außer dass die bestehenden Herrschaftsverhältnisse andere Namen erhielten wie die „Volksgemeinschaft“, der Begriff „Gesellschaft“ insgesamt aus dem Verkehr gezogen wurde und durch den „organischen“ Begriff des „Volkes“ ersetzt wurde und „Führer und Gefolgschaft“ zum Ersatz für „Herrschaft“ wurden, ist es umso aufschlussreicher, wie die von den Nazis geerbte westdeutsche Sozialstruktur erneut in eine neue Semantik gekleidet wurde und ihre alte Klassenspaltung abgestreifte.

Wenn wir hier Helmut Schelskys These von der „nivellierten Mittelstandgesellschaft ins Zentrum der Selbstbeschreibung der BRD stellen, dann entspricht das dem herrschenden Selbstverständnis der Bundesrepublik. Dabei war Schelsky keineswegs der Einzige, der den Klassenbegriff eskamotierte. Sein soziologischer Kollege Theodor Geiger, der ihn – wie im vorherigen Teil erwähnt – am Ende der Weimarer Republik noch für unverzichtbar hielt, schickte ihn 1949 im Verbund mit seiner Generalkritik am Marxismus in Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel in die Versenkung. Geigers Pamphlet hatte aber nicht annähernd die Wirkungsmacht wie Schelskys Mittelstandslegende, die sich bis in die siebziger Jahre hinein als eine immer noch dominante Selbstbeschreibung der Bonner Republik halten konnte. (Münkler 2012, 215 f.)


Schelskys nivellierte Mittelstandsgesellschaft als Gesellschaftsideologie der BRD

Helmut Schelsky war einer der einflussreichsten Nachkriegssoziologen in Westdeutschland. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre diagnostizierte er die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ als die neue Sozialstruktur in Westdeutschland (Schelsky 1953, 327). Sie enthielt eine einzigartige Steigerung, denn für Schelsky war nicht nur der Klassen-, sondern auch der Schichtungsbegriff ein untaugliches Instrument zur Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft geworden. Zwar hatte sich – wie schon erwähnt – an der Sozialstruktur Westdeutschlands gegenüber der Weimarer Republik grundlegend nichts verändert, aber Schelsky glaubte nun, der Aufstieg eines neuen Mittelstandes (eigentlich müsste es soziologisch korrekt Mittelschicht heißen) in Gestalt der technischen und Verwaltungsangestellten und die zeitgleichen Abstiege des alten Besitz- und Bildungsbürgertums durch die Vertreibung und Flucht habe zum Abbau der alten Klassenschranken und zu einer „sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht geführt, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet ist.“ (Schelsky 1953, 327)

Forciert durch sozialpolitische Maßnahmen würden die Nivellierungsprozesse zur kulturellen Vereinheitlichung der Lebensformen führen und fänden in einer „Verkleinbürgerlichung“ ihren lebensweltlichen Ausdruck. Als falsch erweise sich somit die Annahme aus den zwanziger Jahren, der Mittelstand werde zwischen den beiden Hauptklassen zerrieben. Vielmehr entwickle er sich zum Schwerpunkt der Gesellschaft mit einem sozialen und kulturellen Magneteffekt, der durch moderne Tendenzen wie Massenkonsum und Massenkultur, die nun als wichtiger erscheinen als die Produktionsverhältnisse, noch verstärkt würde. Schelsky registriert speziell für Deutschland eine hohe soziale Mobilität, denn die Leitern der Auf- und Abstiege würden immer kürzer. (Schelsky 1956, 343)

Soziale Harmonie folge daraus aber nicht, denn die Klassenkämpfe würden nun von einem Konkurrenzkampf eines immer „Mehr-haben-wollens“ für ein immer „Mehr-sein-wollens“ überlagert. Spannungen entstünden nicht mehr aus Klassengegnern, trotz des vor allem bei Industriearbeitern von Popitz u.a. diagnostizierten dichotomischen Gesellschaftsbild von „denen da oben“ und „wir da unten“. (Popitz u.a. 1957) Darin drücke sich die Anonymität, die Bürokratisierung eines unpersönlich gewordenen Systems mit abstrakter, nicht mehr fassbarer Form von Herrschaft aus, die höchstens noch in der Gestalt organisierter Interessen als ein „wir gegen die anderen“ aufflackere. Verbindend wirke dagegen ein allgemein steigendes Sicherheitsbedürfnis, vor allem die Absicherung des erworbenen Lebensstandards. Dass die fünfziger Jahre aber real auch von zahlreichen Arbeitskämpfen und Massenstreiks zu berichten wissen, wird von Schelsky auch später nicht als Einwand akzeptiert.

Widerspruch erntete Schelskys Zeitdiagnose Mitte der sechziger Jahre, als Ralf Dahrendorf, der aufsteigende Komet am Soziologenhimmel, sie als eine „Ideologie der Zementierung sozialen Herrschaftsverhältnisse“ entlarvte. (Dahrendorf 1965, 146 ff.) Mit Verweis auf die Einkommensdifferenzen und die von Schelsky unterstellte soziale Mobilität fragte Dahrendorf, von welcher Gesellschaft eigentlich die Rede sei, wenn nur jedes zehnte Arbeiterkind einen sozialen Aufstieg erlebe. Er charakterisierte Schelskys vermeintliche Mittelstandsgesellschaft als die typische Ideologie einer Klasse, die mit Entrüstung leugnet eine Klasse zu sein und zugleich einen erbitterten Klassenkampf gegen die Wirklichkeit und Idee des Klassenkampfes führe.

Um Dahrendorf nicht in falsche Gewässer zu führen, sei daran erinnert, dass er nicht nur als politisch Liberaler, sondern auch als Soziologe zwar ein Anhänger einer Konflikttheorie war, die Konflikte als Motoren des Fortschritts und somit keinesfalls ein Übel ansahen, sondern als normale Begleiterscheinung des sozialen Wandels, aber er redete damit keiner an Marx erinnernden Revitalisierung einer Klassenkampftheorie das Wort. Er glaubte lediglich, dass der Liberalismus dauerhaft mit seinem Leistungsversprechen als Primärgrund für soziale Ungleichheit unhaltbar sei, wenn nicht zuvor Chancengleichheit für alle hergestellt werde und das sei die Aufgabe einer die überkommenen Privilegien überwindenden Reform des gesamten (westdeutschen) Bildungssystems. Und hier erwarb er sich mit seinem öffentlichen Feldzug für das „Bürgerrecht auf Bildung“ große Verdienste und leistete wertvolle Aufklärungsarbeit für die dann in der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt erfolgten Bildungsreformen.

Allen sachlichen Einwänden zum Trotz hielt sich Schelskys Mythos westdeutscher Selbstbeschreibung hartnäckiger als es die Empirie erlaubte. Und zwar deshalb, weil dieses Selbstbild, wie Hans Hermann Hartwich (1978, 55) treffend feststellte, jenem Ideal „einer formierten Gesellschaft“ des „CDU-Staates“ entsprach, das noch in den siebziger Jahren in den überwiegend konservativen Köpfen dominant blieb: Die Überwindung der Klassen durch die „soziale Marktwirtschaft“, das erfüllte Versprechen eines „Wohlstands für alle“, der alle in die soziale Mitte drängen lässt und jene, denen das denn doch nicht gelungen ist, der fürsorgerischen Einzelfallhilfe übergibt. Diesem Selbstverständnis stand Schelskys Zeitdiagnose als Norm, die als Fakt ausgeben wurde, Pate.

Mit der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ bekam die Mitte der Gesellschaft einen solchen Bauch, dass die Gesellschaft eigentlich nur noch aus der Mitte bestand. Das im Anschluss daran empirisch gestützte Schichtenmodell einer Zwiebel (Bolte 1967) veranschaulichte diese Verabsolutierung der Mitte. Nur ganz oben und ganz unten fanden sich schwache Ausläufer der breiten und alles dominierenden Mitte. Grund dafür war aber, dass in dem Schichtenmodell nicht allein „soziale Fakten“ wie Einkommen, Beruf, Bildung etc. entscheidend für die Zurechnung waren, sondern die subjektive Selbstzuordnung und hier zeigte sich der anhaltende Drang in die Mitte und das hieß, dazu zu gehören.

Aber was war eine Mitte ohne Ränder oder Flügel? Die Ermittlung der subjektiven Einstellungen zu dieser Mitte brachte eine Grundstruktur der Nachkriegsgesellschaft auf den Punkt, die erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre deutlicher wurde, als sie ihre Sinnkrise erlebte. Was diese Gesellschaft auszeichnete, war ein rigoroser Konformismus, ein Zwang zur Anpassung an etwas, was man tut oder nicht tut. Nur nicht auffallen, das war die Devise verbunden mit Sicherheit und Stabilität. Schelsky hatte mit gutem Gespür für solche Mentalitäten in seiner Untersuchung über die Nachkriegsjugend festgestellt, dass sich hier eine „skeptische Generation“ entwickelt habe, deren Markenzeichen die Abstinenz gegenüber Ideologien oder andere große Versprechungen war. (Schelsky 1957)

Aber die sich hier entfaltende Flucht in das private Glück, getragen und begünstigt vom „Wirtschaftswunder“, wo persönliche Wohlstandsmehrung primäres Lebensziel wurde, erhielt in den sechziger Jahren ihren für diese Generation unbegreiflichen Dämpfer durch den Einfall einer neuen Jugendkohorte, die mit zunehmender Radikalisierung dieser Lebenseinstellung mit dem Schimpfwort „Konsumidiotismus“ eine Absage erteilte und den Kampf ansagte.

Schelsky, der sich mit Aufkommen der auch gegen ihn gerichteten und von Marx infizierten kritischen Soziologie zum „Antisoziologen“ stilisierte, wurde in den siebziger Jahren zum engagierten Widersacher aller Reformbestrebungen und Systemkritiken. Neben seiner „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ hatte er eine zweite, vielleicht noch einflussreichere Zeitdiagnose im Gepäck.

Sie kreierte einen neuen „technokratischen Konservativismus“. Die von Wissenschaft und Technik dominierten modernen Industriegesellschaften unterliegen einer Herrschaft von „Sachzwängen“. An die Stelle des „politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit“ (Schelsky 1961, 465). Alle artikulierten Demokratisierungs- und Emanzipationshoffnungen auf eine bewusste (demokratische) Gestaltung der Gesellschaft verlieren zwar nicht ihren Schrecken für die Herrschenden, aber alle Realisierungschancen entpuppen sich zum Schaden des Fortschritts als weltfremde Illusionen (Schelsky 1961, 472). Schließlich wird für Schelsky selbst die (technokratische) „Planungseuphorie“ zur modernen „Heilsgläubigkeit und Heilslehre“ (Schelsky 1975, 374). In dem von Systemveränderern angedrohten „langen Marsch durch die Institutionen“ erkennt er das Werk von „Heils- und Sinnvermittler“, deren strategischen Ziele die Eroberung der Institutionen der Sozialisation und die Zitadellen der Sinnstiftung sind. Zu ihren Herrschaftstechniken gehöre die permanente Erfindung neuer angeblich benachteiligter Randgruppen, die dann im Namen der sozialen Gerechtigkeit von einer neuen Klasse der Betreuer auf Kosten der Allgemeinheit in einem sich immer weiter aufblähenden Sozialstaat in Obhut genommen und als „betreute Menschen“ ihrer Selbständigkeit beraubt würden. (Schelsky 1975, 371)


Das Ende des Kapitalismus als Begriff

Ergänzung fanden Schelskys Thesen von der „Mittelstandsgesellschaft“ in der parallellaufenden Liquidierung des Begriffs Kapitalismus als Beschreibung der westlichen Gesellschaftsordnungen. Im Verbund mit der Bezeichnung als freie oder soziale Marktwirtschaften bürgerten die Soziologie und Ökonomie die Bezeichnung der „modernen Industriegesellschaft“ ein. In ihrer prominentesten Form erfolgten das, nicht einmal unkritisch, durch Galbraith 1967 und Aron 1964.

Die Eskamotierung des Klassenbegriffs aus der Gesellschaftsanalyse fand nicht nur im Nachkriegsdeutschland seine Ergänzung durch die Beseitigung des Begriffs Kapitalismus.  Wer mit solchen Begriffen wie Kapitalismus und Klassen hantierte, machte sich verdächtig, zur falschen Seite zu gehören. Korrekt war, dass man in einer „modernen Industriegesellschaft“ lebe, die primär bestimmt werde durch ihre „Technostruktur“. Teile dieses Konstrukts hatte Schelsky mit der oben beschriebenen These von der Hinfälligkeit der Ideologie schon vorweggenommen, denn die „moderne Industriegesellschaft“ habe den Vorteil strenger Sachlichkeit und legitimiere sich durch jene „Sachzwänge“, die unabhängig von Personen das Handeln bestimmen. Die Akzeptanz dieses „anonymen“ Ungetüms, das einer großen Maschine gleichend Max Weber in die nahezu poetisch klingenden Begriffe einen „stählernen Gehäuses der Hörigkeit“ gekleidet hatte, war die neue Sachlichkeit.

Dass es aber dabei zu keiner „Gleichmacherei“ kommen dürfe, die als gefährliche Hemmung des ökonomischen Fortschritts angesehen wurde, erhielt in wissenschaftlicher Form ihre Weihe durch eine zunächst in den USA entwickelte Theorie über die Notwendigkeit sozialer Ungleichheit, die als „funktionalistische Theorie der sozialen Schichtung“ Karriere machte. Sie war an Legitimationskraft für das Bestehen sozialer Ungleichheiten auch in der „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ dieser eigentlich weit überlegen. Sie bedarf auch deshalb – und wegen ihrer ideologischen Bedeutung – einer kurzen Skizze.


Die funktionalistische Theorie der sozialen Schichtung oder die Notwendigkeit sozialer Ungleichheit

Die funktionalistische Schichtungstheorie, die von den amerikanischen Soziologen Kingsley Davis und Wilbert E. Moore in 1940er Jahren ausgearbeitet wurde, basiert auf dem strukturfunktionalistischen Ansatz von Talcott Parsons, dem bedeutendsten amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts. Der lässt in sich in aller Kürze so umschreiben: Systeme bestehen ganz allgemein aus Elementen, deren wechselseitigen Kontakte als Prozesse beschrieben werden und jedes System verfügt für seine Stabilität über eine Struktur, die wiederum den Rahmen für die Prozesse setzt. Der Funktionalismus fragt nun danach, welche Leistungen müssen sich herausbildende Teile eines Systems erfüllen, damit das System als Ganzes funktioniert und erhalten bleibt. Die zentrale Frage ist also, was müssen die prozessierenden Elemente für die dauerhafte Stabilität des Systems für Leistungen erbringen, wozu letztlich auch die handelnden Individuen gehören.

Dieses allgemeine Modell eines Systems, die „General Theory of System“ stammt ursprünglich aus der Biologie. Talcott Parsons hat diese allgemeine Systemtheorie für eine „Theorie sozialer Systeme“ als Bezug genommen. (Parsons 1951) Gesellschaften lassen sich demnach als soziale Systeme beschreiben und analysieren. Die Elemente sind soziale Akteure, die als Handelnde miteinander kommunizieren. Jedes System verfügt über eine bestimmte Ordnung, eine Struktur, die den Handlungen und dem System eine Stabilität verleiht. Zugleich ist die Struktur des Systems die Basis seiner Stabilität, und die hängt davon ab, ob die Teile des Systems die für den Bestand des Ganzen erforderlichen funktionalen Leistungen erbringen.

Da hier der Bestand und Erhalt der Struktur eines sozialen Systems als Bezugspunkt für die funktionalen Leistungen der Systemteile, seien es die handelnden Akteure oder ausdifferenzierte Teile des Systems, als funktionaler Bezugspunkt vorausgesetzt werden, ist dieser Ansatz zu Recht als „strukturkonservativ“ eingestuft worden, da er allein nach den Leistungen sucht, die die bestehende Struktur absichern. Ralf Dahrendorf hielt deshalb Parsons und seinen Schülern vor, damit sei die Theorie blind für sozialen Wandel und Konflikte, denn sie würden nur als Störungen eines erstrebenswerten und zu wahrenden „Gleichgewichts“ wahrgenommen. Die Stabilität des Systems als Bezugspunkt einer Gesellschaftstheorie läuft somit Gefahr, Strukturen festzuschreiben, die der Dynamik, des stetigen Wandels moderner Gesellschaften nicht gewachsen sind. (Dahrendorf 1961)

Jenseits dieser Fundamentalkritik an Parsons Ansatz konzentrieren wir uns hier auf jene Theorie der sozialen Schichtung, die sich einer „funktionalistischen“ Begründung sozialer Ungleichheit widmet, die zwar innerhalb der Parsonsschen Ansatzes entstanden ist (Parsons 1940), aber sich darüber hinaus zu einer allgemeinen und umfassenden Schichtungstheorie entwickelte. Das leisteten Kingsley Davis und Wilbert E. Moore in einem bahnbrechenden Aufsatz.


Die funktionale Notwendigkeit sozialer Schichtung

Ihr Ausgangspunkt ist die These, „daß keine Gesellschaft ‚klassenlos‘ oder ungeschichtet ist“. (Davis & Moore 1945: 347) Was hier zunächst als vermeintliches Faktum registriert wird, wird zu der Erklärung, dass soziale Ungleichheit eine unabdingbare universale Notwendigkeit für das Funktionieren jeder Gesellschaft ist. (ebd.) Denn jede Gesellschaft stehe vor dem Problem, dass bestimmte gesellschaftliche Positionen besetzt werden müssen. Zugleich sind einige Positionen für eine Gesellschaft funktional wichtiger als andere. Mithin stellt sich für jede Gesellschaft die Herausforderung, dass ihre Mitglieder dazu motiviert werden müssen, die erforderlichen funktionalen Leistungen für die Besetzung der Positionen zu erbringen. Und diese Motivationen setzen wiederum die Fähigkeit, die Qualifikation für die Positionsbesetzung voraus und den Willen und die Bereitschaft die gewünschten Pflichten zu erfüllen.

Die universellen Systemanforderungen wären nur dann nicht erforderlich, wenn die „mit verschiedenen Positionen verbundenen Pflichten gleichermaßen angenehm für den menschlichen Organismus, gleichermaßen wichtig für den Fortbestand der Gesellschaft und auf die gleichen Fähigkeiten oder Talente angewiesen“ wären. Denn dann wäre es „gleichgültig, wer welche Position einnimmt.“ (Davis & Moore 1945: 348) Das aber sei in einer arbeitsteiligen  Gesellschaft genau nicht der Fall. Weder sei es egal, wer welche Position erhält, zum einen, weil sie unterschiedlich angenehm sind, zum anderen aber, weil sie verschiedene Qualifikationsanforderungen stellen, die nicht unabhängig von Talent und Begabung erfüllt werden können. (ebd.)

Hier greift nun eine weitere fundamentale Annahme. Jede Gesellschaft verfügt nur über eine beschränkte Anzahl von Individuen, deren Begabung die von der Gesellschaft erforderten Anforderungen der Positionen erfüllen. „So erweist es sich als unumgänglich, daß eine Gesellschaft erstens eine Art von Belohnung haben muß, die sie als Anreiz verwenden kann, zweitens einen Modus braucht, um die Belohnungen unterschiedlich nach Positionen zu verteilen. Belohnungen und ihre Verteilung werden Bestandteil der sozialen Ordnung und verursachen so eine Schichtung.“ (Davis & Moore 1945: 348)

Hier liegt die Crux der funktionalen Schichtungstheorie. Soziale Schichtung hat die Funktion, durch soziale Ungleichheit, die sich im Belohnungssystem ausdrückt, die Bereitstellung funktionaler Positionsleistungen durch die Akteure sicherzustellen. Bestimmte Positionen werden mit einem gesellschaftlich anerkannten Status verbunden und dieser Status bringt den Positionsinhaber eine bestimmte gesellschaftliche Anerkennung, die man Prestige nennt. Damit verlagert sich das faktische Schichtungsgefüge auf die Ausgestaltung eben dieses Belohnungssystems. Welcher Anreize bedarf es, Menschen dazu zu motivieren, spezifische Leistungen in Form von Verantwortung, Erlernen bestimmter Fähigkeiten etc. zu erbringen. Diese Belohnungen können ganz vielfältig ausfallen, von Anerkennung (Prestige), materielle Zuwendung bis hin zu Privilegien sind sie „gewissermaßen in die Positionen ‚eingebaut‘“. (Davis & Moore 1945: 349)

Der Erwerb spezifischer Fähigkeiten setzt zum einen Talent, zum anderen die Bereitschaft von Vorleistungen durch Qualifikationserwerb (Bildung, Lernen) voraus. Diese erfolgen in „Unwissenheit“ über ihren krönenden Erfolg, damit man das dennoch riskiert ist eine Voraussetzung, ein prinzipiell gleiches Zugangsrecht ohne sachfremde Privilegierungen oder Diskriminierungen erforderlich. Vorausgesetzt ist, dass die Positionen nach Leistung verteilt werden, dass es eine soziale Mobilität gibt und Gleichheit der Zugangschancen für alle existiert.

Zugleich müssen aber die Positionen nach ihrem funktionalen Gewicht, nach ihrer Bedeutung für die Gesellschaft stratifiziert werden. Umgekehrt erkennt man an dieser Schichtung den Charakter einer Gesellschaft. Welche Leistungen, Positionen werden besonders belohnt, sei es durch Anerkennung oder durch materielle Ausstattung.

Ein Grund für gesellschaftliche Aufwertung von Positionen kann ihre Knappheit selbst sein, weil sie als „erstrebenswert“ für Prestige gelten. Nur wenige können Chef von etwas werden oder leitende Positionen im öffentlichen Leben übernehmen (denn nicht jeder „Indianer“ kann „Häuptling“ sein und werden). Der Grund für die Nachfrage nach solchen Positionen kann „Macht“ oder gar „Herrschaft“ sein, aber auch materieller Reichtum oder auch nur Anerkennung für besondere Leistungen. Welche Berufe etwa als erstrebenswert gelten, kann von der materiellen Ausstattung abhängen, aber auch vom Prestige, das wiederum erheblichen gesellschaftlichen Wandlungen und Moden unterliegt. Man bedenke die gegenwärtige Karriere des „Traumberufs“ für junge Frauen bzw. Mädchen: „Influenzerin“.

Nicht in jedem Falle muss das mit den funktionalen Erfordernissen der für die Gesamtgesellschaft wichtigen Positionen übereinstimmen. Die funktionale systemische Relevanz von Gesundheits- und Pflegekräften – so lernen wir gerade – steht im umgekehrten Verhältnis zu deren Belohnung, wobei auch kurzfristige Aufwertung des Prestiges kein hinreichender Anreiz für Positionsnachfrage ist. Ob in diesem Falle materielle Anreize mehr Erfolg bringen, ist unsicher. Für das Funktionieren einer Gesellschaft sind jedenfalls die genannten Berufsgruppen sicherlich relevanter als unvergleichbar besser entlohnte Profisportler.

Da in der funktionalistischen Schichtungstheorie der Faktor Leistung als Verteilungsmodus für Positionen und Belohnung die entscheidende Größe ist, besteht die Gefahr, aus dieser Verteilung auf die funktionale Leistung für die Gesellschaft selbst zu schließen. Und dann gerät die anfangs so plausibel erscheinende Theorie ins Wanken. Letztlich verfängt sie sich in einem Zirkelschluss.

Die Verteilung der Positionen regelt das Belohnungssystem, und das Belohnungssystem legt fest, was funktional wichtig für die Gesellschaft ist. Leistung ist keine selbständig definierbare Größe, sondern das, was die Gesellschaft als solche bewertet. Es bleibt aus dieser Perspektive ein unauflösliches Geheimnis, welche Leistungen von „der Gesellschaft“ so viel höher bewertet werden als andere, obwohl deren „Systemrelevanz“ dazu offensichtlich im reziproken Verhältnis stehen.

Problematisch sind vier vorausgesetzte Grundannahmen. Erstens die Knappheit von angeborenen Talenten, zweitens dass niemand ohne Aussicht auf besondere Belohnung nach schwierigen Aufgaben strebt und drittens, dass soziale Positionen im freien Wettbewerb errungen werden müssen und viertens, dass die Gesellschaft wichtige Positionen höher belohnt, damit die entsprechenden Aufgaben erfüllt werden. Die Quintessenz lautet dann, damit die wichtigen Positionen besetzt werden können, müssen sie höher belohnt werden. (Mayntz 1965: 13) Was aber nicht unbedingt der Fall ist.

Die eklatanten Schwächen der Theorien

Allen Schwächen zum Trotz hat die funktionale Schichtungstheorie nicht völlig ausgedient. Als Sozialstrukturanalyse ist sie zwar nicht hilfreich, aber für die Erklärung, vor allem zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten lebt sie im Verborgenen bei den Lobgesängen auf die Leistungsgesellschaft insbesondere bei Ökonomen munter weiter.

Ausgedient hat die Theorie von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ in ihrer von Schelsky entwickelten Form, aber die „Mitte“ der Gesellschaft ist bis heute das Zauberwort für den „Zusammenhalt unserer Gesellschaft“, wobei sie zuweilen vergisst, warum es überhaupt zu den beklagten, aber gewachsenen Rändern gekommen ist und worin die genau bestehen.

Was uns heute bedrückt und beschäftigt, hat seinen Ursprung in dem großen Wandel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die in den 1970er Jahren einsetzte. Es war das Ende des Zeitalters der „ewigen Prosperität“, der Wiedereinstieg in die Geisel der Massenarbeitslosigkeit, einer Dauerkrise des Kapitalismus, der sein ambivalentes Antlitz zeigte und die Gesellschaften in neue Formen der Ungleichheiten spaltet. Und das alles ging einher mit einem tiefgreifenden Strukturbruch in der Ökonomie und der Gesellschaft, die unter dem Namen einer „postindustriellen Gesellschaft“ (Bell 1973) als neues Zeitalter prognostiziert wurde.

Diesen Strukturbruch, den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wie er heute überwiegend charakterisiert wird, mit seinen neuen Formen sozialer Ungleichheiten, die alte soziale Milieus auflösen und neue kreieren, neue soziale Widersprüche hervorbringen und politische Ideologien revitalisieren, die als überholt galten, gilt es nun in einem weiteren Teil darzustellen.

 

Literatur:

Aron, Raymond (1964): Die industrielle Gesellschaft. Frankfurt a.M.

Aron, Raymond (1970): Fortschritt ohne Ende? Über die Zukunft der Industriegesellschaft. München

Bell, Daniel (1973): Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt / New York 1975

Bolte, K. M. u.a. (1967): Soziale Schichtung der Bundesrepublik Deutschland, in ders; Deutsche Gesellschaft im Wandel. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1967, Bd. 1, S. 233-353

Dahrendorf, R. (1965): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München

Dahrendorf, R. (1961): Struktur und Funktion. Talcott Parsons und die Entwicklung der soziologischen Theorie, in ders. Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München, S. 49-84

Davis, Kingsley und Moore, Wilbert E. (1945): Einige Prinzipien der sozialen Schichtung, in: Heinz Hartmann Hrsg.: Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. Stuttgart 1967, S.347 -357

Dirks, W. (1950): Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, 5. Jg. Heft 9 / 1950, S. 942-954

Galbraith, John K. (1967): Die moderne Industriegesellschaft. München – Zürich 1968

Geiger, Th. (1949): Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel. Köln und Hagen

Hartwich, H.-H. (1978): Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo. 3. Aufl. Opladen

Kadritzke, U. (2017): Mythos „Mitte“ oder: Die Entsorgung der Klassenfrage. Berlin

Mayntz, Renate (1965): Kritische Bemerkungen zur funktionalistischen Schichtungstheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5. Köln 1965, S. 10 – 28

Münkler, H. (2012): Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Berlin

Parsons, Talcott (1951): The Social System. New York / London 1964

Parsons, Talcott (1940): Ansatz zu einer analytischen Theorie der sozialen Schichtung, in ders. Beiträge zur soziologischen Theorie. (Hrsg. Dietrich Rüschemeyer). Neuwied – Darmstadt 1973, 3. Aufl., S. 180 – 205

Popitz, H. u.a. (1961): Das Gesellschaftsbild der Arbeiter. Tübingen

Schelsky, Helmut (1975): Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Opladen 2. erw. Aufl.

Schelsky, H. (1961): Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders. Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979, S. 449-499

Schelsky, H. (1957): Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend. Düsseldorf – Köln

Schelsky, H. (1956): Gesellschaftlicher Wandel, in: ders. Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979, S. 333-349

Schelsky, H. (1953): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutsche Gesellschaft, in: ders. Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik. München 1979, S. 326-332

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