spot_imgspot_img
spot_img
Samstag, 17. Mai 2025
spot_img

Die Stunde Null: ein Neuanfang aus dem Nichts?

Politisches Denken in der Nachkriegszeit: Teil 1 von 4 Teilen

Die Stunde Null, die keiner genau kennt und die man vergebens sucht, gab es nicht. Aber der „Begriff trifft das Empfinden der Zeitgenossen aufs genaueste.“ (Winkler 2000, 121) Es handelt sich um den 8. Mai 1945. Ganz wertfrei formuliert, dem Tag des Kriegsendes in Europa.

Aber wie nennt man einen Tag, den 700.000 KZ-Häftlinge anders erleben als ihre Aufseher und Folterer. Die Nazis, die es plötzlich nicht mehr gibt, anders als ihre geschundenen Feinde und die vielen Neutralen, die nur froh sind, dass es endlich vorüber ist mit den Bomben und all den Entbehrungen? Ist es der Tag der Niederlage, wie die AfD heute noch verkündet oder des Zusammenbruchs? Keine der Bezeichnungen sind Tatsachfeststellungen. Wie man es nennt, ist bis heute strittig, weil es eine Frage der Bewertung ist.

Bis dieser Tag in Westdeutschland „offiziell“ zum Tag der „Befreiung“ wurde, dauerte es 40 Jahre. 1985 war es der liberal-konservative Bundespräsident Richard von Weizsäcker der den politisch höchst umstrittenen Satz aussprach:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung! Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Zum gemeinsam empfundenen Ende der Leiden gesellte sich die Ungewissheit über die Zukunft und die Ängste davor, was nun geschehen würde. Dass hier etwas endete, was sehr „groß“ als tausendjähriges Reich begann und nach zwölf Jahren an seinem Größenwahn scheiterte, einen Zivilisationsbruch hinterließ, dem ein Platz des Schreckens in allen Geschichtsbüchern garantiert ist, war den meisten Zeitgenossen „irgendwie“ schon deshalb bewusst, weil der Reichspropagandaminister nichts unterließ, die Folgen einer Niederlage für das deutsche Volk auszumalen. Und nicht wenigen war auch nicht verborgen geblieben, dass in diesem Krieg so manches geschah, was nach Rache, Vergeltung und Strafe schrie. Friedrich Schillers Verszeile brachte es auf den Punkt: „Der Wahn ist kurz, die Reu‘ ist lang.“

Es ist unmöglich hier die unmittelbare Nachkriegszeit und die Frühgeschichte der BRD auch nur grob zu skizzieren. Nicht nur wegen der Menge der Ereignisse und den daraus sich ergebenden Weichenstellungen für dauerhaft bedeutende Entwicklungen. Es ist bis ins Ende der fünfziger Jahre auch eine Geschichte sehr widersprüchlicher Strömungen, Entwicklungen und Tendenzen. Was wie eine zwingende lineare Entwicklung aussieht – wie z.B. der Weg gen Westen, entpuppt sich als viel verschlungener und es gab auch mehr andere Ideen als heute noch bekannt sind.

Das Ende dieses Krieges war wie der Krieg selbst ein Novum in der Geschichte der Neuzeit. Dem totalen Krieg, der als solcher von den Nazis propagiert wurde und ein Vernichtungskrieg mit dem geplanten Völkermord der Juden ein einzigartiger Zivilisationsbruch war (Dan Diner), folgte die totale Niederlage für die selbsternannte Herrenrasse.

Die „bedingungslose Kapitulation“, die Roosevelt und Churchill im Januar 1943 vereinbarten und der Stalin zustimmte, ließ keinen Zweifel aufkommen, dass dieser Krieg für Deutschland verloren war. Ein Wiederaufleben der „Dolchstoßlegende“ hatte keine Chancen.

Deutschland gab es nur noch als willkürlich definierte Verhandlungsmasse in den Grenzen von 1937, die ihre Gültigkeit außerhalb (West-) Deutschlands längst verloren hatten. Als Völkerrechtssubjekt, als souveräner Staat existierte es nicht mehr. Die alliierten Siegermächte verhandelten nicht mehr mit, sondern über Deutschland.

Ob mit der „Leerstunde Null“ ein „Neubeginn“ seinen Anfang nahm oder eine „Neuordnung“ verhindert bzw. verpasst wurde, ist immer noch umstritten und hängt von der Perspektive des Beobachters ab.


Die Frage nach der Schuld

Nehmen wir zwei verschiedene Ausgangspunkte.
Der Erste: Am 6. Mai 1945 erklärt der aus dem KZ entlassene spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher in Hannover vor sozialdemokratischen Funktionären, die den Terror überlebt hatten:
„Schwerindustrie, Rüstungskapital. Militarismus und all die Feudalen, die nachher sich wieder vom Nazismus zu distanzieren versuchten, tragen als Geburtshelfer der Naziherrschaft die volle Verantwortung für alles, was geschehen ist.“

Die programmatisch geforderte „Überführung von Großindustrie und Großbanken in Gemeineigentum, radikale Entnazifizierung parlamentarisch Demokratie und eine von Profitinteressen freie Presse“, sind Eckpfeiler eines radikalen Neubeginns und Basis einer strukturellen Verhinderung einer Wiederholung des Unheils.

Was Schumacher im Namen der SPD in dem Selbstbewusstsein vortrug, die einzige Partei zu sein, die im März 1933 dem Ermächtigungsgesetz nicht zugestimmt hatte und mit ihrem Widerstand gegen das Nazi-Regime das moralische Recht für sich reklamierte, das „neue“ Deutschland zu begründen, war keine aus der Zeit gefallene Anmaßung.

Seine Schuldzuweisung an die „herrschende Klasse“ war weit über die Sozialdemokratie hinaus common sense und beruhte auf dem Wissen um die Verquickung von Naziherrschaft und Großindustrie. Christliche Politiker, die 1945 am Aufbau einer überkonfessionellen Partei arbeiteten und sich zu einem „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ bekannten, teilten diese Verantwortlichkeit der alten Herrschaften und formulierten ihre Prinzipien und Ziele im September 1945 in den „Frankfurter Leitsätzen“ der hessischen CDU.

Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka hat in seiner Betrachtung der Nachkriegszeit daran erinnert, dass nach dem „Zusammenbruch kaum jemand eine Wette auf den Fortbestand des kapitalistischen Wirtschaftssystems abgeschlossen“ hätte. (Kocka 1979, 147 f.) Nicht nur bei den Kommunisten und Sozialdemokraten war der Zusammenhang von NS und Kapitalismus präsent. Politisch ging er bis in den anfangs starken linken Flügel der sich konstituierenden CDU.

Der „christliche Sozialismus“, den Karl Arnold und Jakob Kaiser in der Tradition des Gewerkschaftsflügels des Zentrums weiter propagierten, konnte diesen Systemwechsel in die ersten Gründungsurkunden bis zum Ahlener Programm im Februar 1947 einbringen. Das Scheitern aller Versuche in den Westzonen, einen Systemwechsel herbeizuführen, hatte seinen Grund nicht im Mangel an Unterstützung durch die Bevölkerung.

Markanteste Punkte waren der einstimmige Beschluss im Düsseldorfer Landtag den Bergbau zu sozialisieren. Es herrschte ein breiter Konsens, dass die bisherigen Eigentümer der Kohle-, Stahl- und Eisenindustrie nicht bleiben dürften. Im Juni 1946 stimmte in Hessen das Volk mit 71,9 Prozent in einem separaten Passus der Landesverfassung für die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum und mit 76,8 Prozent für die Annahme der Gesamtverfassung.

Für dessen Annullierung sorgte die US-Besatzungsmacht, mit dem Argument, man wolle keine Präjudizien bezüglich der künftigen Wirtschaftsordnung. Damit begann „jene massive Verhinderungsstrategie“, an deren Ende die soziale Marktwirtschaft stehen sollte. (Steininger 1983, 313)

In der Britischen Zone, wozu das Ruhrgebiet gehörte, trafen die Sozialisierungsforderungen bei der Labour-Regierung in London nicht auf die gleichen prinzipiellen Bedenken wie bei den Amerikanern. Der maßgebliche britische Außenminister Ernest Bevin sah in den Sozialisierungsforderungen der Deutschen ein Sicherheitsproblem, denn für die (für ihn) übergeordnete Frage einer dauerhaften Friedenslösung in Europa war die Behandlung des Ruhrgebietes als der deutschen Waffenschmiede keine rein deutsche Angelegenheit, die durch die Sozialisierung gelöst wäre. Er favorisierte nicht zuletzt auf massiven Druck Frankreichs und den Benelux-Staaten und mit Blick auf die ungelösten Reparationsfragen eine Europäisierung bzw. Internationalisierung des Ruhrgebietes.

Anders die Amerikaner, die stellten auf der Basis der beschlossenen One-World-Politik mit der Verkündung des Marshall-Plans am 5. Juni 1947 die Weichen klar und deutlich in die Richtung einer Fortexistenz der kapitalistischen Eigentums- und Wirtschaftsordnung. Unter dem Vorsitzenden des Wirtschaftsrates und späteren Wirtschaftsministers Ludwig Erhard wurden im Herbst 1948 die Weichen in die gewünschte Richtung gestellt und mit dem neuen Label „soziale Marktwirtschaft“ erhielt die Kontinuität der alten Verhältnisse nur einen anderen, neutraler erscheinenden Namen. Dass ihnen dann auf deutscher Seite die bürgerlichen Kräfte, in diesem Falle vor allem die von Konrad Adenauer ins Bürgerliche gewandelte CDU zur Hilfe kam, erleichterte ihnen das Geschäft.

Die „verhinderte Neuordnung“ war im Verbund mit der Eigendynamik des Kalten Krieges, der die gesellschaftlich-ökonomische Systemkonkurrenz zum Inhalt hatte, zudem eine weltpolitische Frage geworden. Was an sozialistischen Forderungen aufkam, entsprach jenseits des kommunistischen Sowjetmodells im Großen und Ganzen dem, was man den Dritten Weg nannte. Weder die Sowjetdiktatur noch den ungezügelten Kapitalismus der USA, sondern eine Verbindung von Sozialismus und Demokratie sollte die Zukunft Deutschlands sein. Hier waren zwar alle Sozialisten auch Demokraten, aber nicht alle Demokraten auch Sozialisten.

Der Zeithistoriker Peter Brandt hat zusätzlich an einen „blinden Fleck“ in der Geschichtsforschung erinnert. Im heimischen Widerstand und bei der Vorbereitung des Übergangs zur Nachkriegsgesellschaft spielte der in den „Antifa“ der sozialistischen Arbeiterbewegung in mehr als 500 Orten organisierte Widerstand gerade in der Phase des „Wiederaufbaus“ mit ihrem Wissen und Können eine bislang unterschätzte Rolle für die Wiederaneignung solidarischer Verkehrsformen. Sie wurden im Sommer 1945 von den Militärregierungen aus unterschiedlich begründeten Verdächtigungen als „krypto-kommunistisch“ im Westen und „sektiererisch“ im Osten aufgelöst.


Schicksal statt Schuld – Meinecke gegen Jaspers

Kurt Schumacher hatte die Frage nach der Verantwortung, nach der Schuld mit Verweis auf die tragenden gesellschaftlichen Kräfte und Klassen des Nazi-Terrorregimes beantwortet und zugleich eine grundlegende politische Lösung für deren Entmachtung vorgelegt.

Auf ein ganz anderes Gleis führte ein von dem Philosophen Karl Jaspers initiierter Diskurs über Die Schuldfrage unmittelbar nach Kriegsende. Eröffnet wurde er 1946 mit einem gut hundert Seiten umfassenden Buch aus der Feder des an der Heidelberger Universität nun wieder lehrenden Philosophen Karl Jaspers. In dem im Wintersemester 1945/46 wieder aufgenommenen Lehrbetrieb versuchte er in diese im Raum stehende emotionsgeladene Frage eine ordnende Rationalität für eine verständnisorientierte öffentliche Diskussion zu bringen, die nach der Abschaffung des „öffentlichen Gebrauchs der Vernunft“ durch die Nazis erst einmal wieder erlernt werden musste.

Zumindest im nicht nationalsozialistischen Bildungsbürgertum war Karl Jaspers eine respektierte Autorität. Er war einer der wenigen, die 1933 kritisch fragten, warum ihre jüdischen Kollegen ihren Beamtenstatus verloren und aus ihren Posten entfernt wurden. Er war kein Widerstandskämpfer, wurde trotzdem 1937 zwangspensioniert, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Er verlor damit als Professor der Philosophie an der Universität Heidelberg seine Lehrerlaubnis, aber er emigrierte nicht, sondern blieb in der „inneren Emigration“. Auch das hob sein Renommee in diesen Kreisen des Bürgertums, denn die Emigranten genossen kein hohes Ansehen.

Nun, am Ende des Schreckens, stellt er die Frage: Wer ist schuldig?
Sein Buch stieß nicht auf allzu großes Interesse, obwohl Jaspers den Zugang dadurch erleichterte, indem er eine in der Debatte zirkulierende „Kollektivschuld“ zurückwies.

Kollektive Schuld kann es nicht geben, denn ein Volk hat zwar eine gemeinsame Sprache, aber keinen gemeinsamen Charakter. Er suchte nach personenbezogener Schuld und fand vier Arten. Er unterschied eine kriminelle, die eine der Justiz ist, eine moralische, die jeder mit sich selbst ausmachen müsse von einer (hier zu vernachlässigenden) metaphysischen und von einer politischen Schuld im Sinn einer Mitverantwortung dafür, was in meinem Namen als Staatsbürger geschehe. Das war die zentrale Frage.

Hier machte Jaspers ein paar damals noch umstrittene Vorentscheidung. Dass Deutschland für den Krieg die Schuld, d.h. die alleinige Verantwortung trage, setzt er voraus. Er macht auch politische Konzessionen. Er verweist auf die lange Liste der Fehler der Westmächte vor Kriegsausbruch und auf die kleine Zahl der mächtigen Täter hin, entschuldet die breite Masse wahrheitswidrig von der Teilnahme an den Novemberpogromen 1938 und attestierte den Soldaten Pflichtbewusstsein als Entlastung für damals schon bekannte Verbrechen. (Trentmann 2023, 168 f.)

Von seiner Schülerin Hannah Arendt erhält er scharfe Kritik. Sie meint, die ganz Schuldfrage vernebele nur die politische Verantwortung, denn am Ende seien alle und damit niemand mehr verantwortlich.

Die Frage der Kriegsverbrechen, die in den Nürnberger Prozessen verhandelt wurden, stand hier noch gar nicht zur Debatte, weil über diese Tatbestände in der überlebenden Bevölkerung gar kein Konsens bestand. Radikale Leugnung war das eine und von Siegerjustiz war bei den Nürnberger Prozessen später noch lange die Rede.

Was waren denn Kriegsverbrechen? Krieg ist eben Krieg. Zuhause dachte man nicht an die Ostfront, wo bekanntlich der „Iwan“ hauste, sondern an Hamburg, an Dresden und all die anderen zerstörten Städte. Angriffe auf wehrlose Zivilisten. Wenn die Leugnung der eigenen Verbrechen nicht mehr akzeptabel erschien, dann hatte man von alledem nichts gewusst. Und wenn man es nun wissend zur Kenntnis nahm, kam die Ohnmacht zum Zuge, was hätte man denn tun sollen? Der Streit ging nun dahin, ob es mehr die Kunst der Verführer war, der man kollektiv verfallen war oder die nun mühsam zurückgenommene Faszination.

Das Einzige, was den Deutschen erspart blieb, war eine Wiederbelebung der unsäglichen „Dolchstoßlegende“, die in der Weimarer Republik zum Nährboden der nationalistischen Demokratiefeinde wurde. Dass der Krieg verloren wurde, daran bestand diesmal kein Zweifel.

Das war der Erfolg der unconditional surrender, der bedingungslosen Kapitulation als Kriegsziel der Alliierten, die nicht nur ihre Eintrachtsformel war, um „Sonderfriedensabkommen“ zu verhindern. Die „bedingungslose Kapitulation“ hatten Roosevelt und Churchill auf der Atlantik-Konferenz am 24. Januar 1943 als Kriegsziel verkündet und fand kurz darauf auch Stalins Zustimmung. Sie diente der Sicherung, dass Deutschlands Niederlage diesmal so total wie die deutsche Kriegsführung sein sollte.

Sie hatte allerdings nicht die demoralisierende Wirkung, die man sich erhoffte, denn dem Reichspropagandaminister gelang es gerade mit dieser Formel und dem „Morgenthau-Plan“ bis zum bitteren Ende alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren und das Volk bei der Stange zu halten. Die Befürchtungen über das, was danach folgen würde, waren – wie schon angedeutet – riesig. Auf die Frage, wie lange es dauerte, bis es so etwas wie ein Schuldeingeständnis in weiten Teilen der Bevölkerung wirklich gab, gibt es keine klare Antwort.


Schicksal statt Schuld oder die Suche nach der Herkunft des Teufels

Nicht unbedingt hilfreicher als der Versuch Jaspers‘, aber wesentlich erfolgreicher war ein Parallelunternehmen des hochbetagten und angesehenen Historikers Friedrich Meinecke, der sogar noch zum Gründungsrektor der FU Berlin wurde. Meinecke veröffentlichte ebenfalls 1946 Die deutsche Katastrophe. In drei Jahren kam dieses nicht sehr umfangreiche Werk auf vier Auflagen. Meineckes Lieblingswort war nicht „Schuld“, sondern „Schicksal“. Er traf damit offenkundig den Nerv der Überlebenden, die „noch einmal davongekommen“ waren.

Meineckes Streifzüge durch die deutsche Geschichte brachten zwar für ihn erstaunlich Kritisches hervor, aber auch manche Ignoranz. „Die deutsche Katastrophe“ bestand für Meinecke – wie für andere national-konservative Historikern, insbesondere dem anderen Doyen der deutschen Historikerzunft Gerhard Ritter – nicht primär in Hitler, sondern in den Folgen der Niederlage für Deutschland.

Der in die USA emigrierte Historiker Fritz Stern entdeckte in Meineckes Aufruf zur Bildung von „Goethe-Gemeinden“ zwecks Wiedergenesung des „deutschen Geistes“ lediglich die Fortsetzung der „politischen Folgen des unpolitischen Deutschen.“

Aber Meinecke stellte implizit die Frage, ob es sich beim Nationalsozialismus um einen Betriebsunfall oder um eine in der deutschen Geschichte oder gar um eine im deutschen Volk angelegte Determinante handelt, die erklärt, wie ein sogenanntes Kulturvolk in solche Barbarei verfallen konnte. Es war in der Tat fraglich, ob der Erfolge wie die Folgen des Nationalsozialismus mit den vorgebrachten Gründen der „Schmach von Versailles“, dem Ruin des Mittelstandes durch die Inflation oder die Massenarbeitslosigkeit im Zuge der Weltwirtschaftskrise über das Scheitern der Weimarer Republik hinaus erklärt werden können. Um das ganz Ausmaß der Verbrechen gegen die Menschheit „begreifbar“ und „erklären“ zu können, musste tiefer gebohrt werden.

Also schürfte man nach „tieferen Ursachen“ in der deutschen Geschichte und im deutschen (Un-)Wesen. Es gab kaum eine These, so absurd auch immer, die nicht erwogen wurde, ob man das Unheil damit „erklären“, rational begreifbar machen könnte. Man fand die Wurzel in einem „autoritären Charakter“ oder auch in einem spezifisch deutschen „Volkscharakter“ sowie im „preußischen Militarismus und Untertanengeist“, in der „machtgeschützten Innerlichkeit“ des protestantischen Bürgertums und dessen Blindheit fürs Politische.

Statt der Völkerpsychologie boten sich Besonderheiten der deutschen Geschichte an. Als „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner), einer „Sonderentwicklung“ Deutschlands im europäischen Vergleich mit einem schwach entwickelten Bürgertum als Spätfolge des Dreißigjährigen Krieges entfällt ein sozial starker Träger für Aufklärung, Liberalität und schließlich Demokratie. So in etwa lauten Deutungsmuster, die sich auch in der SBZ verbreiteten und dort vorzüglich von Alexander Abusch in seinen Der Irrweg einer Nation bis zum Ausbleiben einer sozialistischen Revolution fortgesetzt werden.

Aber stets landete man in der historischen Sackgasse eines deutschen „Sonderweges“, der uns nicht in den „Westen“, der gelobten politischen Himmelsrichtung von Freiheit und Demokratie führte. Was aber, wenn es den „deutschen Sonderweg“ nur als das „Sonderbewusstsein“ eines konservativen deutschen Bürgertums gab, wie es Thomas Manns 1919 in seinen nahezu programmatischen Betrachtungen eines Unpolitischen mit dem begierig aufgenommenen Befund, Demokratie sei undeutsch, zelebrierte.

Aber reichen die Besonderheiten der deutschen Geschichte als Erklärung für den Zivilisationsbruch aus? Meinecke öffnete mit seinem kurzen Hinweis auf die gemeinsame Ablehnung des Christentums im Marxismus und der „Hitlerei“ einen Weg für die „Ursachensuche“ in eine andere Richtung, die er selber nicht weiterverfolgte. (Meinecke 1946, 121 ff.) Was zuerst wie eine billige Bereicherung der Karriere machenden Totalitarismustheorie durch „ideologische Gemeinsamkeiten“ erscheint, verweist auf ein weiteres Feld von Gründen. Ins Zentrum rückt dabei die „nationalsozialistische Weltanschauung“, nicht als „Rechtfertigungsideologie“, sondern als kollektive Handlungsanweisung und „Wertorientierung“.

Dabei ist zuerst festzuhalten, dass all das, was die „NS-Weltanschauung“ ausmachte, weder deren Erfindung noch Eigentum war. Es war Gemeingut eines weit gefächerten „rechten Lagers“ von Jungkonservativen, Völkischen aller Art und den Intellektuellen der Konservativen Revolution. Und noch mehr: Es war nicht auf Deutschland beschränkt. Es gab Geistesverwandte nicht nur europa-, sondern weltweit. Der Faschismus als Sammelbegriff dieser nach dem Ersten Weltkrieg sich ausbreitenden „Weltanschauung“, die sich im Unterschied zu anderen „klassischen politischen Ideologien“ dadurch auszeichnet, frei von jeglicher inneren Logik zu sein, war ein mit jeweiligen Besonderheiten ausgestattetes Phänomen über Europa hinaus.

Vor diesem Hintergrund öffnet sich der Problemkreis dahin, die Gründe für den Zivilisationsbruch in einer übergreifenden Kultur der Moderne zu suchen.
Wir betreten hier ein minenreiches Feld der Ideengeschichte.
Eine besonders einflussreiche Erklärung für die „Krise der Moderne“ artikulierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zugleich als ihr Widerpart.

Der Abfall von Gott, dem Christentum und dem Glauben an transzendentale Mächte allgemein wurde als das Erzübel, als der Teufel in Form der Moderne ausgemacht. Dagegen erfolgt im Namen des Christlichen Abendlandes eine Rückbesinnung auf die verschütteten Werte eines traditionell-konservativen Christentums, die zugleich als Überwindung des Nihilismus, dessen Spitze der atheistische Bolschewismus sowie der Nationalsozialismus waren, und als Rettung propagiert wurden.

Die Fehlerkette der Verirrungen der Moderne reicht zurück bis in die Reformation, mindestens aber in die Aufklärung und Französische Revolution, der daraus folgenden Säkularisierung mit den politischen Ideologien und ihren Diesseitsversprechen ohne ordnende moralische Autorität als „Ersatzreligionen“. Dergleichen endet im Nihilismus mit der Barbarei der Nazis als Höhepunkt bzw. Tiefpunkt. Wenn dieses Unheil Namen brauchte, wurde der Marxismus um Friedrich Nietzsche erweitert.

Auch wenn das stark nach Katholizismus im Sinne der päpstlichen Verdammung der Moderne im Syllabus errorum von 1864 klingt, es gab solche Strömungen auch im Protestantismus. Auch nichtklerikale Diagnostiker der Neuzeit beteiligten sich wie Alfred Müller-Armack (dem Erfinder der sozialen Marktwirtschaft) mit Jahrhundert ohne Gott an dieser fundamentalen kulturkritischen Diagnose. Selbst Konrad Adenauers Verständnis des Westens und Europas war vom karolingischen christlichen Abendland als Bollwerk gegen den „asiatischen“ Bolschewismus geprägt und in dem erzkonservativen Zentralorgan Neues Abendland schrieb er Programmatisches und reihte den spanischen Diktator Franco in die christlich-abendländische Wertegemeinschaft ein. (Wolkenstein 2022, 125)

Als sich sonntags die Kirchen wieder füllten, glaubte man auch, dass die Rückkehr zu Gott nicht nur der einzig mögliche Weg zur Überwindung des Nihilismus sei, sondern auch als solcher erkannt werde. Als sich in den sechziger Jahren die Kirche leerten, sank der Stern des „christlichen Abendlandes“. Die „Abendländler“ – wie ihre Kritiker sie nannten – hatten politisch in den ideologischen Fronten des Kalten Krieges einen nicht unproblematischen Platz.

Ihr Antikommunismus war willkommen, aber ihr Kampf gegen die Moderne hatte nicht nur Abscheu gegen die amerikanische Massenkultur mit etlichen anderen Antiamerikanismen im Gepäck: sie waren auch keine Freunde der Demokratie. Sie erwiesen sich als „Nicht Kalter Krieg-tauglich“. Es ist aus heutiger Sicht mehr als verwunderlich, mit welcher Offenheit beamtete Professoren aus diesem Umfeld in den fünfziger Jahren und auch noch darüber hinaus gegen die Demokratie ins Feld zogen und in christlich-demokratischen Kreisen auf mehr als Toleranz stießen. (Grebing 1971, 263 ff,)

Aber davon abgesehen kämpften das „christliche Abendland“ paradoxerweise gegen die gleichen Feinde wie diejenigen, die man für den Nihilismus verantwortlich machte. Das Problem war die ideengeschichtliche Überlappung mit dem Konservatismus nichtchristlicher Art. Sie stellten den „Ideen von 1789“ die „Ideen von 1914“ entgegen, als mit dem Ausbruch des (Ersten) Weltkrieges die Volksgemeinschaft geboren wurde. Auch sie kämpften mit der gleichen Leidenschaft und Verachtung gegen die Aufklärung, die Herrschaft der Vernunft, gegen die universelle Gleichheit der Rechte für alle Menschen und deren Gleichwertigkeit nicht nur als „Geschöpfe Gottes“, sondern als freie Individuen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Und hier liegt die Crux: Wo liegt der Abfall des Nationalsozialismus von der Moderne: In der Negation einer universalistischen Moral im Geiste der Vernunft und jener vereinenden Humanität, die Friedrich Schiller in den Vers setzte: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Das meinte Thomas Mann, als er in seinem Nachkriegsroman Doktor Faustus von der „Rücknahme der Neunten Symphonie“ sprach, Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ im Schlusssatz.

Nur aus dieser Geisteshaltung, aus der Rücknahme der Humanität, konnte aus „Menschlichkeit“ „Humanitätsduselei“ werden und als Schwäche diskreditiert zu einer Moral werden, deren Prinzip das Gegenteil dessen ist, was die Menschlichkeit und die Vernunft gebieten. Anders als die Abendländler behaupten, war der Nazismus nicht das Produkt der aufgeklärten Moderne, sondern deren brutalste Verneinung.

Politisch war die Aufarbeitung der „Abendländler“ jedenfalls nicht. Und zu der Vielfalt sich überlappender Strömungen im Nachkriegsdeutschland gehört auch, dass der Zulauf in die Goethe-Gemeinden weniger auffällig war, als der von Jüngeren artikulierte Hunger gerade nach der Kultur der Moderne, wenn auch mehr der Ästhetischen, wie der Nachholbedarf an Theaterstücken, der Literatur, der „entarteten Kunst“ und vor allem die Nachfrage nach der modernen Musik, insbesondere der Jazzformen zeigt. (Glaser 1985)

Das jedenfalls fiel den zurückgekehrten Emigranten wie Theodor W. Adorno – nicht nur zu dessen Wohlgefallen – auf. Adorno hasste Jazz-Musik. Aber auch er konstatierte bei den Studierenden eine große intellektuelle Leidenschaft, die er 1949 in einem Essay Die auferstandene Kultur festhielt. Die „Suche nach Sinn und Wahrheit“, nach einer Orientierung angesichts der Gräuel, die nun offenkundig wurden und für die niemand sich verantwortlich fühlte, fiel nicht nur ihm auf.

Zum kulturellen Enthusiasmus gesellte sich aber zugleich eine an Abstinanz vor jeglicher Politik. So wurden Kunst und Kultur in schlechter Tradition gegenüber der Politik, als das „schmutzige Geschäft“ und der Quelle von Enttäuschung, zur Kompensationsfläche, nicht nur bei den Alten, sondern stärker noch bei den Jungen.

Sie waren die Vorläufer dessen, was Helmut Schelsky Mitte der fünfziger Jahre dann als die Skeptische Generation erkannte, den Verächtern nicht nur jeglicher Ideologie, sondern auch des Engagements und sie verspielten damit, wie Kritiker beteuerten, möglicherweise Gestaltungschancen, die durchaus vorhanden waren. So erscheint die Bonner Republik und ihre Demokratie in der entscheidenden Phase ihrer Entwicklung auch als das Land der „verpassten Chancen“. Das jedenfalls war 1950 das Resümee des Linkskatholiken Walter Dirks in einem vielbeachteten Aufsatz über den Restaurativen Charakter der Epoche in den von ihm mitherausgegebenen Frankfurter Heften.

In einer Situation, wo etwas endet und alles offen ist für etwas anderes, könnte man eine Aufbruchstimmung erwarten, die sich Hermann Hesses Freude über einen Neuanfang, in dem ein „Zauber“ liegt, zu eigen macht. Aber wenn etwas nicht herrschte, dann diese großen Strahlen von Hoffnung auf etwas Neues.


Literatur:

Abusch, A. (1946): der Irrweg einer Nation. Berlin 1950
Adorno, Th.W. (1949): Die auferstandene Kultur, in ders. Gesammelte Schriften Bd. 20.2. Frankfurt a.M. 1986, S.453 – 464
Anderson, P. (1978): Über westlichen Marxismus. Stuttgart
Arendt, H. (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1962
Benz, W. (2010): Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die Entstehung der DDR 1945-1949. Bonn
Bering, D. (2010): Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Berlin
Dirks, W. (1950): Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, 5. Jg., Heft 9 / 1950, S. 942 – 954
Brandt, P. (2025): Niederlage und Befreiung. Der 8. Mai in der deutschen Geschichte, in NG / FH, Heft 5 / 2025, S. 67 – 71
Dohse, R. (1974): Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955. Hamburg
Friedrich, C.J. & Brzezinski, Z. (1965): Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Wege der Totalitarismusforschung. Hg. B. Seidel & S. Jenkner, Darmstadt 1974, S. 600 – 617
Glaser, H. (1985): Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945 – 1948
Görtemaker, M. (2004): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M.
Grebing, H. (1971): Konservative gegen die Demokratie. Frankfurt a.M.
Hacke, J. (2009): Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung. Hamburg
Jaspers, K. (1946): Die Schuldfrage. Heidelberg
Jaspers, K. (1958): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München
Jaspers, K. (1960): Freiheit und Wiedervereinigung. München
Jaspers, K. (1966): Wohin treibt die Bundesrepublik? München
Kocka, J. (1979): 1945. Neubeginn oder Restauration? in: C. Stern / H.A. Winkler; Wendepunkte deutscher Geschichte. Frankfurt a.M. 1979, S. 147 ff.
Löwenthal, R. (1950): Der Mythos des XIX. Jahrhunderts, in: Frankfurter Hefte V. Jg. Heft 12/1950, S. 1278 – 1299
Manow, Ph. (2024): Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Berlin
Meinecke, F. (1946): Die deutsche Katastrophe. Wiesbaden1947, 3. Aufl.
Nolte, P. (2000): Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München
Plessner, H. (1959): Die verspätete Nation. (1935)
Schelsky, H. (1957): Die skeptische Generation. Düsseldorf
Schwarz, H.-P. (1966): Vom Reich zur Bundesrepublik. Neuwied – Berlin
Sternberger, D. (1946): Herrschaft und Freiheit, in ders. Verfassungspatriotismus. Frankfurt a.M. 1990, S. 58 – 80
Steininger, R. (1983): Deutsche Geschichte 1945-1961. Darstellung und Dokumente in zwei Bänden. Frankfurt a.M.
Sternberger, D. (1964): Grund und Abgrund der Macht. Frankfurt a.M.
Trentmann, F. (2023): Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Frankfurt a.M.
Vranicki, P. (1974): Geschichte des Marxismus. Zweiter Band. Frankfurt a.M.
Weber, A. (1982): Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Frankfurt a.M.
Weber, P. (2020): Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90. Berlin
Winkler, H.A. (2000): Der lange Weg nach Westen II. München 2002 (4. Aul.)
Wolfrum, E. (2006): Die geglückte Demokratie. Gesichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
Wolkenstein, F. (2022): Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung. München
Wortmann, R. (2015): Die Krise der Demokratie und die Grenzen der Zivilgesellschaft, in: Jahrbuch für Management in Nonprofit-Organisationen 2015 / Vol. 4, Münster 2015, LIT-Verlag, S. 175-20
Wortmann, R. (2018): Theorien des Engagements – Zur Kritik an Olson und Hirschman, in: Jahrbuch Management in NPO 2018 / Vol. 7, Münster, S. 67 – 92
Wortmann, R. (2019): Engagement als Lebensform – Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre, in: Jahrbuch Management in NPO 2019 / Vol. 8, Münster, S. 73 – 96

 

spot_img
Mai 2025spot_img
Oktober 2023spot_img
August 2024spot_img
2015spot_img
November 2020spot_img
August 2024spot_img
erscheint Oktober 2025spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Set Youtube Channel ID
Instagram
Spotify