Freitag, 26. April 2024

Italiens Marsch in die Vergangenheit als Zukunft?

Anmerkungen zur Wahl in Italien

Was schon länger prognostiziert und befürchtet wurde, nun ist es Ereignis. Nahezu pünktlich zum hundertsten Jahrestag des legendären „Marsches auf Rom“, der am 30. Oktober 1922 mit der Ernennung Benito Mussolinis zum Ministerpräsidenten der Tag der ersten Machtergreifung der neuen politischen Bewegung der Faschisten in Europa war, greifen seine Enkel und Urenkel erneut nach der Macht.

Zwar beruht dieser Marsch nicht auf martialischen, ewig gewaltbereiten Kolonnen wildentschlossener Männer der Tat, wie sich Mussolini und seine Anhänger verstanden. Es ist ein Marsch durch die Institutionen in Gestalt einer Machergreifung durch den Stimmzettel. Diesmal steht an der Spitze nicht nur eine Frau, die aus dem Nichts eine politische Randgruppe zur stärksten Partei Italiens machte, auch erscheint der vormals militante Haufen zivilisierter.

Was zum Wahlausgang führte

Mit Geschick hat die neue „Führerin“ Georgia Meloni ihre Partei in Watte gepackt, einen Pakt mit den mehr oder weniger angeschlagenen Konkurrenten von rechts, der „Forza Italia“ Silvio Berlusconis und der „Lega“ Matteo Salvinis geschlossen, der gestützt auf das neue Wahlrecht die erforderlichen Kandidatenabsprachen für die Erlangung der absoluten Mehrheit der Abgeordnetensitze ermöglichte und mit einem grandiosen Erfolg krönte.

Die postfaschistische Partei Melonis, die „Fratelli d’Italia“ (Brüder Italiens), war bei den Parlamentswahlen vor vier Jahren mit vier Prozent noch eine Splitterpartei, die man kaum ernst nahm. Ihr entscheidender Vorteil war ebendies, denn sie war nie an der politischen Macht beteiligt, sie ging quasi „unbefleckt“ aus einer fundamentalen Opposition gegen die Draghi-Regierung in einen Wahlkampf, wo sie im Unterschied zu all den schon gescheiterten Parteien bei der Lösung der sich aufhäufenden Problemen zum Hoffnungsträger eines neuen Italiens wurde.

Sie profitierte dabei paradoxerweise von einer Wahlrechtsreform, die man 2018 kreierte, um die „Fünf-Sterne-Bewegung“ von der Macht fernzuhalten. Wahlrechtsreformen sind übrigens zu einer Art Volkssport für jede neue Regierungsmehrheit zwecks Machtsicherung geworden, ohne jemals die erwünschte politische Stabilität damit gebracht zu haben Die große Koalition von 2018 baute eine starke Mehrheitswahlkomponente ein, die Wahlbündnisse der traditionellen Parteien begünstigten sollte. Aber schon damals geriet das Unternehmen zum Desaster, denn die „Grillini“ wurde mit 34 Prozent trotz des neuen Wahlrechts stärkste politische Kraft im Parlament.

Mit der unsinnigen und kaum nachvollziehbaren Aufkündigung der Unterstützung der Regierung Draghis haben die Fünf-Sterne unter Giuseppe Conte nun diese vorgezogene Neuwahl bewusst provoziert, dabei nach den bisherigen Hochrechnungen mit ca.16 Prozent mehr als die Hälfte ihrer Prozentanteile verloren. Hier kam Hochmut vor dem Fall, aber sie stehen damit immer noch besser da als erwartet. Offensichtlich ziehen ihre sozialen Versprechen wie die Ausweitung des allgemeinen Bürgergeldes insbesondere im armen Süden Italiens gut. Mit seinem Umschwung auf linke soziale Themen fuhren die Fünf-Sterne immer noch eine stattliche Stimmenzahl, wahrscheinlich größtenteils zu Lasten der Demokratischen Partei, ein.

Nach dem Zerfall der Draghi-Koalition gelang es der Demokratischen Partei unter Enrico Letta nicht, ein mitte-links Wahlbündnis wie das der rechten Allianz zu schmieden. Damit machten sich die Kandidaten mitte-links im Kampf um die Direktmandate Konkurrenz, während das rechte Bündnis hier durch Absprachen abräumen konnte. So steht die Demokratische Partei, die wahrscheinlich unter 20 Prozent bleiben wird, als die eigentliche Verliererin der Wahl dar.

Insofern könnte man geneigt sein, den Sieg der Rechten unter Führung des Post- oder Neofaschisten vor allem der Unfähigkeit und Uneinigkeit der Linken, die ja nicht nur in Italien eine lange Tradition hat, zuzuschreiben. Aber das wäre eine unangemessene Beruhigungspille, denn die Wahlniederlage ist unabhängig davon eine atemberaubende Verschiebung der politischen Machtgewichte. Der Rechtsblock hat mit 43 Prozent der Stimmen nicht nur die absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat erhalten, die „Fratelli d’Italia“ wurde mit 26 Prozent aus dem Stand zur stärksten Partei mit deutlichem Abstand vor Lettas Sozialdemokraten.

Dass zudem die extrem gesunkene Wahlbeteiligung, von 74 Prozent 2018 – schon damals neuer Tiefstand – auf diesmal ca. 64 Prozent als Indiz für Parteien- und Politikverdrossenheit gewertet wird, geht wohl eindeutig zu Lasten der linken Gruppierungen, die ihre Anhänger nicht zu mobilisieren vermochten. Der Mangel an überzeugenden inhaltlichen Angeboten konnte mit der Kampagne gegen die Gefahr der Neofaschisten nicht kompensiert werden. Dass zudem die gefährlichen Folgen für Europa ins Zentrum gerückt wurden, hat sich keinesfalls als erfolgreich erwiesen.

Was sind die Erwartungen und Befürchtungen

All die Warnungen vor den kreidefressenden Neofaschisten liefen offensichtlich ins Leere, denn Meloni gelang es, sich unter dem alten Leitspruch der Mussolini-Diktatur „Dio, Famiglia, Patria“ (Gott, Familie, Vaterland) so moderat zu gebärden, dass man ihr einen riskanten fundamentalen Bruch mit den bisherigen Verhältnissen nicht zutraut. Dass die „natürliche Familie“ wieder ins Zentrum rückt, KämpferInnen für Diversität und Gendergerechtigkeit mit Gegenwind von oben rechnen müssen, Nationalstolz und Wiedergewinnung der nationalen Identität einen sehr hohen Stellenwert erhalten, und Italiens nationalen Interessen wieder vor allem anderen stehen werden, dabei aber eine EU-Mitgliedschaft so wenig infrage gestellt wird wie der Euro, scheint breite Bevölkerungsschichten anzuziehen.

Gemunkelt wird schon jetzt, dass es die neue Regierung auch das politische Institutionengefüge verändern will. Statt einer erneuten Wahlrechtsreform geht es diesmal noch weiter. Das Ziel sei ein Übergang zu einer Präsidialdemokratie zu Lasten der Macht des Parlamentes, die dem plebiszitären Führertum der persönlichen Verantwortung näher käme.

Auch wenn Mussolini seit seinem unrühmlichen Ende 1945 inhaltlich in der italienischen Politik nie dichter an der Macht war als jetzt, so zeigt sich nebenbei auch, dass ein so dezidierter Bezug auf ihn wie bei den „Fratelli“ bei fast der Hälfte der Bevölkerung keine abschreckende Wirkung hat. Das wirft viele Fragen nach der „Vergangenheitsbewältigung“ in Italien auf, denn Mussolini gab es dort einfach nicht. Aber das ist ein Kapitel für sich.

Was sich die Italiener innen-, sozial-, wirtschafts- und kulturpolitisch mit ihrer neuen Regierung einhandeln, ist in vielen Bereichen – nicht nur wegen der noch ausstehenden Koalitionsverhandlungen – noch nicht eindeutig erkennbar. Sicher ist aber, dass man es hier mit einer Allianz extrem machtbewusster Akteure zu tun hat. Sie werden nicht – wie jahrzehntelang eifrig geübt – bei jeder kleinen Frage, die einen Programmpunkt oder eine Klientel tangiert, die Regierung aufkündigen. Die drei wollen ihre Macht nutzen, wie weit die Auf- und Abräumarbeiten reichen, wird man bald erfahren. Interessant wird schon allein, wie mit dem hundertsten Jahrestages Ende Oktober umgegangen wird.

Folgen für Europa

Die größten Probleme zwischen den Partnern scheint der Ukrainekrieg zu sein. Während Berlusconi noch kurz vor der Wahl mit dem Hinweis, sein Freund Putin (was sehr persönlich zu verstehen ist) sei zum Krieg gezwungen worden (durch wen, bleibt etwas nebulös), auf sich aufmerksam machte und Salvini als großer Anhänger des putinschen Russlands gilt, hat Meloni Partei für die Ukraine ergriffen. Ein Scheitern der Regierungsbildung an dieser Frage ist dennoch sehr unwahrscheinlich. Denn was immer sie von Mussolini übernehmen werden, es ist sicherlich dessen Desinteresse an Programmen. Entscheidend ist allein die Macht und eine gewisse Grundausrichtung, die im Satz „Italien zuerst“ kulminiert.

Damit ist der Kern der zukünftigen Politik definiert: das Verhältnis zu Europa. Meloni hat bewusst alle Befürchtungen über antieuropäischen Aktivitäten bis hin zu einen möglichen Austritt oder dergleichen aus der EU durch ein formelles Bekenntnis zur EU ausgeräumt, es aber zugleich mit der „Drohung“ verbunden, dass sie für ein anderes Europa kämpfen wird. Sie nennt neben Trump Viktor Orban als ihr politisches Vorbild, was schon einiges befürchten lässt. Sie wird der Achse Ungarn und Polen – wozu sich evtl. eine von den nationalistischen „Schwedendemokraten“ abhängige neue schwedische Rechtsregierung gesellen könnte – mit der bislang drittstärksten Wirtschaftsmacht der EU ein wesentlich stärkeres Gewicht verleihen.

Auch wenn davon auszugehen ist, dass man sich in Brüssel, erprobt mit rechtspopulistischen Regierungen, wohl schnell mit den neuen Verhältnissen arrangieren wird, zumal man sicher sein kann, dass Italien von der EU ökonomisch abhängiger ist als umgekehrt, so ist das neue Italien für die Anhänger einer vertieften europäischen Integration ein gewaltiger Rückschlag. Viele Träume von einem geeinten Europa, gar einer Überwindung der Nationalstaaten zugunsten eines europäischen Bundesstaates enden vorerst wohl mit einem bösen Erwachen. Europas Entwicklung erfolgt aus einem rechtskonservativ-nationalistischen Bremserhäuschen, das als Sand im Getriebe den europäischen Einigungsmotor mehr als ins Stottern bringt.

Man kann hinzufügen: und das zur Unzeit. Denn nichts wäre in der gegenwärtigen Weltlage des Umbruchs zu einer neuen Weltordnung und der Vielzahl der nur gemeinschaftlich zu lösenden Probleme notwendiger, als eine verstärkte europäische Zusammenarbeit und Integration. Aber diese beklagenswerte Feststellung sollte auch zu der dringend erforderlichen Diskussion und Analyse führen, wo die Gründe für die Rückschläge und vor allem für die sich mehrenden Erfolge rechter bis hin zu neofaschistischen Gruppierungen liegen. Ohne einen solche schonungslose Analyse und Diagnose wird es keine erfolgversprechende Therapie zum Besseren geben.

Italiens Marsch in die Vergangenheit des Nationalismus darf nicht die Zukunft Europas werden. Es wäre das Ende. Und was dann käme, das kennen wir aus der Geschichte. Vor hundert Jahren begann in Italien ein Teil dieses blutigen Dramas.

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