Kein Krieg in Sicht? Verwirrung um die Ukraine

Seit über zwei Monaten hält uns der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Ostgrenze zu Russland in Atem. Wer spielt da welches Spiel oder steht der Ernstfall eines Krieges unmittelbar bevor? Wir sind als Zuschauer angewiesen auf vielfache Geheimdienstinformationen, also Quellen zweifelhafter Objektivität, weil sie Teil des Kampfes um die politische Deutungshoheit sind.

Da von den jeweils erkundeten militärischen Kapazitäten und Fakten auf die politischen Absichten geschlossen wird, verlagert sich alles auf die Frage, wer verfolgt hier welche Interessen und Ziele. Bei uns konzentriert sich die öffentliche Auseinandersetzung auf das Rätsel, was bezweckt Russland mit seinen Militäraktionen und da Russland ein autokratisch beherrschtes Land ist, steht die Personalie Putin im Zentrum. So begegnen wir einer Mischung aus Worst-Case-Szenarien und einer aus den Zeiten des Kalten Krieges noch bekannten Kremlastrologie. Und die mündet in der Frage: Was will Putin?

Lassen wir tiefenpsychologische Betrachtungen über die in Putin verkörperte „russische Seele“ außer Betracht, so reicht die Diagnose von massiver Drohung mit einem militärischen Angriff auf die Ukraine bis zum unmittelbar bevorstehenden Einmarsch, wie einige osteuropäische Akteure zu wissen behaupten bis zum „Säbelrasseln“.

Was Putins verifizierbares Anliegen ist, gab er der NATO nochmals schriftlich. Keine weitere Osterweiterung der NATO. Das ist bekannt und die Antwort der USA und damit der NATO ebenso. Jedes Land habe das souveräne Recht auf freie Wahl seiner Bündniszugehörigkeit, dies sei schon in der Helsinki-Akte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 festgelegt und in der Pariser Erklärung von 1990 bekräftigt worden.

Was diesen Punkt betrifft, befindet man sich in einer Sackgasse. Was Russland als Beeinträchtigung seiner Sicherheit sieht, ist für die NATO ein Frage der Souveränität der jeweiligen Staaten. Aber die NATO ist umgekehrt auch nicht gezwungen, jedem Beitrittswunsch nachzukommen. Im Jahre 2008 erteilte man der Bitte Georgiens und der Ukraine um Aufnahme in die NATO mit Rücksicht auf russische Interessen noch eine Absage. Die Frage wäre nicht nur, ob und warum das heute noch gilt und grundsätzlicher gefragt, was sind eigentlich die leitenden Interessen der NATO bei der Aufnahme weiterer Mitglieder bei der Osterweiterung?

Die NATO pocht darauf, dass Russland kein wie auch immer geartetes Vetorecht bei der Frage einer NATO-Mitgliedschaft zukommt. Putins Russland besteht aber mittlerweile auf verbindliche Garantien für einen Verzicht auf eine weitere Ausdehnung der NATO nach Osten. Nach dem erfolgten Notenwechsel sind die grundsätzlichen Positionen unverändert. Russland bezichtigt die USA des Expansionismus, der Westen Russland, mit einer geopolitisch motivierten Einflusszonenpolitik eine postamerikanische Weltordnung anzusteuern.

Da man in der entscheidenden Sache nicht weiterkommt, bemüht man sich um Deeskalation, die momentan nur darin besteht, dass man überhaupt noch miteinander redet. Die Entspannung ergibt sich aus der Diplomatenhoffnung, wer miteinander redet, schießt wenigstens nicht. Parallel dazu entwickeln sich die aus der Vergangenheit vertrauten Mechanismen der Blockkonfrontation.

Die Logik der Abschreckung durch Stärke

Die Unterstellung, Russland plane unmittelbar einen militärischen Griff nach der Ukraine, evtl. sogar gleich im Verbund mit Belarus und den baltischen Staaten, fordert von der NATO entschiedene Geschlossenheit und Bereitschaft zu schwerwiegenden Antworten, die so abschreckend sein müssen, dass Moskau seine Pläne begräbt. Schon heute steht fest, dass die unterstellten Absichten Russlands nur wegen dieser einheitlichen Abschreckungsfront konterkariert wurden, völlig unabhängig davon, ob das überhaupt die Ziele waren. Aus der Zeit des Kalten Krieges lernt man, weil die Abschreckung funktionierte, gab es keinen Krieg und nicht umgekehrt, die Abschreckung funktionierte, weil keiner einen Krieg wollte. So wird die militärische Abschreckung (wieder) zum Rückgrat der Außenpolitik.

Nun gibt es mittlerweile bei der westlichen Dramaturgie der „Krieg in Sicht“-Stimmung einen mittelmäßigen Kollateralschaden, der eigentlich zum öffentlichen Innehalten einladen müsste, der aber in der öffentlichen Wahrnehmung im Westen kaum zur Kenntnis genommen wird. Ausgerechnet der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyi überraschte vergangene Woche, am Freitag, den 28. Januar, als die USA die Reduzierung ihres Botschaftspersonals meldeten, die Öffentlichkeit mit der Mahnung, man solle die Gefahren nicht übertreiben und mokierte sich speziell über die „Panikmache“ in den USA. Es gäbe aktuell keinen Krieg. Das Leben verliefe normal und selbst im „russisch besetzten Osten“ herrsche Ruhe. Verteidigungsminister Olekij Resnikow relativierte zeitgleich die Gefahr einer „bedeutenden Eskalation“, zu befürchten sei vielmehr eine „innere Destabilisierung“. Offen blieb, ob diese wie früher durch russischen Einfluss auf die innenpolitische Machtverteilung in Gestalt moskautreuer Vasallen (momentan nicht sichtbar) oder durch andere interne Machtkämpfe zu befürchten sei.

In diese Richtung zielte wohl ein in dieser Woche vom Pentagon-Sprecher John Kirby publik gemachtes Propaganda-Video, das der Kreml angeblich als Vorwand für einen „Angriff unter falscher Flagge“ entwickelt, um dann eine prorussische Regierung in Kiew zu installieren. Doch dafür fehlen nicht nur Belege, es fehlt sogar das Video, denn das solle erst noch gedreht werden. Solche Meldungen begleiten den Medienkrieg.

Parallel gab es in aber auch in Washington eine veränderte Lageeinschätzung. Am 3.2. verkündete Jen Paski, die Sprecherin von US-Präsident Biden, eine semantische Abrüstung, als sie mitteilte, sie werde einen russischen Einmarsch nicht mehr als „unmittelbar bevorstehend“ bezeichnen. Fortan könne er aber „jederzeit“ erfolgen. Die ursprüngliche Formulierung habe für Irritationen gesorgt, da er suggeriere, man wisse von einer Entscheidung Putins über einen Einmarsch. Der französische Außenminister Jean-Yves Drian erklärte am 1.2., er sehe „keinen Hinweis darauf, dass Russland zu einem Eingreifen in der Ukraine bereit ist.“ (Tagesspiegel v. 2.2.2022)

 

putin

 

Selenskyis Bericht über den Zustand in seinem und um sein Land passten nicht so recht zu der Alarmstimmung in den westlichen Medien. In der deutschen transatlantischen Einheitsfront vom SPIEGEL über DIE ZEIT bis zur FAZ fanden sie nur verspätet spärliche Beachtung. Stattdessen wurde verstärkte Solidarität an der Seite der Ukraine gegen den erneut enttarnten russischen Buhmann einklagt. Und diese müsse nun weiter gehen als die üblichen Wirtschaftssanktionen, an deren Spitze die Kappung der Gaspipeline Nord Stream II stehen müsse. Rufe nach Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht nur in der CDU als Beweis der dringend zu demonstrierenden Bündnistreue lauter.

Mangelnder Bündnistreue sehen sich die Ampelkoalition insgesamt und die auf Verhandlungen und Ausgleich bedachte SPD insbesondere ausgesetzt. Die SPD gerät zudem unter Verdacht, Moskaus fünfte Kolonne zu sein. Um dieser Schande, die Ex-Kanzler Schröder mit seiner Bemerkung über das „Säbelrasseln der Ukraine bediente, zu entkommen, melden sich auch dort die mahnenden Stimmen besorgter Atlantiker – allen voran Ex-Außenminister und Ex-Parteivorsitzender Gabriel – und empfehlen zum Beweis der Bündnistreue und Verlässlichkeit eine Überprüfung der bisherigen Haltung zu Waffenlieferungen, die nun von der Ukraine unmittelbar gefordert werden. Mangel an Konsequenz liegt dagegen dem gesamten Agieren des Bündnisses zu Grunde. Wenn die Lage so ernst ist, wie sie gezeichnet wird, dann sind die bisherigen Drohungen mit Wirtschaftssanktionen schlicht lächerlich. Alles, was unterhalb direkter Militärhilfe bis hin zu Bodentruppen angeboten wird, hieße dann, die Ukraine Putin zum Fraß vorzuwerfen.

Das Dilemma der Ukraine

Die Ukraine ist aber auch das Opfer ihres eigenen Alarmismus. Den brauchte sie zum einen, um ihre Nichterfüllung der Forderungen aus dem Minsker Abkommen zu überspielen und zum anderen um ihren sehnlichsten Wunsch, Mitglied der NATO zu werden, wach zu halten und neue Stärke zu verleihen. Dafür ist eine anschauliche äußere Bedrohung mehr als hilfreich. In Kiew unterschätzte man allerdings die weniger spektakulären Nebenfolgen eines solchen „Krieg in Sicht“- Strategie.

Die neuen Eliten der befreiten Länder des ehemaligen Ostblocks lieben offensichtlich den Kapitalismus. Seine feinen Mechanismen haben die Ukrainer aber nicht beachtet. Das Kapital ist mächtig, aber das Kapital ist kein Held, sondern bekanntlich ein „scheues Reh“. Entgegen der Legende vom mutigen, schöpferischen Unternehmergeist, der kein Risiko scheut, schätzt das investive und besonders das Finanzkapital unsichere Situationen ganz und gar nicht. Ein Land, das auch nur den Anschein erweckt, von einem Krieg heimgesucht zu werden, der sich zudem an der Nahtstelle von Ost und West zu einem Betriebsunfall ungeheuren Ausmaßes auswachsen kann, ist kein sicherer Hafen für Geldanlagen. Das bekam die Ukraine schneller zu spüren als der Führung lieb sein konnte. Die wirtschaftlichen Folgen der rasanten Kapitalflucht wiegen für die Ukraine schon jetzt schwerer als alle angedrohten Wirtschaftssanktionen gegen Russland.

Aber der ukrainische Präsident hat mit seinem Entwarnungskurs auch Hardliner wie Vitali Klitschko, den Kiewer Bürgermeister, als Gegner herausgefordert. Klitschko verlangt in einem Gespräch mit DIE ZEIT vom 3. Februar 2022 von Deutschland nicht nur, sich von Nord Stream 2 wegen der drohenden Abhängigkeit von russischer Energie zu verabschieden. Wirtschaftssanktionen reichten nicht aus, um Putins Machthunger nach Wiederherstellung des „sowjetischen Imperiums“ entgegenzutreten, Deutschland müsse Abschied nehmen von seiner restriktiven Waffenlieferungspolitik in Krisengebiete, denn es gehe hier nicht nur um die Ukraine, sondern „um die Stabilität ganz Europas“, da Putin auch das Baltikum zurückerobern wolle.

Und was hat Putin nun erreicht?

Was genau Putins Träume sind, bleibt vorerst ein Geheimnis. Ob das auch die Träume Russlands sind, ist eine andere wichtigere Frage. Eine Invasion in die Ukraine zwecks deren Besetzung gilt als höchst unwahrscheinlich, weil es dazu an verlässlichen Unterstützern (politische und militärische fellow travellers) vor Ort fehlt und die eigenen Militärkapazitäten für eine vollständige Beherrschung der Ukraine nach übereinstimmenden Expertenbefunden nicht ausreichen.

Die Manöver in Belarus vom 10. bis 20 Februar als zusätzliche Vorbereitung eines Einmarsches in die Ukraine zu werten, ist mit Blick auf die Landkarte zwar verführerisch, aber wenig plausibel. Den Aufmarsch an der ukrainischen Ostfront als ein Ablenkungsmanöver für die deutliche Erhöhung der Militärpräsenz in dem weiteren gefährlichen Krisengebiet Belarus zu interpretieren, wo es gilt, Russlands Einfluss auch nach Lukaschenko abzusichern, bevor dort eine weitere Reformwelle ein autokratisches Regime knackt, die sich dann ihre äußere Existenz von der NATO absichern lässt, ist zwar denkbar, aber doch sehr konstruiert. Außerdem gilt jetzt als gesichert, dass die gerade belebte Allianz mit China das Versprechen entschließt, eine weitere Eskalation mit Rücksicht auf die Olympischen Winterspiele in Peking zu vertagen.

Was bleibt jenseits solcher weitgesteckten Ziele an politischen Motiven übrig? Hat Putin ernsthaft darauf spekuliert, mit seiner als Manöver getarnten Drohkulisse eine formelle Zusage des Westens für die Grenzen der NATO Erweiterung zu bekommen? Wohl kaum. Das Spiel mit der militärischen Drohkulisse, um sich Gehör in Washington zu verschaffen, war im Frühjahr vorigen Jahres ein Erfolg, als Biden und Putin sich im Juni trafen und Moskau seine Panzer und Soldaten an der ukrainischen Grenze wieder abzog. Aber das lässt sich nicht beliebig wiederholen.

Dennoch ist es Putin auch diesmal gelungen, die ungeliebten Europäer in einer genuin europäischen Sicherheitsfrage an den Katzentisch zu setzen. Aber eine durchaus erwünschte Spaltung in USA und Europäer sowie der Europäer untereinander funktioniert nur bedingt. Unterm Strich wird es in diesem Ukrainekonflikt einen Gewinner geben: die NATO! Denn gemessen daran, dass noch vor zwei Jahren der französische Präsident Macron der NATO nahezu unwidersprochen den „Hirntod“ attestieren konnte und es nach der Flucht des Westens aus Afghanistan im letzten Sommer Konsens war, dass die gesamte westliche Sicherheitspolitik auf den Prüfstand gehöre, weil nun mal wieder nichts mehr sei wie zuvor, steht die Allianz heute sehr komfortabel da.

Die NATO weiß nun wieder, wozu sie gebraucht wird und was ihre Daseinsberechtigung ist. Putin hat genau die Formation gestärkt, deren weitere Ausdehnung er verhindern will. Das aber kann nicht sein Ziel gewesen sein. Folglich ist mindestens in Bezug auf dieses Zielkriterium seine Politik gescheitert. Da er aber mangels anderer Möglichkeiten außer mit Militär nichts hat, mit dem er seine Gegner herausfordern kann, offenbart sich hier das gesamte Elend seiner Machtpolitik und die Lage Russlands mit seinen bescheidenen Machtressourcen.

Was zu tun wäre

Sollen diese Konflikte nicht zur Dauereinrichtung werden, bedarf es allerdings weit mehr als einer Reaktivierung der NATO gegen Russland, oder gar im Verbund auch gleich gegen China. Erforderlich wäre eine europäische Sicherheitsordnung, getragen von den Europäern unter Einschluss Russlands. Sicherheit in Europa kann es dauerhaft nicht gegen, sondern nur mit Russland als „gemeinsame Sicherheit“ geben. Dazu werden beide Seiten ein paar Fakten als solche schlucken müssen. Weder wird Russland die Ukraine zurückbekommen noch die Ukraine die Krim. Einflusszonen, die sich auf die innere Entwicklung der Länder auswirken, müssen in einem kollektiven Sicherheitssystem überwunden werden. Gewinnen könnten alle, wenn die innere Entwicklung aller Länder in ihre Souveränität fallen würde, jenseits von Militärbündnissen.

Mit diesem „frommen Wunsch“ wäre dieser Artikel eigentlich am Ende. Aber ein weiteres Ereignis am Freitag verlangt einen Nachsatz. Am Vorabend der Olympischen Spiele in Peking kam es zu einem Treffen Putins mit Xi Jimping, dem allmächtigen chinesischen Staatsoberhaupt. Neben den zu erwartenden Nettigkeiten und gemeinsamen Energiegeschäften fügte die chinesische Führung in einer ungewöhnlich langen gemeinsamen Stellungnahme ihre Unterstützung für Russlands Forderung nach verbindlichen Sicherheitsgarantien durch den Westen ein, die sich auch gegen die Erweiterung der NATO und gegen deren „ideologischen Ansätze der Ära des Kalten Krieges“ ausspricht. Zurückgewiesen werden Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, gefordert der Respekt für deren „Souveränität, Sicherheit und Interessen“.

Das ist zwar alles substanziell nichts Neues, aber es sei die These gewagt, von hier an beginnt mit einer „Achse Peking-Moskau“ eine neue Ära der Weltpolitik. Diese neue Allianz, die sich „strategische Partnerschaft“ nennt, wird der ohnehin brüchig gewordenen amerikanischen Weltordnung den gemeinsamen Kampf ansagen. Und hier liegt möglicherweise auch ein Kern für Putins Verhalten und Pläne. Der Aufmarsch an der Grenze zur Ukraine war der letzte Versuch, mit den USA über die Sicherheit in Europa zu einem einvernehmlichen Arrangement zu kommen. Das muss als so gut wie gescheitert betrachtet werden. Putins Russland wird seinen Blickwinkel nun verstärkt in Richtung Südostasien wenden, wo mit dem „asiatischen Jahrhundert“ als Nachfolge des amerikanischen ohnehin das Schwergewicht der künftigen Weltpolitik liegen wird. Im Verbund mit China sieht Russland bessere Chancen, als regionale Weltmacht an dieser Neuordnung der Welt jenseits des Westens mitzuwirken, als sich vom Westen „vorführen“ zu lassen.

Ob dem Westen in seinem Kampf gegen China damit geholfen ist, dass er daran mitwirkt, Russland in die Arme ihres Hauptkonkurrenten zu treiben, darf bezweifelt werden. Aber das ist Zukunftsmusik, vorerst geht es bei uns wohl um die Verteidigung der Freiheit der Ukraine.

 

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