Kurze Skizze zur Geschichte der Ukraine im Verhältnis zu Russland

Der Name „Ukraine“ sagt schon viel über die Besonderheit dieses Landes: Er bedeutet „Grenzland“

Im gegenwärtigen Krieg in und um die Ukraine spielt in der Begründung dieses Krieges die Frage, ob und in wieweit die Ukraine eine selbständige Nation immer schon war und nun ist, eine wichtige Rolle. Da hier die Geschichte als Argument für Besitzansprüche (der Russen) und Recht auf Eigenständigkeit (der Ukrainer) geltend gemacht werden, begibt man sich auf das Gebiet der „Geschichtspolitik“. Während Putin der Ukraine ihre staatliche Existenz bestreitet, weil sei immer ein Teil Russlands gewesen sei, argumentieren die Ukrainer, dass sie nicht nur ein wesentlicher Teil der historischen Genese des späteren Russlands waren, sondern sich ethnisch und kulturell durch eine eigene Sprache und Religion immer als eigene Nation verstanden hätten und darum auch mehrfach politisch als eigener Staat gekämpft hätten, aber von „Großrussland“ daran gehindert und mit unterdrückt worden seien.

In der europäischen Kulturgeschichte liegt das „Grenzland“ Ukraine als Teil der ostslawischen Völker und Teil der orthodoxen Richtung des Christentums in zusätzlicher Abgrenzung wie Prägung durch die byzantinische Kirche im Einzugsbereich Russlands, abgegrenzt von den westslawischen Völkern auf dem Balkan und dem östlichsten Vorposten des lateinischen Europas, dem katholisch-römischen Polen. Für die Ukraine kommt erschwerend hinzu, dass das Territorium zumeist von „fremden“ Herrschern, vorzugsweise Polen-Litauen, Polen und vor allem dem Habsburgerreich beherrscht und dominiert wurde und die ukrainische Ethnie mit dem Territorium nie identisch war. Die Ukraine wurde die wandernde Westgrenze des großrussischen Zarenreiches.

Die Wiege der ostslawischen Völkergemeinschaft steht in Kiew. Die Steppenlandschaft im Süden war Tummelplatz sich abwechselnder Nomadenvölker wie den Skythen und Tataren. Eine artikulierte Geschichte setzt ca. 860 mit der Gründung Kiews als der „Stadt aller Städte“ ein. Hier wurde der Grundstein für jenes Russland gelegt, das sich zunächst aus drei ostslawischen Volksstämmen speiste. Dem „Kiewer Rus“, später als von den Moskowitern als „Kleinrussen“ bezeichnet, den Weißrussen (relativ konstant bis heute noch in Belarus) und den Russen, die später nach dem Intermezzo der Mongolenherrschaft der „Goldenen Horde“  im 13. Jahrhundert und den anschließenden Tartareneinfällen sowie der  Abschüttelung der Herrschaft durch Polen-Litauen konstituierte sich parallel zum Ende des Byzantinischen Reiches (1453) durch den Sieg des Osmanen, konstituierte sich das neue Reich der Moskowiter als das „Dritte Rom“ mit der russisch-orthodoxen Kirche als geistliche Macht und dem Zaren als weltliche.

Unter dem ersten russischen Zaren Iwan IV. (1533/47 – 1584) begann dann von dem neuen Machtzentrum Moskau aus, das mit seiner finnischen Sprachwurzel noch von dem Einfluss der nordeuropäischen Wikinger auf die Geschichte Russlands Zeugnis ablegt, ein systematischer Eroberungszug in die Umgebungen zur Erweiterung und Festigung des Herrschaftsgebietes, insbesondere gegen die Tartareneinfälle aus dem Osten und Süden. Nach Innen erwarb sich Iwan mit seiner Vernichtung des alten Bojarenadels den Ruf „der Schreckliche“.  Seine Zerstörungswut beschränkte sich nicht auf diese Gruppe, sie richtete sich schließlich gegen die gesamte Bevölkerung, Zerstörung von Städten wie Twer und Nowgorod und die Deportationen führten zugleich zu Massenfluchten und einer Entstehung einer „zweiten Leibeigenschaft“.

Daraus ergab sich dann paradoxerweise eine als „Zeit der Wirren“ genannte Periode des Übergangs der Zarenherrschaft zu der Dynastie der Romanows. Mit ihr begann eine neue Expansionswelle nach Süden und Osten. Die Eroberung Sibiriens vollzog sich unter der Ägide des Nowgoroder Kaufmanns Stroganow ab 1582, schon 1648 war der Pazifik erreicht. Im selben Jahr brach en Aufstand der „Chmelnitzki-Aufstand der Dnjeprkosaken“ aus, und beflügelte die Expansion in den Südwesten des Reiches.

Die Kosaken waren das Ergebnis entlaufender Bauern, die der drückenden Leibeigenschaft in Richtung Süden entflohen, sich dort mit den eingerückten Tartaren verbündeten und eigene auf persönlicher Freiheit beruhende Herrschaftsverbände gründeten, die ihre „Hetmane“ (Hauptmänner) selbst wählten. Mit ihrer halbnomadischen Lebensform gerieten sie immer wieder zwischen sämtliche Fronten, zunehmend mit den von Polen beherrschten Gebieten. Hier nun spielte der Aufstand unter dem ukrainischen Nationalhelden Bogdan Chmelnitzki gegen die Polen (1648-1654) sowie im Krieg gegen Russland (1654-1667), der 100000 Juden in schrecklichen Massakern das Leben kostete, eine für den ukrainischen Nationalmythos herausragende Rolle. Seither gilt die Ukraine als „Kleinrussland“ als Teil Großrusslands.

Um diese Frage gibt es einen massiven Streit, denn die ukrainische Geschichtsschreibung sieht diesen Akt als erzwungen an, Großrussland dagegen interpretiert es als freiwilligen Beitritt bzw. Unterwerfung.

Mit der späteren Annexion des Krimhanats im Jahre 1783 durch Katharina der Großen kam ein Teil des Südens der heutigen Ukraine zu Russland und damit begann unter Potemkin die Umwandlung der Steppe in die „Kornkammer“. Mit der Russifizierung der Ukraine einher ging gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung im Donezbecken im Osten der Ukraine. Die westliche Kornkammer der Ukraine diente primär als Exporte der Finanzierung der Industrialisierung und provozierte bei Missernten schwere Hungersnöte bei den Bauern. (1891/1892)

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich in der Ukraine ein kultureller und auch politischer ukrainischer Nationalismus begleitet von einer „Dekomposition“ Russlands. Im Zuge der russischen (Februar-) Revolution 1917 entstand die unabhängige Ukrainische Republik, die Anfang Januar 1918 in die Verhandlungen zum Frieden von Brest-Litowsk platzen und mit den Mittelmächten einen Separatfrieden schloss. Die Ukraine wurde zu diesem Zeitpunkt weder von den Bolschewiki noch von den Deutschen kontrolliert. Nach dem Sturz des Zaren hatte sich in Kiew mit der Rada ein eigenes Parlament als Vertreter der souveränen Ukraine konstituiert, das sich zwar auf die politische Forderung der Bolschewiki nach dem Recht auf Selbstbestimmung der Nationen bzw. Völker, das explizit gegen den großrussischen Imperialismus gerichtet war, stützen konnte, dies aber nicht nur für den Ausstieg aus der Abhängigkeit Großrusslands nutzte, sondern mit dem Separatfrieden aus Sicht der Bolschewiki der Revolution zugunsten der feindlichen Mächte in den Rücken fiel. Von dem „Brotfrieden“, der am 9. Februar 1918 geschlossen wurde, erhofften sich die Deutschen – und auch die Verbündeten, insbesondere Österreich-Ungarn – die dringend notwendigen Getreidelieferungen. Fortan wurde die Ukraine bis zur Eingliederung in die UdSSR nach dem Sieg der Bolschewiki 1922 Kampfplatz innerer Kämpfe mit den Bolschewiki während des Bürgerkrieges sowie der sich daran anschließenden äußeren Einmischung Polens und der Ententemächte.

Die unter Stalin verursachte „künstliche Hungersnot“ 1931/32 im Zuge der Zwangskollektivierung trug vermutlich maßgeblich mit dazu bei, dass ein Teil der ukrainischen Bevölkerung den Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Juni 1941begrüßte und sich davon eine Befreiung vom Bolschewismus versprachen. Und in der Tat stellten die Ukrainer einen erheblichen Teil der Freiwilligen, die für die Nazis kämpften und sich an Massenexekutionen gegen Juden und Funktionäre des „jüdischen Bolschewismus“ beteiligten. Sie übersahen geflissentlich, was die Bevölkerung dagegen unmittelbar zu spüren bekam. Hitlers Schergen kamen nicht als Befreier, sondern als Eroberer und Unterdücker. Auf ausdrücklichen Befehl des Führers sollte hier kein „normaler“ Krieg geführt werden, er wurde als ein „Weltanschauungskrieg“ deklariert, der die Regeln des Kriegsvölkerrechts außer Kraft setzte und als Vernichtungskrieg geführt wurde. Die Ukrainer gehörten als Slawen zu einer minderwertigen Rasse, die entweder auszurotten waren oder als Arbeitssklaven dienen sollten.

Ein erneuter Anlauf zur Selbständigkeit als Staat ergab sich für die Ukraine 1991im Zuge der allgemeinen Dekomposition der UdSSR, womit der komplette Zusammenbruch der Sowjetunion besiegelt wurde. Aber die mit großer Zustimmung erfolgte Unabhängigkeit gebar keine einträchtige Nation, sondern ein faktisch zunächst kulturell, ökonomisch und auch politisch wie geografisch tief gespaltenes Land, das seinen Weg zwischen Ost und West neu finden musste und darin zunehmend zerrissen wurde, weil die Entscheidung zu einer Himmelrichtung zugleich eine Entscheidung von weltpolitischer Bedeutung wurde.

Paradoxerweise hat Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 die historisch wie ethnisch umstrittene Frage nach der Existenz einer eigenständigen ukrainischen Nation in moderner Weise entschieden. Der Widerstand gegen diesen Barbarenakt konstituiert die Ukraine als eine Staatsbürger- und nicht mehr als eine „Abstammungsnation“. Die Herausforderung liegt nun darin, dass die Feindschaft zu den russischen Okkupanten nicht zum alleinigen und entscheidenden Kern einer nationalen Identität wird, sondern das politische Bekenntnis zu einer demokratischen freiheitlichen Ordnung. Kulturpolitische Maßnahmen, alles Russische aus der ukrainischen Kultur zu entfernen, sind dabei keine ermutigenden Wegzeichen.

 


Ein paar Literaturtipps:

Creuzberger, Stefan: Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung. Hamburg 2022

Eltchaninoff, Michel: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Stuttgart 2022

Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution von 1891 bis 1924. Berlin 1998

Gitermann, Valentin: Geschichte Russlands I-III. Zürich 1944-1949

Hildermeier. Manfred: Die Sowjetunion 1917-1991. Berlin / Boston 2016

Hosking, Geoffry: Russland. Nation und Imperium 1552-1917. Berlin 2003

Jobst, Kerstin J.: Geschichte der Ukraine. Stuttgart 2022

Kappeler, Andreas: Geschichte der Ukraine. München 2014, aktualisierte Aufl. zuletzt 2022

Kellmann, Klaus: Dimensionen der Mittäterschaft. Die europäische Kollaboration mit dem Dritten Reich. Wien 2019, insb. S. 377 -408

Plotkhy, Serhii: Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konfliktes wurde. Hamburg 2021

Schlögel, Karl: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München 2013

 

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