Prof. Dr. Rolf Wortmann: Die Kriegsziele im eskalierenden Ukrainekrieg

All jene, die heute die Deutungshoheit über Putins Krieg gegen die Ukraine übernommen haben, weil sie schon immer wussten, was Putin will oder schon immer wollte, können uns weder sagen, ab wann man wissen konnte, was er genau wollte und auch nicht, was genau sein(e) Kriegsziel(e) in der Ukraine sind.

Die Klarheit der Kriegsziele kommt auch auf der anderen Seite ins Wanken. Der Berater des ukrainischen Präsidenten Mychailo Podoljah erklärte am 28. April 2022 das Recht auf Selbstverteidigung schließe auch „mögliche Angriffe auf militärische Ziele in Russland“ ein. US-Außenminister Blinken soll diese „Strategie der Vorwärtsverteidigung“ bei seinem Besuch in Kiew zur freien Entscheidung der Ukraine erklärt haben. Die USA haben ihr Kriegsziel ebenfalls neu definiert. Ob das alles in der Nato abgestimmt wurde, ist nicht bekannt.

 

Was sind die Ziele Putins ?

Das man über Putins Ziele eigentlich nichts Genaues weiß, muss nicht an der Dummheit der Analytiker liegen, sondern liegt in der Logik des Strategen begründet. Wer seine Kriegsziele öffentlich kundtut und präzise definiert, der macht deren Zielerreichung auch überprüfbar. Vermutlich glaubte er wirklich, dass seine Truppen von nach Befreiung lechzenden Ukrainern jubelnd empfangen würden und die „militärische Spezialoperation“ in Kürze erledigt wäre. Hätte er das vorher öffentlich als das Ziel der „Operation“ verkündet, stünde er heute dar wie ein begossener Pudel, der von seinem eigenen Volk des Größenwahnsinns bezichtigt würde. Er tat dergleichen nicht.

Denn Krieg führen wird bei ihm zum Teil seiner politischen Legitimation, und da wäre es sehr dumm, sich solchen Überprüfbarkeiten auszusetzen. Das machte er bislang bei keinem militärischen Eingriff. Dieses Gebot gilt umso mehr, wenn die Zielmarken der einzelnen Kriege in einem sehr viel größeren Kontext stehen, in dem sie nur Etappen oder Meilensteine sind, die man auch aussetzen und in anderer Weise wieder neu fortsetzen kann. Erkennbare Niederlagen sind ausgeschlossen, faktische müssen noch als Siege verkaufbar sein. So verschafft man sich Opportunitäten für die Verfolgung langfristiger Strategien.

Putin folgt diesem Muster. Die Kriegsrede am 24. Februar und die Propaganda legen zwar nahe, dass das vom Westen ferngesteuerte „Naziregime“ in Kiew beseitigt, der drohende „Genozid“ der russischen Bevölkerung in der Ukraine verhindert und die „historisch“ illegitime Ukraine „demilitarisiert“ werden müsse. Davon ist momentan nicht (mehr) die Rede.

Natürlich ist auch nicht die Rede von den politischen Niederlagen, die Russland mittlerweile eingesammelt hat. Putin wirkt, als das mittlerweile personifiziert Böse, wie Mephisto, als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Durch seinen Angriff ist die Ukraine erst zu jener modernen Nation geworden, die sich nicht mehr aus den Annalen einer umstrittenen Geschichtserzählung als ethnische oder Kulturnation speist, die ihr die großrussische Geschichtsschreibung putinscher Provenienz abstreitet und als einen ihrer Kriegsgründe anführt. Putin hat mit seinem Angriff die Ukrainer zur politischen Staatsbürgernation im Sinne des französischen Philosophen Ernest Renan geformt, wonach die Nation vom „täglichen Plebiszit“ ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt. Daraus bezieht sie jetzt ihre Kraft, weil durch Putins imperialen Anspruch die Bevölkerung der Ukraine ihren gemeinsamen Willen zur politischen Nation nicht auf vorsintflutlichen Quellen gründet, sondern sich als selbständige politische Nation in demokratischer Selbstgestaltung konstituiert.

Zudem ist es Putin gelungen, eine dem Sinnverlust anheimfallende Nato und einen sich auflösenden Westen wiederzubeleben. Man stelle sich allerdings auch vor, ein Trump wäre noch im Weißen Haus. Er hat auf einer Veranstaltung der Republikaner unlängst verraten, was seine Antwort gewesen wäre: Eine Atombombe auf den Kreml und um die gleiche Antwort von dort zu umgehen, es den Chinesen in die Schuhe zu schieben und sich dann anzuschauen, wie sich die beiden Feinde Amerikas anschließend zerfleischen. Das hört sich zwar nach einem schlechten Witz an, ist es aber nicht. Vielleicht hätte Putin mit Trump im Weißen Haus von seiner Unternehmung gerade wegen dessen Unkalkulierbarkeit Abstand genommen, denn Irre sind genau deshalb abschreckender. Aber es hätte mit Trump auch keine Einheit eines Westens gegeben und schon gar keine gemeinsame Front für einen erneuten Kampf für die universalen Werte der liberalen Demokratie, die Trump bekanntlich selber bekämpft.

Wenn Putin glaubte, mit Biden ein leichteres Spiel zu bekommen, hat er sich gründlich verkalkuliert. Was also sind nun Putins Kriegsziele? Die Abschaffung der Ukraine durch Wiedereingemeindung in den „Volkskörper“ Russlands, die Vernichtung des „missratenen“ und durch westlichen Kulturschund verseuchten vom Christentum abgefallenen ukrainischen Volkes, wie es der Führer der russisch-orthodoxen Kirche mit Putins Beifall predigt? Soll das Volk der Übernahme des heiligen und eigentlich russischen Bodens weichen? Das wäre geopolitisch gewendet primär Raumeroberung statt Unterjochung (oder Befreiung) des Volkes.

Nimmt man all die letztlich „völkischen“ Phantasien auch im Umkreis Putins als Wegweiser der Suche nach Sinn und Zweck dieses Krieges, ist vieles denkbar und möglich. Es zeichnet sich aber ab, dass es um Sicherheitsinteressen Russlands gegenüber dem Westen, also dem Streit um die Osterweiterung der Nato, nicht mehr geht. Je länger der Krieg dauert, je mehr die Verluste sich summieren und die Kosten steigen, desto höher müssen am Ende die Gewinne sein. Das heißt, die Kriegsziele wachsen mit den Kosten des Krieges bis zu einem Punkt, wo eine Seite kapitulieren muss. Das ist eine Erfahrung und Lehre des Ersten Weltkrieges. Und da diese Logik für beide Seiten gilt, wird ein nachhaltiger Friedensschluss immer schwieriger.

Dass die „militärische Spezialoperation“ nun entgegen den Erwartungen wohl länger dauern und zunehmend auch für Russland die Form eines „formellen“ Krieges annehmen wird, ist für Putin zunächst kein bestandsgefährdendes Ereignis. Das politische Herrschaftssystem bietet ihm alle Vorteile, Putin ist kein von Wahlen als Erfolgsbarometer gejagter Parteifunktionär, die Zeit arbeitet eher für als gegen ihn. Der Krieg kann sich ohne permanenten Erfolgsdruck in verschiedenen Formaten und Intensitäten als Schwel- oder Dauerbrand hinziehen. Besatzer ertragen das leichter als Besetzte. Die Funktion, den „eigentlichen“ Feind, den Westen, mit einer militärischen Dauerkonfrontation an der unmittelbaren Grenze im Osten zu destabilisieren, könnte er damit auf alle Fälle erreichen. Wenn Putin der ist, wofür er nun nach seiner Demaskierung überwiegend gehalten wird, dann dürfte das ein sehr wahrscheinliches Szenario sein, was immer auch sein (und irgendwann muss man auch über seine Anhänger und Nachfolger sprechen) „letztes Ziel“ ist. Nach dieser Logik, könnte er bei Bedarf aussteigen und einfach erklären, das gesetzte Ziel sei erreicht. Die Länge des Krieges wird wahrscheinlich für die Ukraine und ihre Verbündeten zum größeren Problem.

Das alles könnte man auch als nutzlose Spekulationen betrachten. Geht aber nicht! Denn von der Interpretation der putinschen Kriegsziele hängen – jedenfalls momentan – auch die „Kriegsziele“ der Ukraine und damit „unsere“ ab. Solange die sich in emphatischen Deklarationen der Verteidigung der Freiheit, der Menschenrechte und der Werte des Westens bzw. Europas bewegen, bedienen sie den moralischen Input, der sich in definierbare Kriegsziele schwer umsetzen lässt und sich jenseits der Sphäre von Interessen bewegt.

Wenn es heißt, Putin dürfe nicht siegen oder seine Ziele erreichen und das sei das Ziel der ukrainischen Verteidigung und Grund wie Maßstab unserer Militärhilfe zur Selbstverteidigung, dann wird die Frage, was die zu verhindernden Ziele Putins sind, zur zentralen Frage. Wird primär die staatliche Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine verteidigt, heißt das dann, Putins Ziele sind dann durchkreuzt, wenn er den Donbass räumt, den Süden der Ukraine natürlich ebenfalls und auch die Krim? Der Logik des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ gemäß kann darüber nur die Ukraine selbst als Souverän entscheiden, und wir müssen deren Entscheidung akzeptieren. Wenn die Ukraine aber allein über die Friedensbedingungen entscheidet, sind die mittlerweile als Waffenlieferanten zur Solidarität verpflichteten in der Hand der Ukraine. Was aber wäre, wenn die Ukraine Friedensbedingungen stellt, die von der Unterstützergruppe nicht mehr oder nicht mehr vollständig und einheitlich geteilt werden? Bei den Verhandlungen der Ausführungen des Minsker Abkommens haben sich ukrainische Nationalisten nicht gerade kompromissbereit gezeigt.

Was ist, wenn Russland sich damit „begnügt“, einen Südgürtel ohne Odessa und Umgebung einschließlich Teile des Donbass und der Krim für sich zu reklamieren und dafür die territoriale Integrität der Restukraine anerkennt? Das wäre bei der derzeitigen Führung der Ukraine Verrat. Aber was ist dann das „Kriegsziel“ der Ukraine, oder was heißt der läppisch dahin geworfene Satz: die Ukraine wird siegen? Über wen? Herrscht erst Frieden, wenn Putin nicht mehr da ist, wo er jetzt ist. Ist ein Regimewechsel die Voraussetzung für einen Frieden oder auch nur für einen dauerhaften Waffenstillstand?

Ein Regimewechsel wäre realistischerweise nur denkbar als Folge einer Palastrevolte im Kreml (wo aber die Nachfolger auch noch zufriedengestellt werden müssten) und setzt voraus, dass Moskau militärisch nicht weiterkommt und mit seinem begrenzten Latein am Ende ist. Das setzt Putins Ende und seines Systems voraus, denn ohne Bemühungen einer Psychoanalyse dieser Unperson ist klar, dass eine Niederlage für ihn ausgeschlossen ist. Sie wäre nicht nur sein persönliches Ende, sie wäre auch das Scheitern des von ihm verkörperten Politikmodells. Ob es auch das Ende des „großrussischen Traums“ für seine offenkundig zahlreichen Gefolgsleute und Anhänger wäre, bleibt offen. Wahrscheinlich ist dagegen, dass Putin eher jede Stufe der Eskalation erwägen und ziehen wird, um nicht um Frieden bitten zu müssen.

Ein weiteres Problem ist, dass selbst ein wenig realistisch erscheinender Aufstand des russischen Volkes für die ukrainische Führung eine schwierige Hilfe wäre, wenn die Feinddeklaration des ukrainischen Botschafters in Deutschland gilt, dass nicht Putin allein, sondern das russische Volk der Feind ist.

 

Die Eskalation des Kriegseinsatzes und der Ziele im Westen

Bei dem sich abzeichnenden Überbietungswettbewerb bei der Lieferung „schwerer“ Waffen für die Ukraine unter den Nato-Mitgliedern, wo jeder an der Spitze des westlichen Freiheitskampfes für das unterdrückte ukrainische Volk stehen will, denn am Tage danach werden hiernach die Lorbeeren und Gewichte verteilt, wird die „Nichtbeteiligung“ der Nato als Kriegspartei täglich fragwürdiger. Je länger der Krieg dauert, desto sicherer wird, dass er entweder auf einen Show-down hinausläuft oder zu einer unendlichen Geschichte eines Schreckens ohne Ende wird.

Was auf Seiten der Russen im Verborgenen gehalten bleibt, aber zunehmend im Westen zur Gewissheit aufsteigt, ist die These, dass die Ukraine nur der Anfang ist. Wird die Ukraine erfolgreich vereinnahmt (wie und in welcher Form auch immer), stehen als nächstes Moldawien und dann die baltischen Staaten auf Putins Speiseplan. Als Beleg dafür dienen Putins Aussagen von 2005, der Zusammenbruch der „Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sowie jüngere Äußerungen in den letzten Jahren zur Russischen Geschichte, die nicht nur der Ukraine ihr historisches Recht als eigene Nation absprechen, sondern Ideen einer notwendigen Restauration eines großrussischen Reiches in den Räumen der früheren Sowjetunion als geopolitisches Gegengewicht – im Verbund mit China – zur amerikanischen Weltordnung entwickeln. Das Ziel ist demnach eine in regionale Großmächte in abgesteckte Einflusszonen geteilte multipolare Weltordnung, wo die Regeln nicht mehr universell (also faktisch durch den Westen und die USA) gesetzt werden, sondern unterschiedlich, je nach Kultur und Interesse der jeweiligen Großmächte in ihrem Wirkungskreis. Zu bedenken ist, dass die großrussischen Apologeten, Georgien und den baltischen Staaten eine eigene Nationalität zugestehen, von daher ideologisch betrachtet nicht zwingend die nächsten Opfer sein müssen.

Auf der Basis dieses „Kriegsursachennarrativs“ des Westens entwickelt sich momentan eine Kriegszieldiskussion verbunden mit der Eskalation der Kriegsbeteiligung. Hier schreiten die USA nun voran. Starre Begrenzungen für Waffensysteme, die als „Kriegspartei“ gewertet werden könnten (wozu sogenannte „schwere“ Waffen gehörten), werden angesichts der steigenden Möglichkeit der Ukraine, dem russischen Angriffen erfolgreich zu widerstehen, relativiert oder fallengelassen.

Am Montag, den 25. April teilte der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin polnischen Pressevertretern auf dem Rückweg von Kiew dann auch das Kriegsziel für die Waffenlieferungen an die Ukraine mit: Die Ukraine sollte „ein eigenständiger Staat bleiben, ein demokratisch regiertes Land, in der Lage, seine Souveränität zu schützen“. Dafür müsse die Ukraine die notwendigen Waffen unverzüglich im erforderlichen Umfang erhalten. Damit und mit der richtigen Unterstützung könne die „Ukraine diesen Krieg gewinnen“, die erste Voraussetzung, der Glaube daran, sei erfüllt. Das bewegt sich noch in etwa in den mehr oder weniger vagen Kriegszielformulierungen Bidens zu Beginn des Krieges. Da es aber ohne die gleichzeitig Schwächung der Gegenseite keine Ukraine in dieser Form gibt, wurde Austin auch gegenüber Russland deutlicher: „Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie den Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ (Quelle: Thomas Ludwig, NOZ-Ukraine-Briefing 25.4.2022 sowie „Ein Minister wird deutlich“ in „Frankfurter Rundschau“ v. 26.4.2022)

Abgesehen davon, dass diese Äußerung – was Thomas Ludwig kritisch vermerkt – Wasser auf Putins Propagandamühlen ist, da sie in das Erzählschema passt, die Ukrainer seien nur (wie auch die schwächliche EU) die Marionetten der USA, deren Ziel es sei, Russland nicht nur zu erniedrigen, sondern auszuschalten, deutet sich hier ein Strategiewechsel der Amerikaner an, dem die Nato wird folgen müssen. Der Diplomatie werden geringe Chancen eingeräumt, man setzt auf Sieg und die Entscheidungen fallen auf dem Schlachtfeld.

Zwar setzt – wie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 28.4.2022 ergänzend berichtet wird – Biden nicht auf eine direkte Konfrontation mit Russland, deshalb bleibe es dabei, keine Soldaten ins Kampfgebiet zu senden und die ukrainische Forderung nach Flugverbotszonen wird (noch) zurückgewiesen. Die nun forcierte Lieferung „schwerer“ Waffen mit den Nato-Partnern und weiteren Verbündeten sollen Russlands Kosten des Krieges so erhöhen, dass das Land mit seinen erkennbaren militärischen Schwächen durch eine Niederlage nachhaltig geschwächt werde. Das sei allerdings nicht kurzfristig zu erwarten. Washington gehe von einer sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzung aus. Sie hätte auch zur Folge, dass die USA wie einst im Kalten Krieg wieder zur zentralen europäischen Macht würde. Der Preis sei, dass die USA sich nicht allein auf China konzentrieren könne.

Dass in diesem Szenario auch das Risiko eines Stellvertreterkrieges liegt, der vom russischen Außenminister Lawrow gegen die USA mit entsprechenden Eskalationsdrohungen schon ins Spiel gebracht wird, und damit auch die Gefahr eines nuklearen Weltkrieges liegt, kann nicht ausgeschlossen werden.

 

Deutschlands Position

Dass die so genannten „zweite Phase“ des Krieges seine Intensivierung und Eskalation der Einsätze mit sich bringt, ist nicht das Monopol des amerikanischen Verteidigungsministers. Auch in Deutschland wehen mittlerweile andere Winde. Gegen die mittlerweile fast flächendeckende Skandalisierung der Zurückhaltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz, dem der amerikanische Strategiewandel vermutlich bekannt war, in der Frage der Lieferung „schwerer“ Waffen, die nicht zuletzt darauf beruht, dass über einem Einstieg als Kriegspartei das Damoklesschwert eines Atomkrieges hängt, wird zunehmend (z. B. Ex-Bundespräsident Joachim Gauck) darauf verwiesen, damit gehe man Putin auf den Leim, der nur darauf spekuliere, dass sich damit in der Bevölkerung Angst verbreite, um so das Ausmaß des militärischen Engagements zu begrenzen. Etliche Militärexperten halten die Wahrscheinlichkeit eines russischen Nuklearwaffeneinsatzes schlicht für Unsinn, wobei hier plötzlich wieder ein „rational handelnder“ Putin erscheint, den man gerade suspendiert hatte. Nun gut, man hört ja täglich, dass die Wahrheit das erste Kriegsopfer ist. Die Vernunft liegt im Tiefschlaf. Wenn die Gefechtslagen neue Einschätzungen verlangen, müssen eben ein paar Parameter ausgetauscht werden.

Damit sind nicht nur die eifrigen Apostel für Lieferungen von „schweren“ Waffen wie die Herren Hofreiter und Roth mit Frau Strack-Zimmermann gemeint, sondern auch der neue Star der Außenpolitik der Union, der Oberst a. D. Roderich Kiesewetter. In der ZDF Talk-Show „Lanz“ bagatellisierte und relativierte er nicht die drohende Nukleargefahr, er verschärft sie, weil er Putin „zutraut“, „taktische“ Atomwaffen einzusetzen, „um den Krieg zu Ende zu bringen“, wenn er es für nötig halte. Die hätten zwar „nur“ einhundertstel der Sprengkraft der Hiroshimabombe, aber das reiche, um ganze Landstriche auf Dauer unbewohnbar zu machen. „Wir müssen an das Schlimmste denken, um es zu verhindern“. Damit Putin klar werde, dass er keine Atomwaffen einsetzt, müsse Deutschland alles tun, um „zuversichtlich an der Seite der Ukraine zu stehen.“ Dagegen helfe nur eine schnelle und intensive Stärkung der ukrainischen Kampfkraft. Dazu zählten auch deutsche Soldaten, die dort aber nicht zum Einsatz kämen, weil wir keinen Kriegseintritt der Nato und keine Eskalation wollen. Mit „schweren“ Waffen dagegen dürfe man alles.

Hier beginnt Kiesewetters Argumentation zu schwimmen. Da letztlich kein Völkerrecht, sondern allein Putin nach Lage der Dinge darüber entscheidet, wann die Nato sich zur Kriegspartei macht und in diesem Lichte seine taktischen Nuklearwaffen zieht oder nicht, ist nicht einsichtig, warum die „schweren“ Waffen ihn davon abhalten sollten. „Psycho-Logischer wäre, dass dieses Risiko als Ultimo ratio umso eher zu erwarten ist, je mehr er militärisch mit dem Rücken an der Wand steht. Wenn die „Auflösung der Ukraine“ Putins Ziel ist, und unser Ziel, dass die „Ukraine den Krieg nicht verliert“, weil andernfalls Moldawien und die baltischen Staaten die nächsten Opfer wären und Polen an Russland grenze, ist das jedenfalls nicht das von Austin verkündete Kriegsziel.

Der Oberst a.D. Kiesewetter hatte aber eine weitere interessante Erkenntnis mitzuteilen. Faktisch seien wir „emotional“ längst Kriegspartei, aber de jure nicht und völkerrechtlich schon gar nicht. Aber völkerrechtlich sei es uns im Rahmen des „Selbstbestimmungsrechts“ und der Rechts auf Selbstverteidigung nicht verboten, deutsche Soldaten in der Ukraine kämpfen zu lassen, wenn die Ukraine uns dazu einlade. Das wurde bislang so noch nicht kommuniziert. Wenn es dann so weit ist, wird sich Herr Melnyk sicherlich darum kümmern.

Die Geschichte ist eine Folge freier menschlicher Handlungen, von daher offen, kontingent und nicht determiniert, aber sie läuft in bestimmten Pfaden, Handlungslogiken, denen man, einmal betreten, häufig als „normative Kraft des Faktischen“ nicht so leicht entkommt. Darin befanden sich die Putinversteher, die für ihre „Blindheit“ nun mehr oder weniger berechtigt am Pranger stehen. Das gilt aber auch für jene „Bellizisten“, die nun als Kämpfer für die Freiheit unterwegs sind und Schlafwandlern immer ähnlicher zu werden drohen. Man sollte sie an Max Webers Unterscheidung in „Gesinnungs- und Verantwortungsethik“ erinnern. Das richtige, verantwortungsbewusste Handeln besteht nicht nur aus dem vermeintlich moralisch Guten, sondern verlangt auch die Folgen des guten Handelns in Betracht zu ziehen – und dann sieht die Geschichte vielleicht anders aus.

 

 

 

 

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