Donnerstag, 19. September 2024

Wenn sich Claudia Pechstein auf politisches Glatteis begibt …

Die neue Teilung Deutschlands

Mit einem sorgenvollen Blick auf die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern und den dort zu erwartenden Stimmenzuwächsen für die AfD (und BSW) wird offenkundig, dass es nichts geworden ist mit „Deutschland einig Vaterland“ und dort auch nicht „zusammenwächst, was zusammengehört“.

Dominierten anfangs die ökonomischen und sozialen Probleme der „Wiedervereinigung“, die Härten einer wirtschaftlichen Hauruckanpassung, die Privatisierungsorgie der Treuhand und die Schlechterstellung der ehemaligen DDR-Regionen bei Renten und Löhnen, die zunächst die SED-Nachfolgepartei PDS zum Entsetzen des Westens zum Anwalt der dortigen zahlreichen Verlierer der Einheit machten, so haben sich spätestens seit den PEGIDA-Umzügen in Dresden andere Differenzen zwischen Ost und West lauthals bemerkbar gemacht.

Dennoch wird immer noch und immer mehr darüber gerätselt und geforscht, wie und warum der „Osten anders tickt“. Wobei erst einmal festzustellen ist, dass es zumindest gemessen an den AfD-Erfolgen nicht der Osten in Gänze ist, denn auch 30 Prozent sind nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern „lediglich“ überproportional große Bevölkerungsteile. Fakt ist auch, dass die früheren sozialökonomischen Benachteiligungen als Erklärungsgrund für diesen Stimmenzuwachs nicht mehr plausibel zu machen sind und eine fehlende Infrastruktur ebenso wenig, denn die Rechten sammeln Stimmen auch in Boomregionen, von den einige Landesteile im Westen nur träumen können. Und da liegt wohl auch der Grund, warum die PDS bzw. Die Linke dort ihre Stammwählerschaft verlor und diese sich anderen Inhalten und Protestformen zuwandte.


Die Trennlinie ist ein Kulturkampf

Was soziologische Forschung schon seit längerem erkundet hat, wird auch dem öffentlichen Bewusstsein zunehmend deutlicher. Was sich abzeichnet ist ein tieferliegender Konflikt zwischen Ost und West, der allerdings die Differenzen innerhalb beider Teile selbst nicht verdecken sollte. In der NOZ bekam die in der DDR geborene Eisschnellläuferin und neunfache olympische Medalliengewinnerin (davon fünf in Gold) Claudia Pechstein am 15. August eine ganze Seite, um „authentisch“ zu erklären, was sie schon im Juni 2023 in einer Rede auf dem CDU-Konvent zum neuen Grundsatzprogramm vortrug, warum der Osten anders tickt und hier eine „andere Mentalität erwachsen“ sei. Heraus kommt eine Umschreibung für einen Kulturkampf, der sich im Osten stärker und deutlicher artikuliert als im Westen.

Pechstein reklamiert für sich, „Wahrheiten zu sagen, die in diesem Land niemand hören“ wolle. Sie meldet sich als Lautsprecherin einer „schweigenden Mehrheit“, der „eine finanziell sorgenfrei lebende Wokenessblase diktieren“ wolle, „was wir zu tun und zu lassen haben“. Und dieses „Uns“ umfasst dann auch die gesamte schweigende Mehrheit in Deutschland, die „in Familien mit Vater, Mutter, Kind leben“, im „Sommer gern Bratwürste und Steaks auf den Grill legen“ und in „Partylaune“ zu Helene Fischers „Atemlos“ tanzen. Etwas hört sich das an, als sei das alles verboten. Dazu gehört neben sprachlicher Abscheu vor dem Gendern auch noch, mit dem „Benziner“ an die Ostsee zu fahren und zu urlauben und so ganz nebenbei, dass sich „Asylsuchende an unsere Gesetze und Gewohnheiten halten müssen.“ Das sind also die lebensweltlichen Wahrheiten, die keiner sagen darf und keiner hören will?

Was die schweigende Mehrheit, insbesondere die Jugend, nämlich wolle, sei nichts anderes als einen „guten Job“ und „eine intakte Familie“ (demoskopisch beglaubigt durch die jüngsten Shell-Studien), die sich freihält von den Zumutungen der LGBTQ-Szene. Aber diese Einstellung werde in der Öffentlichkeit in allen möglichen Formen von einem Meinungsdiktat, ähnlich den DDR-Erfahrungen, mit „Rassismusvorwürfen“ etc. diskriminiert und offensichtlich fühlt man sich so als Fremde im eigenen Land. Pechstein komplettiert ihre Anklage mit dem Vorwurf einer systematischen Abschaffung aller Leistungsanforderungen in der Schule bis zum Sport.

Den Unterschied zu früher sieht sie nun aber darin, dass die Ostbürger – wo die Ostbürgerinnen genderfrei hinzuzufügen wären, denn sie sind die Trägerinnen der heilen Familie – dagegen nun „meinungsstark“ rebellieren und auf das tradierte Parteiengefüge der alten BRD keine Rücksicht mehr nehmen. Die Linke bedient diese „Mentalitäten“ oder diesen Mentalitätswandel nicht, also sucht man neue Wege, um dem vermeintlichen Meinungsdiktat zu entkommen, könnte die von Pechstein nicht direkt gezogene Schlussfolgerung lauten.


Woher kommt die kulturelle Kluft?

Dass die Bevölkerung der Ex-DDR eine andere Entwicklung im Gepäck hatte und hat als die BRD-Bevölkerung, ist eine Binsenweisheit. Tatsache ist auch, dass die Vereinigung keine neue Gemeinschaft hervorbrachte, sondern die DDR sich aufgab und der BRD beitrat. Es gab keine neue Verfassung, keine Volksabstimmung über das „neue Deutschland“, sondern Selbstaufgabe eines „unwürdigen Staatsgebildes und Unrechtsstaates“, von dem es auch nichts Bewahrungswertes geben kann, weil die DDR identisch mit „Stasi“ gesetzt wird . So die allgemeine und herrschende Meinung nicht nur damals – und es musste nebenbei wegen der unsicheren Lage in der UdSSR auch alles sehr schnell gehen, damit der „Mantel der Geschichte“ nicht noch entkommt.

Was staatsrechtlich in Windeseile kodifiziert wurde, hieß faktisch, dass sich die DDR-Bevölkerung von heute auf morgen einem völlig anderen System übergab, das auch in die alltäglichen Lebensgewohnheiten eindrang, vom dem sie nicht einmal über das Westfernsehen allzu viel wussten. Ob sie das mit der massenhaft formulierten Drohung „Kommt die DM nicht zu uns, kommen wir zur DM“, auch so gewollt haben, weiß man nicht. Vor allem aber trafen hier auch, lange wenig bis gar nicht beachtet, ganz unterschiedliche private und öffentliche Lebenskulturen aufeinander, die nicht nur das Politik- und Demokratieverständnis betreffen.

Der gravierendste und nun die Teilung verdeutlichende Unterschied betrifft die politische und gesellschaftliche Kultur, die sich übrigens nicht nur im Ost-West-Verhältnis abbildet, sondern auch innerhalb beider Landesteile. Der entscheidende Punkt scheint mir darin zu liegen, dass die BRD in ihrer Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kulturrevolution erlebte, die letztlich zu einer „Fundamentalliberalisierung“ der Gesellschaft führte. Man hat zu Recht bemerkt, dass die 68er Revolte nichts erreicht, aber viel bewirkt habe und diese Liberalisierung im Alltagsleben betrifft nicht nur den veränderten Umgang nicht Minderheiten, sondern mit anderen Lebensformen und Kulturen schlechthin und hat den Umgang und den Respekt für solche Offenheit quasi zur öffentlichen Norm erhoben. Versuche, diese Kulturrevolution rückgängig zu machen, ist mit der „geistig-moralischen Wende“ der Kohl CDU in den achtziger Jahren dramatisch gescheitert.

Was Pechstein und ihre Gesinnungsgefährten in Harnisch versetzt und von einer gleichgeschalteten Presse und öffentlichen Medien schwadronieren lässt, ist zunächst nichts anderes, als das im öffentlichen Diskurs Diskriminierungen gegenüber Minderheiten unerwünscht sind. Anders formuliert, wir haben zumindest normativ einen öffentlichen Diskurs, wo nicht nur Meinungsfreiheit herrscht, sondern im öffentlichen Vernunftgebrauch von den noch so „Meinungsstarken“ auch verlangt wird, dass sie diese „begründen“. Und da könnte der Schwachpunkt der Rebellen gegen die vermeintliche Meinungsdiktatur liegen. Was übrigens kein deutsches Phänomen ist, man begegnet ihm überall, vor allem in den USA und Westeuropa.

Das Phänomen ist, dass ein gewisser Teil unserer Bevölkerung, wahrscheinlich verstärkt im Osten, Meinungen vertritt, die anderen als nicht sagbar erscheinen. Um das quasi neutral zu demonstrieren, nehme ich mal Sprüche, die heute selbstverständlich öffentliches Tabu sind, aber für ältere unter uns noch geläufige Volksmeinung war, die aber auch unter öffentlichen Verschluss standen, wie: „Die Juden sind doch selber schuld“. Auch die Verfechter solcher Urteile fühlten sich früher (und auch heute) öffentlich nicht vertreten. In veränderter Form schimmert das auch dort durch, wo heute andere ebenfalls nicht tragbare Positionen nach Artikulationsfreiheit schreien („das wird man doch wohl noch sagen dürfen“) und sich dann wundern, dass sie kein öffentliches Gehör finden. Man spricht dann von „Sprachpolizei“ und fühlt sich in einer feindlichen Meinungswelt, die als Blase, „grüne Bevormundung“ etc. deklariert wird. Sie erklärt dann auch, warum man sich nun auch bei Wahlen „abweichend“ verhält, weil die anderen „das Volk“, das nur sie sind, nicht mehr vertreten, sondern zertreten. Unterschlagen wird, dass beispielsweise die Verteidigung freier sexueller Orientierungen nicht bedeutet, dass man sich diesen anschließen soll, sondern lediglich, dass man sie respektieren sollte. Wer dazu aber nicht bereit ist, steht in der Tat auf einer anderen Seite der Barrikade, weil er letztlich den Respekt gegenüber den Anderen verweigert. Und das ist dann eher eine Frage gelebter Liberalität, und hier könnte das Problem begraben liegen.


Ökologie als zusätzliche Kampfzone

Wie Pechstein aber gleich mit ebenfalls verdeutlicht, kommt neben diesem Kulturkampf noch ein weiterer hinzu. Es könnte uns bekannt sein, dass der Klimawandel nur verhindert werden kann, wenn bestimmte auch tief in den Alltag greifende Verhaltensänderungen erfolgen. Die werden aber aus unterschiedlichen Gründen zunehmend als „Bevormundung“, „Öko-Diktatur“ etc. gebrandmarkt und nebenbei nicht nur von Querdenkern und anderen der üblichen Verdächtigen befeuert, sondern in Gestalt der dahinsinkenden FDP auch von einer „populistischen Mitte“, die nun im Namen der individuellen Freiheit ihre zum Bürgerrecht stilisierten Freiheiten wie Frau Pechstein verteidigt.

Diese Konfliktlinien zeichnen sich weltweit ab und erhalten mit Blick auf Ostdeutschland und der dortigen Karriere der AfD noch ein paar zusätzliche Aspekte im Gepäck, die sich aus den unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen ergeben. Was es zu verteidigen gilt, ist, dass die „Fundamentalliberalisierung“ auch im öffentlichen Diskurs und in den Medien erhalten werden muss. Aber es gibt auch die betrübliche Erkenntnis, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, denn die Kräfte, die das Erreichte, zurückdrehen wollen, waren noch nie so mächtig wie heute und sie sind im Rahmen des einst dominanten Diskurses nicht mehr einzubinden. Woraus sich die schwierige Frage ergibt, wie soll man mit den Trägern dieses Diskurswechsels umgehen? Verbote helfen da übrigens überhaupt nicht. Stattdessen sollte man statt mit „Verständnis“ für dieses und jenes über den Kern des Problems streiten: Wie viel gelebte Liberalität wollen in unserer gemeinsamen Lebenskultur wir in unser aller Interesse, vor allem dort, wo die Freiheit der einen die anderer nicht tangiert.

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