Wortmann wortwörtlich: „Von Amerika lernen?“

Prof. Dr. Rolf Wortmann
Joe Biden überrascht als Sozialreformer

Ausgerecht „Sleepy Joe“ Biden, so nannte ihn sein Kontrahent Donald Trump abwertend im Präsidentschaftswahlkampf im letzten Jahr, rüttelt Amerika durch. Seine Bilanz nach hundert Tagen verzeichnet Taten- und Veränderungsdrang, den man diesem „alten weißen Mann“ der politischen Mitte nicht zugetraut hat und von ihm auch nicht erwartete. Eigentlich sollte er nur das Ekel Trump aus dem Weißen Haus vertreiben und als die Inkarnation des anständigen Amerikas ein sozial und kulturell tief gespaltenes Land wieder zusammenführen und versöhnen. Für große Veränderungen und Reformen stand er in der Galerie der Präsidentschaftsbewerber der demokratischen Partei überhaupt nicht. Im Gegenteil, er verkörperte Beständigkeit jener Mitte, in der sich nichts bewegt außer der Sehnsucht nach einer Rückkehr zur von Trump zertrümmerten Normalität.

Anders als Barack Obama, der mit großen Hoffnungen und Erwartungen auf Reformen als erster afroamerikanischer Präsident ins Weiße Haus zog, die er dann nach Jahren der zerfleischenden Kompromisssuche mit den Republikanern so bitter enttäuschte, startet Biden mit einem Reformprogramm, dass man von dem „Sozialisten“ Bernie Sanders erwartet (und auch befürchtet) hatte, aber nicht von ihm. Und Biden nutzt, anders als Obama, die knappen und vielleicht nur kurzzeitigen Mehrheitsverhältnisse für eine zügige Umsetzung seiner umfangreichen Reformagenda. Die ruft Erinnerungen an große Vorbilder wie den „New Deal“ des Jahrhundertpräsidenten Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren wach, als er auf die Folgen der Weltwirtschaftskriege mit der Einführung des Wohlfahrtsstaates in Amerika antwortete und an Lyndon B. Johnsons „Krieg gegen die Armut“ in den 1960er Jahren.

Aufstieg und Krise des „Neoliberalismus“

Was Biden schon angeschoben hat und noch beabsichtigt, ist die komplette Abkehr von jener Politik, die vor genau vierzig Jahren von dem Republikaner Ronald Reagan initiiert wurde. Wie die britische Premierministerin Maggie Thatcher forderte er eine dezidierte Abkehr von einem ohnehin schon magersüchtig gewordenen Sozial- und Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit. Unter dem Label „Neoliberalismus“ trat dieses Projekt mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums dann als „Globalisierung“ seinen die gesamte Welt umfassenden Siegeszug an. Seine fundamentalen Dogmen sind so einfach wie vertraut: In seiner Amtsantrittsrede 1981 erklärte Reagan, der Staat (und somit auch die Politik) sei nicht die Lösung der Probleme, sondern selbst das Problem. Dem angeblichen Staatsversagen stellte er die Selbstregulierung der Märkte durch Rückzug staatlicher Eingriffe entgegen, was man bis heute Bürokratieabbau und Liberalisierung nennt. Sozialausgaben gelten wie Steuern als leistungs- und wachstumshemmend. Privat und Markt vor Staat lautet die Devise. Zum großen Gewinner der politischen Entfesselung eines freien Weltmarktes, dessen unabdingbaren Regulierungen jeder demokratischen Kontrolle entzogenen sind, wurde die rasant wachsende global agierende Finanzindustrie. Das änderte sich auch nach der Weltfinanzkrise 2008 nicht.

Will man Bidens Reformelan verstehen, dann spielt zunächst die Coronakrise dabei als Herausforderung eine wichtige Rolle, da sie krisenbedingt außerordentliche Antworten wie beispielsweise die umfangreichen Hilfen an Bedürftige einerseits notwendig macht und andererseits ermöglicht. Sie treffen auf großen Zuspruch in der Bevölkerung. Aber es gibt einen tiefer greifenden Grund: Biden und die Demokratische Partei scheinen begriffen zu haben, dass ein „Weiter so…“ nach Trump so wenig möglich ist wie ein Anschluss an Obama. Trumps Erfolg war auch eine Folge der paradoxen Tatsache, dass ausgerechnet die USA, der Motor der neoliberalen Globalisierung, partiell zu den Verlierern zählen. Das Globalisierungsmodell steckt schon seit längerem in einer Legitimationskrise. Die große Erzählung, sie schaffe Wohlstand für alle, wird zunehmend als Lüge erfahren. Gewinner und Verlierer verteilen sich nicht auf ganze Länder, sondern Gewinner und Verlierer der Globalisierung stehen sich mit unterschiedlicher Ausprägung in jedem Land gegenüber. Im armen globalen Süden entstanden Oasen des Reichtums und in den reichen Ländern des globalen Nordens Wüsten wachsender neuer Armut. Letzteres im steigenden Maße auch in den USA und ausgerechnet Trump, wie auch andere Rechtspopulisten der westlichen Welt, zapften die arbeitenden Verlierer des universellen Reichtumsprojektes Globalisierung erfolgreich als Wählermasse an und forcierten damit eine Krise des Markenzeichens des Westens, der liberalen Demokratie.

Und hier setzt Bidens Reformprogramm an. Die liberale Demokratie wird nicht in erster Linie von außen durch aufstrebende autoritäre Angebote bedroht, sondern von innen. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass der Aufstieg des autoritären Rechtspopulismus nicht allein kulturelle (wie z.B. struktureller Rassismus) Gründe hat, sondern getragen und genährt wird von sozialen Verwerfungen und ökonomischen Benachteiligungen, die in den kulturell dominierten Diskursen über ethnische und andere Diskriminierungen von Minderheiten keine Rolle spielen. Biden hat offensichtlich erkannt, dass Trumps Wählerzuwachs vor allem bei der weißen Industriearbeiterschaft auch eine Folge eigener Politik der Demokraten ist. Sie haben den Verlierern des Strukturwandels keine Perspektive geboten, sondern ohnmächtig die Deindustrialisierung mit der Abwanderung von über fünf Millionen Arbeitsplätzen überwiegend nach China als ein ökonomisches Gesetz hingenommen und sich ganz auf die global expandierende globale Digitalwirtschaft und die Macht der Finanzindustrie konzentriert.

Bidens Reformmaßnahmen

Im Windschatten der erfolgreichen Bekämpfung der Coronapandemie durch eine Impfkampagne, die selbst seinen Kritikern Respekt abverlangt, legte Biden sofort ein über fünf Billionen Dollar umfassendes Notprogramm auf, dass im Umfang von 1,9 Billionen Dollar pandemiebedingte soziale Notfälle ausgleicht und insbesondere sozial schwachen Familien zugutekommt. Der andere Teil dient der Ankurbelung der kriselnden Wirtschaft. Hier nutzt Biden durch den Staat als Gestalter in der Krise für einen großen politischen Wurf und Kurswechsel. Eine längst überfällige Modernisierung der unbestritten maroden klassischen Infrastruktur (Straßen- und Brückenbau, Modernisierung und Reparatur von Leitungssystemen aller Art etc.) wird erweitert um eine „soziale Infrastruktur“. Sie umfasst den Ausbau einer weitergehenden kostenlosen Erziehung und Bildung sowie eine Art Kindergeld. Der verdeckten Armut der vielen prekär Beschäftigten insbesondere im Dienstleistungssektor begegnet er mit einer massiven Steigerung des gesetzlichen Mindestlohnes von 11 bzw. teilweise 7,20 Dollar auf nun 15 Dollar pro Arbeitsstunde. (Korrekterweise muss hier erwähnt werden, dass dieses Ziel mangels Mehrheit im Kongress sich zunächst nur auf jene Bereiche bezieht, die unmittelbar oder mittelbar in oder für den öffentlichen Sektor tätig sind, aber das sind schon ca. vierzig Prozent).

Bahnbrechend und zukunftsweisend ist, dass die Modernisierung der Infrastruktur klimaneutral erfolgen soll. Damit wird eine für die USA fundamentale energetische Wende jenseits von Öl und Gas eingeleitet. Verbunden mit dem Wiedereintritt in das internationale Klimaschutzabkommen wird die konsequente ökologische Ausrichtung der Modernisierungsprogramme zugleich als eine neue Jobmaschine dargestellt. Die neuen Industriearbeitsplätze werden flankiert von Absicherungen zugunsten von Arbeitsplätzen in den USA. Wie Bidens oberster Wirtschaftsberater Walter E. Scott in einem Interview erklärt, knüpfe man hier durchaus an Trumps „American first“ an, aber nun als linkes Projekt. Die erwähnten fünf Millionen überwiegend an die Weltwerkbank China verlorenen Industriearbeitsplätze will man gezielt mit innovativer, ökologisch ausgerichteter Produktion nach Amerika zurückholen und damit zugleich den ökologischen Umbau zustimmungsfähig machen. In Kontinuität zu Trump wird man das als Amerikas Interesse bei künftigen internationalen Wirtschafts- und Handelsabkommen zu spüren bekommen.

Bidens Paradigmenwechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik

Das alles sind für amerikanische Verhältnisse ehrgeizige Reformschritte. Aber der eigentliche Paradigmenwechsel findet nach Biden in der gesamten Grundausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik statt. Ausgang ist die Antwort auf die Frage: Und wer soll diese vom Staat gesteuerten Projekte und die daraus folgende enorme Staatsverschuldung bezahlen? Bidens Antwort hebt sich nicht nur von den Republikanern ab, für die Steuererhöhungen als Diebstahl am privaten Eigentum eine Todsünde sind. Anders als Bill Clinton und Barack Obama bricht er mit diesem Dogma der Republikaner. Biden stellt dagegen die Frage, was die Gesellschaft denn eigentlich davon habe, dass die Reichen immer größere Vermögen anhäufen? Seine Antwort lautet: Nichts! Er will nicht nur die Unternehmenssteuern erhöhen. Auf amerikanische Initiative hin sollen die nun endlich auch global verbindlich durch einen einheitlichen Mindeststeuersatz für alle Unternehmen geregelt werden, um Steueroasen auszutrocknen und ruinöse Steuersenkungswettbewerbe zulasten der Bevölkerungen zu beenden. Mit Steuererhöhungen von ca. 20 auf 40 Prozent müssen fortan Jahreseinkommen ab 400.000 Dollar rechnen und auch die mächtig angesammelten Vermögen sollen höher besteuert werden. Das trifft 0,3 Prozent aller Steuerzahler, und ein verschärfter Kampf gegen Steuervermeidung soll mindestens 700 Mrd. Dollar in den nächsten zehn Jahre einbringen.

In seiner ersten Pressekonferenz in der letzten Woche anlässlich seiner bevorstehenden ersten 100 Tage im Amt erklärte Joe Biden, anders als seine Vorgänger wolle er nicht „mehr Vermögen, sondern die Arbeit fördern“. Das nannte er seinen „totalen Paradigmenwechsel“ gegenüber dem bisher dominanten neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Den von Reagan und Konsorten entfesselten Raubtierkapitalismus will nun ausgerechnet ein Präsident wieder in einen Käfig sperren, der wie alle seine Vorläufer dieses Modell als alternativlos ansah. Sein Programm ähnelt an Radikalität dem seines Mitbewerbers Bernie Sanders um die Präsidentschaftskandidatur, der dafür als Kommunist beschimpft wurde. Das sagt zwar vor allem etwas über die amerikanischen Wertmaßstäbe aus, aber auch über Bidens Mut, denn in diese Richtung werden die Republikaner das Trommelfeuer eröffnen.

Biden glaubt nicht mehr daran, dass es für die Armen gut ist, wenn die Reichen noch reicher werden, weil dann angeblich auch mehr für die Armen durchsickert. Die wachsende horrende soziale Ungleichheit als Folge des Primats der Märkte, die Degradierung der Politik zu ihrer Dienerin in eine „marktkonforme Demokratie“ (der übrigens auch Angela Merkel anhängt – oder anhing?) haben die liberalen Demokratien in bestandsgefährdende Sackgassen geführt. Die gestaltende Rolle der Politik ist für die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen unabdingbar. Man könnte Bidens Projekt die Renaissance eines Sozialliberalismus oder eine Sozialdemokratisierung Amerikas zur Überwindung einer Krise nennen, die als Chance für die Neugestaltung der Gesellschaft genutzt wird.

Was sich derzeit in den USA abspielt, ist für uns deshalb so interessant und wichtig, weil in Vorbereitung auf die Bundestagswahl sowohl die FDP als auch eine Laschet/Merz-Union programmatisch wieder genau mit dem Modell liebäugeln, dass Joe Biden gerade überwinden will.

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