Wortmann wortwörtlich: „Was ist eigentlich Geopolitik?“

Von der Wiederkehr und den Risiken einer problematischen Denkfigur

Das Wort „geostrategisch“ finden wir immer häufiger bei der Suche nach den Interessen von Akteure in internationalen Krisen. So lernen wir aktuell beispielsweise, dass Putin „Geopolitik“ betreibe. Das hört sich irgendwie nicht gut an, was aber ist eigentlich „Geopolitik“?

In Deutschland war „Geopolitik“ bis nach dem Ende des Kalten Krieges ein Unwort. Dabei wurde es in Deutschland erfunden und zuerst entwickelt. Es war aber durch die Nazizeit derartig mit deren imperialen Expansionszielen und -methoden kontaminiert, dass es auf einem Index belasteter Wörter landete. Unsere Verbündeten waren da weniger zimperlich, dass Staaten (auch) ihren „geopolitische Interessen“ folgten, galt dort noch als selbstverständlich.

 

Die Herkunft eines wenig bekannten Begriffs

Warum erlebt ein durch die Legitimierung der deutschen Lebensraumpolitik als pseudowissenschaftlich diskreditierter Begriff nun seine Renaissance? Ein Versuch, darauf eine Antwort zu finden, muss zunächst daran erinnern, woher der schillernde Begriff Geopolitik kommt, welche Bedeutung er hatte und genommen hat. Eine Rekonstruktion der verschiedenen Bedeutungskontexte zeigt, in welchen Formen und Traditionslinien sich Geopolitik heute als obsolet bzw. als anschlussfähig für neue Problemstellungen und Interessenlagen erweist.

Da der Mensch auf der Erde lebt, ist die soziale Bedeutung des Erdraumes für das menschliche Dasein und Handeln zu allen Zeiten Gegenstand vielfältiger Betrachtungen gewesen. Der berühmte französische Staatstheoretiker und Erfinder der Gewaltenteilung Montesquieu hat, für das 18. Jahrhundert typisch, der Bindung des Menschen an Raum und Klima eine herausragende Rolle zugewiesen. Diese Umwelten prägen angeblich den Charakter ganzer Völker.

Dass die politischen Mächte sich nach Größe und Lage des Raumes sowie in Land- und Seemächte unterscheiden lassen, ist in Gestalt der sie verkörpernden mythischen Ungeheuer Leviathan und Behemoth aus dem Buch Hiob im Alten Testament seit langem bekannt und (nicht nur) von dem berühmt-berüchtigten deutschen Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt in seiner kleinen Schrift Land und Meer (1942) zum bewegenden Prinzip der Weltgeschichte aufgeladen worden.

Eine politische Geographie mit einem stets umstrittenen Anspruch einer wissenschaftlichen Disziplin in praktischer politischer Absicht entstand nicht zufällig gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Zeitalter des Imperialismus ist nach der vollständigen Eroberung Afrikas die Welt unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt. Territoriale Zugewinne waren fortan nur auf Kosten anderer zu erzielen, was Konflikte bis hin zum Krieg wahrscheinlicher machte.

Diese weltpolitische Ausgangslage am Vorabend des Ersten Weltkrieges war der Boden für die Entstehung der klassischen Phase der Geopolitik. Ihr maßgeblicher Wegbereiter war der deutsche Geograph Friedrich Ratzel (1844-1904). In seinem wegweisenden Buch Geopolitik (1897) entwickelt er eine Vorstellung von Politik auf der Basis einer  Naturwissenschaft, der Geographie. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass ein Staat erst durch die natürlichen geographischen Gegebenheiten des Raumes wie Lage, Größe, Landschaft und Klima in seinem Wesen bestimmt werden kann. So sind für ihn Staaten mit großer Flächenausdehnung im Vorteil, da sie für eine wachsende Bevölkerung mehr Raum zur Verfügung haben. Eine wachsende Bevölkerung ist im Konkurrenzkampf der Staaten ein wichtiger Machtfaktor und somit ist jeder Staat zur stetigen Erweiterung seines Lebensraumes gezwungen.

Den Staat begreift Ratzel nicht in der liberalen Lesart als Rechtssubjekt, sondern als ein „organisches Wesen“, als einen „lebendigen Organismus“, dessen Substanz das „Volk“ ist. Und dieses Volk wird als lebendiger Organismus zum Träger eines natürlichen Lebenswillens nach Wachstum, eingepfercht in die Enge eines vorgegebenen Raumes. Der Raum ist statisch, das Leben aber ist dynamisch. Das ist das eigentliche Drama.

Der natürliche Drang einer wachsenden Bevölkerung nach Lebensraum verlangt gerade für das (jung-dynamische) deutsche Volk nach einem Großraum analog den USA oder Russland. Diesen Lebensraum sah Ratzel für das Deutsche Reich damals noch in einem Kolonialreich in Afrika. Dazu brauchte Deutschland den offensiven Einstieg in die Weltpolitik. So wurde Ratzels politische Geographie zur Legitimation des imperialen Anspruchs auf einen „Platz an der Sonne“, wie es der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow formulierte.

Den Begriff Geopolitik führte dann der in Deutschland sehr populäre germanophile schwedische Staatswissenschaftler Rudolf Kjellen (1864-1922) im Umkreis des Ersten Weltkrieges ein. Kjellen entwickelte in seinem auflagenstarken Buch Der Staat als Lebensform (1916) aus den geographischen Naturbedingungen ein ganzes „System der Politik“. Anknüpfend an Ratzel folgte er dem biologistischen Verständnis vom Staat als „lebendigem Organismus“, der seinen eigenen naturhaften Gesetzen folgend mit dem ihm völkerrechtlich zufallendem Raum nicht mehr identisch sein kann. Den begrenzten Aktionsradius des Nationalstaates, der bei Ratzel noch durchschimmert, ersetzt Kjellen durch den Reichsbegriff. Er allein kann dem natürlich wachsenden „Volkstum“ die erforderlichen „fließenden Grenzen“ schaffen.

Neben den schon von Ratzel aufgeführten politisch maßgebenden Faktoren spielen bei Kjellen in Anlehnung an Friedrich Naumanns Mitteleuropa (1915) die wirtschaftliche Autarkie als Abkoppelung vom britischen Weltmarkt und ein einheitlicher Lebens- und Wirtschaftsraum eine zentrale politische Rolle. Als selbstverständlich gilt, dass das nach erweiterten Lebensraum drängende „Volkstum“ ein natürliches Recht auf Raumeroberung hat und dieses über das abstrakte für alle Akteure gleichermaßen geltende Recht gestellt wird. Damit entwickelt Kjellen Ratzels naturalistisches Politikverständnis angereichert mit sozialdarwinistischen Zügen weiter. Mit der Hypostasierung des biologisch determinierten Dranges nach Lebensraum finden sich bei ihm viele Elemente, die Hans Grimm in seinem 1926 erschienen Roman mit dem programmatischen Titel Volk ohne Raum  massenwirksam popularisierte.

 

Karl Haushofers Geopolitik und die Radikalisierung durch Hitler

Zum Durchbruch kam die „Geopolitik in Deutschland in den 1920er Jahren durch den Geografen Karl Haushofer. Er entwickelte in den 1920er Jahren mit seiner einflussreichen Zeitschrift für Geopolitik die Geopolitik zu einer „exakten Wissenschaft“, die gestützt auf „objektive Naturgesetze“ politisches Handeln anleiten sollte. Politisch reichten die wissenschaftlichen Einsichten zunächst nur zum Kampf gegen die Folgen des Vertrages von Versailles. Der vollzieht sich schon im Geiste eines Reichsgedankens, der die liberale Identität von Staat, Nation und Territorium zugunsten von Reich, Volk und Lebensraum als organische Einheit aufhebt. Die Notwendigkeit der Eroberung zusätzlichen Lebensraumes für das deutsche Volk steht ebenso außer Frage wie das Recht, erforderliche Räume zu okkupieren. An die Stelle eines universalen Völkerrechts mit souveränen und  gleichberechtigten Nationalstaaten tritt die Aufteilung der Erde in mehrere von Groß- und Weltmächten kontrollierte Regionalblöcke, die im ständigem Kampf ums Überleben stehen.

Haushofers geopolitisches Programm hat seine politische Nähe zum Nationalsozialismus nie geleugnet. Hitlers „Stellvertreter“ Rudolf Hess war übrigens ein Schüler Haushofers. Aber an einer heute nicht leicht zu verstehenden Stelle war Haushofers Programm für Hitlers Ziele nicht ausreichend. In der „Blut- und Bodenideologie“ war Haushofer nur ein Vertreter der Bodenvariante, denn seine Aufteilung der Erde vollzog sich in Form mehrerer regional abgetrennter Kontinentalsysteme.

Hitlers Ziele gingen viel weiter. Sie wurden übrigens schon im zweiten Teil seines Buches Mein Kampf klar und unmissverständlich formuliert. Die außenpolitische Aufgabe  des völkischen Staates ist es für Hitler, das Verhältnis von Raum und der „im Staat zusammengefassten Rasse sicherzustellen“. Kriterium für den erforderlichen Grund und Boden des Volkes ist die eigenständige Sicherung der Ernährung. „Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichert einem Volk die Freiheit des Daseins.“ Dabei bemisst sich die Größe des benötigten Raumes nicht an der gegenwärtigen Volkszahl, sondern an der potenziellen, an der für das Ziel der deutschen Weltmacht erforderlichen. Denn: „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein“.

Damit ist für Hitler die Wiederherstellung der Grenzen von 1914 als außenpolitisches Ziel „politischer Unsinn“. Ziel des Nationalsozialismus ist es, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern.“  „Staatsgrenzen werden durch Menschen geschaffen und durch Menschen geändert.“ Sie dem Bodenbedarf des Volkes anzupassen ist Recht und Pflicht des Nationalsozialismus. Und der liegt im Unterschied zu früher nicht im üblichen Germanenzug nach Süden und Westen Europas, sondern „nach dem Land im Osten.“ Und dabei kann man heute in Europa „in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken“. Und hier winkt das Schicksal, denn der Bolschewismus habe dem russischen Volk durch die Verjudung die Intelligenz geraubt. „Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird das Ende Rußlands als Staat sein.“ So werden wir Zeugen einer Katastrophe, die eine „Bestätigung der für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“

In einer Hinsicht lieferte Haushofer diesem nationalsozialistischen Expansionsprogramm Hilfestellung. Auch Haushofer fand die erforderlichen Lebensräume nicht mehr in afrikanischen Kolonien, weshalb die Rückeroberung der durch den Versailler Vertrag verlorenen Kolonien in den Hintergrund trat. Zentral war die Idee eines einheitlichen Lebensraumes, der nicht von schwer kontrollierbaren Seewegen nach Afrika oder wohin auch immer abhängig war. Einen geografisch unmittelbar anschlussfähigen Lebensraum für die wachsende „germanische Herrenrasse“ gab es nur im Osten, in der naheliegenden von Russland bzw. der Sowjetunion kontrollierten eurasischen Landmasse. Sie wurde zur Zitadelle des „Großdeutschen Reiches“, zum Kern potenzieller Weltherrschaft. Dieser Größenwahn erhielt eine schauerliche Plausibilität, weil man sich dafür ausgerechnet einer geopolitischen Entdeckung des Briten Halford J. Mackinder (1861-1946) bedienen konnte, die sich zur fixen Idee entwickelte.

 

Die geopolitische Wende von den See- zu den Landmächten

Mackinder hatte 1904 in einem aufsehenerregenden Fachaufsatz der damals vorherrschenden Doktrin des sehr populären amerikanischen Seemachttheoretikers Alfred T. Mahan von der Herrschaft der Seemächte (New Navalism) widersprochen: Er erklärte das „kolumbianische“ Zeitalter für beendet. Vier Jahrhunderte hatte die Dominanz des Meeres, gestützt auf die technologische Überlegenheit der Seefahrt gegenüber den ländlichen Transportsystemen, gehalten. Aber nun, da die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel (man kann für die Folgezeit das Flugzeug hinzudenken) den Raum erobere und die technologischen Nachteile gegenüber der Seefahrt nicht nur ausgleiche, sondern sogar vertausche, sei ein neuer Blick auf die Weltkarte erforderlich.

Die Weltherrschaft erfolge nicht mehr von See her, sondern von jener für die Seemächte unzugänglichen Landmasse, um die sich nun alles drehe. Mackinder lokalisierte sie mit Blick auf die Weltkarte in der Region zwischen Osteuropa und dem Ural. Am Ende des Ersten Weltkriegs kreierte Mackinder für diese öde, unwirtliche und kaum bewohnte Steppenlandschaft den Begriff „Heartland“ (auch „Eurasien“ genannt) und entwickelte mit Blick auf diese Region die alle machtbesessenen Geister elektrisierende Formel: „Who rules East Europe commands the Heartland: Who rules the Heartland commands the World-Island: Who rules the World-Island commands the world.“

Aus der Verkehrung des Machtverhältnisses von Land- und Seemacht und der geopolitischen Aufwertung der eurasischen Landmasse folgt in der Logik der Geopolitik, dass die Seemächte, präziser die nun aufstrebende und das britische Empire beerbende USA geostrategisch in die Defensive gerieten. Ihre führende Rolle konnten sie nur halten, wenn sie die Randgebiete (rimlands), die Küstenregionen der eurasischen Landmasse am Pazifik und Atlantik kontrollierten.

Walter Lippmann, der in den USA einflussreichste politische Publizist, entwickelte im Zweiten Weltkrieg die außen- und sicherheitspolitische Doktrin, dass die USA ihre Sicherheit nicht an ihren eigenen Ost- und Westküsten verteidigen können, sondern nur an den gegenüberliegenden Festland am Atlantik, also Westeuropa, einerseits und am Pazifik andererseits, also China, Korea und Russland bzw. den vorgelagerten Inselstaaten. Das globale amerikanische Sicherheitssystem nach  dem Zweiten Weltkrieg mit den Verteidigungspakten NATO im Westen und ASEAN im Osten entsprach genau dieser Vorgabe. Zugleich wurde damit die Landmacht Sowjetunion, der „russische Bär“ umarmt und in seinen Käfig eingeschlossen. So war und ist die NATO neben einer Wertegemeinschaft eben auch oder vor allem ein geostrategisch konstituierter Verbund zur Absicherung der amerikanischen Seemacht.

Entgegen dem Anschein eines ideologisch aufgeladenen Werte- und Systemkonfliktes, basierte die Weltordnung des Kalten Krieges auf geopolitisch präzise getrennten Einflusszonen, die gestützt wurden durch das nuklearstrategische Patt der beiden Atommächte. Die Einflusszonen unterlagen verschiedenen Ordnungsmodellen, dem regelbasierten liberalen Internationalismus unter der Hegemonie der USA im Westen und dem „clubmäßigen“ Imperium der Sowjetunion im Osten Europas. Umkämpft waren jene an politischer Bedeutung wachsenden Regionen der  Erde, die sich vor allem im sich dekolonisierenden Afrika und Asien dem unmittelbaren Einflussgebiet der atomaren Supermächte entzogen. Aber wie selbstverständlich blieben Mittel- und Südamerika in der Kontinuität der Monroe-Doktrin von 1823 die exklusive geopolitische Einflusszone der USA.

 

Das Ende des Kalten Krieges und die Hoffnung auf die Geoökonomie statt Geopolitik

Nach dem Ende des Kalten Krieges erlebte die Geopolitik wie auch andere zuvor tabuisierte Begriffe, z.B. „nationale Interessen“, ihre allmähliche Wiederbelebung in den öffentlichen Debatten. Aber unmittelbar nach der „Wende“ 1990/91 dominierte zunächst die Hoffnung auf eine „Neue Weltordnung“. Der glanzvolle Sieg der „freien Welt“ in Gestalt des liberal-demokratischen Rechtsstaats, der Menschenrechte und der Marktwirtschaft stand nun alternativlos als vermeintliches „Ende der Geschichte“ da, wie es der amerikanische Publizist Francis Fukuyama treffsicher formulierte.

Die Neue Weltordnung, dominiert von einer einzigartigen Supermacht ohne lästige Konkurrenten, sollte getragen werden von einem durch globalen Freihandel integrierten Weltmarkt, der Wohlstand für alle schafft. Die Zukunft gehörte den Zivil- und Handelsmächten, deren Macht wird in ziviler Währung und nicht mehr in militärischer Stärke gemessen. Statt Panzer und Raketen gelten Ökonomie und technologische Innovationskraft als die entscheidenden Quellen der Macht. Mit dem Primat der Ökonomie wird die Politik sukzessive ersetzt, manche sahen gar einen weltgeschichtlichen Umbruch von der Staatenwelt in eine globale Gesellschaftswelt und prognostizierten im Geiste des Neoliberalismus das Ende der Politik.

In dieser schönen neuen Welt eines liberalen Internationalismus wichen Feindschaften dem friedlichen Wettbewerb der Tauschpartner und Streit um Räume gehörte der Vergangenheit an, weil das Geld den Raum durch Zeit ersetzt. Räume wurden durch moderne Technologie zur quantité négligeable relativiert, bedeutsam sind sie nur noch als Behälter für ökonomisch relevante Rohstoffe und Transportlinien oder als neue Kunsträume der Digitaltechnologie.

Ausgerechnet Ökonomen (Michel Albert, Lester C. Thurow, Edward Luttwak, Jeffrey Garten seien stellvertretend genannt) gossen schon in den 1990er Jahren in den Wein dieses liberalen Traums trübes Wasser. Sie diagnostizierten politisch vermittelte Konkurrenzkämpfe zwischen den kapitalistischen Staaten um die globale Wirtschaftshegemonie. Wer gewinnt welchen Anteil am Weltkuchen, und welche Variante von Kapitalismus wird sich durchsetzen, um die Regeln des globalen Wettbewerbs bestimmen? Aspiranten waren je nach Analyse neben USA, Europa (zuweilen auch Deutschland allein) Japan oder China mit jeweils verschiedenen Varianten von Kapitalismus.

Der integrierte Weltmarkt verwandelte sich als Folge von Machtkämpfen in eine Regionalisierung der Weltwirtschaft mit konkurrierenden Ordnungsmodellen. Dies war im engeren Sinne die Geburt der Geoökonomie, die aber unter dem Primat der Ökonomie die „Geopolitik“ noch ins Schattenreich verwies, denn als das Schlachtfeld der Zukunft galt immer noch der weltweite wirtschaftliche Konkurrenzkampf. Aber bei aller Begeisterung für den Siegeszug des friedensstiftenden Wettbewerbs blieb den Ökonomen nicht verborgen, dass auch dieses sich selbst regulierende System ohne militärische Absicherung nicht auskommen wird. Damit waren die Grenzen rein ziviler Macht präzise gezogen.

 

Die Renaissance der klassischen Geopolitik

Diese Grenzen waren schon in den 1990er Jahren sichtbar, denn neben dem einheitsstiftenden Weltmarkt tobten weltweit vom Balkan über den Kaukasus bis nach Afrika Kriege aller Art. Nationalismus, auch Tribalismus feierten ihre Auferstehung, weil Regionalkonflikte, Auflösung von Imperien nun ihren Konfliktgehalt mit aller Gewalt jenseits der Zähmungen des atomaren Patts des kalten Krieges voll entfalten konnten. Verstärkt durch 9/11 und dem Irakkrieg der USA und seinen Verbündeten sank der Glaube an die Neue Weltordnung ebenso wie  an eine Pax Americana.

Stattdessen dominiert zum Beginn des neuen Jahrhunderts ein Diskurs, dessen Vokabular mehr an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erinnert als an eine Überwindung der Staatenwelt. Begriffe wie Imperium, Hegemonie bzw. globales Gleichgewicht in einer multipolaren Weltordnung mit Regionalmächten als neues (altes) Weltordnungselement bestimmt die Debatten. Im Zentrum stand die Frage, wer wird Nachfolger der USA, wenn sie als Hüterin der liberalen Weltordnung entfällt. Sei es, das sie dazu nicht mehr in der Lage oder bereit ist oder beides zugleich. Einigkeit bestand bestenfalls darin, dass die Welt, wenn nicht „aus den Fugen“, so mindestens in keiner stabilen Ordnung ist.

Dieser Perspektivwechsel ist auch Grund und Resultat einer „geopolitischen Wende“, die von Russland mit Putins Wiederentdeckung „Eurasiens“ ausgeht. Da hier nicht der Raum ist, um die Gründe für Russlands Abkehr von einer prowestliche Politik um das Jahr 2007 zu erörtern, interessiert hier nur Putins Eurasien-Projekt als „geostrategische Antwort“ auf den Westen. Der russische Soziologe und Philosoph Alexander Dugin hat diesem Projekt einen umfassenden Überbau verpasst.

„Eurasien“ ist zu unterscheiden einerseits in einen regionalen Wirtschaftsbund mit Russland als Kern und einem geopolitischen Zivilisationsprojekt als Teil einer neuen Weltordnung. Es bezeichnet Russlands Einflusszonen in einer zu erwartenden und erwünschten postamerikanischen Weltordnung,  die an die Stelle der einen universalen Welt mit einheitlichen Regeln eine multipolare Welt mit mehreren regionalen Weltmächten setzt, die ihre jeweiligen Einflussgebiete mit ihren selbst gesetzten Regeln führen.

Ist Eurasien für Putins Russland Kern eines neuen regionalen Weltmachtbereichs,  erscheint es aus einem amerikanischen Blickwinkel als eine geostrategische Herausforderung. Beispielhaft sieht in der Tradition Mackinders der frühere Sicherheitsberater Jimmy Carters, Zbigniew Brzezinski, in dieser Zone Zentralasiens immer noch den geopolitischen Dreh- und Angelpunkt globaler Vorherrschaft und somit eine existenzielle Bedrohung der USA-Weltmachtposition durch Moskau.

Der mittlerweile verstorbene Brzezinski war (und ist) einer der einflussreichsten politischen Strategen in den USA. Schon Mitte der 1986 publizierte er in seinem den kommenden Ereignissen weit vorausgreifenden Buch Planspiel den damals noch ungeheuren Gedanken, dass die Sowjetunion als Hüterin der eurasischen Landmasse der natürliche geopolitische Gegenspieler der USA abseits ihrer kommunistischen Verfassung sei. Auch ein nach westlichen Standards reformiertes Russland würde an dem Kampf der beiden Giganten um die globale Vorherrschaft nichts ändern.

Aber die Macht ist asymmetrisch verteilt. Die USA gewinnt, wenn sie nichts verliert, die Sowjetunion verliert, wenn sie nicht die Oberhand gewinnt. Als zentrale Kampfzonen eruiert Brzezinski Europas Hälften, wobei das NATO-Europa als verlängerter Arm der USA unabdingbar bleibt, während Osteuropa als zu gewinnendes oder zumindest als zu neutralisierendes Terrain erscheint. Diesen weitsichtigen Faden entwickelte Brzezinski in Die einzige Weltmacht (1997) weiter. Jetzt ist die USA zwar die Weltsupermacht ohne direkten Konkurrenten, aber der Kampf um Eurasien (gegenüber Mackinder mittlerweile gewachsen auf den Raum von Lissabon bis Wladiwostok) entscheidet weiterhin über die globale Hegemonie, da in dieser Region die machtrelevanten Ressourcen der Welt liegen. Gemäß der Machtasymmetrie ist es keineswegs amerikanisches Interesse, Mackinders Heartland selbst zu kontrollieren, aber es darf sich in Eurasien keine gegen die amerikanische Vormachtstellung gerichtete Kraft etablieren. Strategisch entscheidend bleibt deshalb die dauerhafte Kontrolle der eurasischen Randzonen durch die USA, die Küstenstreifen des „eurasischen Schachbretts“ am Atlantik und Pazifik.

Brzezinski ist nicht blind für andere Machtfaktoren wie Ökonomie und Technologie. Er verweist aber darauf, dass Raumkontrolle weiterhin relevant ist. So steht für ihn fest, dass Russland ohne die Ukraine sein Eurasienprojekt verliert. In Brzezinkis Denken spielt die frühere deutsche Geopolitik weder als Lebensraumpolitik noch als Alternative zum universalistischen Normen- und Wertesystem eine Rolle. Als liberaler Internationalist ist die USA für ihn die „unverzichtbare Macht“, weil ohne sie die gegenwärtige Welt in ein Chaos stürzen würde, aber nicht als Beherrscherin der Welt.

Ein Blick auf die Realgeschichte der amerikanischen Außenpolitik zeigt, wie einflussreich seine grundlegenden Analysen bis heute sind. Dass die geographische Lage eines Staates seine außenpolitischen Prioritäten ebenso bestimmt wie seine Größe und Machtressourcen, die dann über die Reichweite seines Einflusses und Engagements entscheiden, ist für Brzezinski wie für die gesamte „Realistische Schule“ der Außenpolitik, zu der übrigens auch Henry A. Kissinger als tonangebender Kopf gehört, selbstverständlich.

 

Und was leistet nun die Geopolitik?

Der kurze Gang durch die vielfältige Begriffsgeschichte der Geopolitik und ihre Wandlungen zeigt, dass es sich hierbei nicht um eine einheitliche Problemstellung und schon gar nicht um eine exakte Naturwissenschaft handelt, die einer  politischen Praxis gesicherte Handlungsorientierungen gibt. Die Geographen müssen erkennen, dass auch Landkarten gelesen und interpretiert werden müssen, was nicht interesselos erfolgt. In ihrer klassischen (deutschen) Phase wurde weniger die Politik durch den Raum erklärt, als vielmehr die Bedeutung des Raumes für eine vorausgesetzte politische Zielsetzung bestimmt. Geografie war hier Legitimationslieferant im Dienst imperialistischer Expansion.

Der Raum an sich ist ohne Bezug zu militärischen und ökonomischen Funktionen eine zu metaphysischen und mystischen Spekulationen einladende gefährliche Größe, wo sich politischer Wille als Weltanschauung der Kategorie des Raumes ohne analytischen Wert bedient. Der Raum an sich verschafft in der Regel keine Macht, er wird durch raumgreifende Mächte aber relevant. Geopolitik ist immer Einflusssphärenpolitik. Gerade im Zusammenhang mit der Ukrainekrise stellte sich aber die Frage, ob geopolitische Einflusssphärenpolitik eine russische Domäne ist oder auch für den Westen gilt. Die Ausdehnung und Gültigkeit des westlichen Regelwerkes, z.B. der EU und der NATO, findet nicht in einer raumlosen Welt statt. Normen, Regeln und Werte brauchen auch Räume, um Geltung zu erlangen und daher ergeben sich kritische Fragen, was Mittel und was Zweck ist. Geht es „nur“ um die Verbreitung des europäischen Regelwerkes oder ist dies (auch) ein Mittel einen geostrategisch höchst bedeutsamen Raum zu kontrollieren?

Bei Mahan und Mackinder ist der Raum im Spannungsverhältnis von Land und Meer, Land- gegen Seemacht als Quelle globaler Vorherrschaft relevant. Geopolitik steht hier in der angelsächsischen Tradition der Handels- und Seemacht keinesfalls im Widerspruch zu einer universalistischen Weltordnung. In dieser Tradition stehen in den USA bis heute Brzezinski und Kissinger als die prominentesten Vertreter einer realistischen Schule der Außenpolitik, die sie allerdings stark mit geopolitischen Annahmen unterfüttern.

 

Bestimmt die Geografie die Außenpolitik der Staaten

Die sich daran anschließende Frage lautet, was bestimmt die Außenpolitik eines Staates und was leistet dazu die politische Geographie? Inwieweit bestimmen die geographische Lage, Größe und Struktur eines Staates die Definition seiner „nationalen Interessen“. Geht man von der real existierenden (westfälischen) Staatenwelt als Ordnungsrahmen aus, dann strebt jeder Staat in der anarchischen Staatenwelt nach Sicherheit und nach Macht. Macht dient dem Sicherheitsinteresse und der Verfolgung so genannter nationaler Interessen. Die leiten sich dann wiederum aus „objektiven“ Faktoren wie Größe und Bedeutung des  Staates, geografische Lage ergänzt um kulturelle Tradition und Geschichte ab. In konzentrierter Form findet sich dieses Konstrukt in der legendären Formulierung des englischen Staatsmanns Lord Palmerston, Staaten hätten keine ewigen Feinde, sondern nur ewige Interessen. Der Glaube an in Stein gemeißelte objektive Interessen, die sich in einer „Staatsräson“ verselbständigen finden ihre Plausibilität an zahlreichen Beispielen wie Russlands Suche als klassische Landmacht nach  Zugang zum Meer oder Polens nationale Interessen auf Grund seiner geographische Lage zwischen zwei Großmächten mitsamt der leidvollen Geschichte einer fragilen Existenz.

Alle diese Lehren basieren auf der Annahme eines Primats der Außenpolitik, die den Interessen – egal ob mit oder ohne  geopolitische Determinanten – eine von den politischen Akteuren abgekoppelte Objektivität verleihen und als selbständige „Staatsräson“ alle gesellschaftlichen Faktoren innerhalb der Staaten ausklammern.  Der Paradigmenwechsel zur Gegenposition vom „Primat der Innenpolitik“ vollzog sich nicht zufällig im Kalten Krieg.

Was aber die für die Außenpolitik entscheidende die innere Struktur ist, wurde genau der Streitpunkt des Kalten Krieges. Der Westen setzte in der Tradition des amerikanischen Präsident Wilson die Demokratie als die notwendige Bedingung für einen dauerhaften Frieden und der Osten im Geiste Lenis den Sozialismus als sozioökonomische Struktur. Bislang sind beide Varianten nicht beweisbar.

Als problematisch mit praktischen Folgen erweist sich die Annahme objektiver oder natürlicher Interessen. Wie viel  Streit bis zum Krieg hier seine Ursache hat, wäre noch zu ermitteln. Löst man sich dagegen von dem Trugbild solcher Objektivität, wird der Interessenbegriff zu einer empirischen und variablen Größe, die als Ergebnis eines innenpolitischen Kampfes um konkurrierende Interessen und Werte erscheint. Das schließt bei bestimmten äußeren Rahmenbedingungen einen mehr oder weniger großen Konsens über nationale Interessen nicht aus.

Deutschland ist mit seiner Mittellage in Europa ein Musterbeispiel für eine geopolitische Konstanz, die der Historiker Hagen Schulz so formulierte: „Die große Konstante der deutschen Geschichte ist die Mittellage in Europa; Deutschlands Schicksal ist die Geographie“. Das Schicksal bot und bietet aber mehrere Antworten auf diese deutsche Frage: Ob Hammer oder Amboss, Weltmacht oder Niedergang, ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland, Sicherheit vor oder mit den Nachbarn sind mögliche Alternativen.

So lehrt die geschichtliche Erfahrung, dass die Geographie wohl Fragen stellt, aber keine verbindlichen Antworten gibt. Herfried Münklers Unterscheidung in eine starke und eine schwache Variante geopolitischen Denkens ist hier hilfreich. In der starken schreibt die Geopolitik vor, was zu tun und zu lassen ist, in der schwachen verweist sie lediglich auf die Berücksichtigung geopolitischer Aspekte – und seien sie auch nur für den Gegenspieler von Relevanz – bei der Konzeption einer eigenen politischen Strategie. Ein geopolitischer Determinismus ist eine gefährliche Falle, aber deshalb die geographischen Faktoren zu ignorieren, wäre fahrlässig.

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