Dienstag, 16. April 2024

Wortmann wortwörtlich: Willy Brandt – Porträt anlässlich des 50. Jahrestags der Verleihung des Friedensnobelpreises – 4. Teil

Willy Brandt – 4. Teil
(hier geht es zum 1. Teil, 2. Teil, 3. Teil)

VII. Die Erfüllung eines Traums und der Streit um die deutsche Einheit

Von einer möglichen „Wiedervereinigung Deutschlands“ war in den 1980er Jahren nicht die Rede. Bei den Verbündeten, publik machte es Italiens Ministerpräsident Andreotti, mehrten sich die Stimmen, eine Teilung Deutschlands sei gerade wegen der zunehmenden Macht beider Teile in ihren jeweiligen Blöcken die Voraussetzung einer möglichen Überwindung der Spaltung Europas in Ost und West. Selbst in Westdeutschland war ein Ende der deutschen Teilung kein Thema.

Dabei tat sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre einiges. Brandts Verhältnis zum Amerika Reagans war distanziert. Den Präsidenten trifft er nie, weder in Washington noch in Berlin, die Abneigung ist beiderseitig. Dagegen sieht er Hoffnungsschimmer im „Reich des Bösen“. Kurz nach Michail Gorbatschows Amtsantritt 1985 sondiert Egon Bahr für Brandt ein Gespräch mit ihm und bringt überraschende Erkenntnisse mit, die in einem bald folgenden Gespräch Brandts mit Gorbatschow bestätigt werden. Dieser Mann will viel, er will die Sowjetunion politisch bis zur Unkenntlichkeit reformieren, um sie auf die Höhe der Zeit zu bringen. Der Rüstungswettlauf mit den USA versinkt zugunsten globaler Probleme, die nur gemeinsam gelöst werden können. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf den bestehenden Ostblock bleiben und damit nicht auf Gesamteuropa und auf die Welt. Brandt blieb zuerst skeptisch, ob er das wirklich so meint und vor allem, ob er das in seinem eigenen Laden durchbringt. Damit kannte er sich ja aus. Ihn irritierte, dass sein gesellschaftliches und politisches Reformprogramm faktisch einer Sozialdemokratisierung gleich kam, aber im Namen Lenins dargestellt wurde.

Der von Gorbatschow angestoßene Reformprozess brachte eine andere Variante in der Dialektik von Außen- und Innenpolitik zum Vorschein. Bislang war es ratsam, dass Reformprozesse in den Ländern der Verbündeten der UdSSR die politische Stabilität der Blöcke nicht gefährden durften. Polen mit der nach Unabhängigkeit strebenden Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc war dafür ein Beispiel. Wenn eine Opposition zudem noch offen von der „anderen Seite“ Unterstützung findet, gefährdet sie die Stabilität doppelt, weil sie damit zur „fünften Kolonne“ des Feindes wird. Reformen können sich in dieser Blocklogik mit autoritären Regime wie im Ostblock nur von oben entfalten und dies auch nur, wenn der Außendruck gering ist. Grundvoraussetzung ist Stabilität, und alles, was diese Stabilität gefährdet, ist gefährlich. Darin lag das Dilemma des Umgangs mit Reformkräften der anderen Seite wie in Polen. Hier hielt sich Brandt mit Kritik an den Herrschenden wie Unterstützung für Walesa sehr bedeckt, was reichliche Irritationen und Verstimmungen hervorrief.

Aus diesem widersprüchlichen Verhältnis boten die Reformen von oben und dazu noch in der Führungsmacht Sowjetunion eine ganz neue Situation. Als im Eiltempo die Reformbemühungen Gorbatschows im Innern mit den vorsichtigen Korrekturen in der Außen- und Bündnispolitik, d.h. hier Annullierung der sogenannten Breschnew-Doktrin von 1968 zur eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten im Warschauer Pakt, Realität annahmen und sich hinter dem Eisernen Vorhang allerorten Aufbruch von unten meldete, war alles anders. Aber nichts war sicher, vieles schien möglich blieb zugleich ungewiss. Dass da dann in Windeseile die deutsche Einheit herauskam, war alles andere als absehbar oder auch nur wahrscheinlich.

Bis dahin galt als gesicherter Grundsatz, dass die Lösung der deutschen Frage, in welcher Form auch immer, am Ende einer blockübergreifenden friedlichen Neuordnung Europas stehen würde und als Teil einer gesamteuropäischen Friedensordnung die Zustimmung aller bedürfe. Die deutsche Frage war der europäischen untergeordnet und sie war somit auch nicht eine Frage, die die Deutschen unter sich lösen können. Letzteres entsprach nebenbei auch noch den bestehenden völkerrechtlichen Fakten, da allein die Vier Siegermächte über „Deutschland als Ganzes“ zu entscheiden hatten. Das hatte der „Deutschlandvertrag“ in den fünfziger Jahren im Westen wortgleich mit dem Freundschaftsvertrag der DDR mit der Sowjetunion geregelt.

Bekanntlich hat sich die Geschichte an diese Logik nicht gehalten. Als durch die Demonstrationen in der DDR und dann noch durch den rein zufälligen Fall der Mauer Fakten geschaffen wurden, die in keinem Drehbuch standen, erkannte der Ehrenvorsitzende blitzschnell die Situation und die Chancen. Am Tage nach dem Fall der Mauer wird er den zu dieser Zeit auch kühnen Satz von sich geben: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört!“ Während den Enkeln und vielen anderen ob der Rasanz der Veränderungen und so viel Geschichte mehr oder weniger schwindelig wurde, sah Brandt einen für sich erfüllbaren Traum aufsteigen: die deutsche Einheit auf friedlichem Wege als Krone seines Lebenswerkes.

Dafür drang er zur Eile. Auf dem Berliner Parteitag im Dezember 1989 muss eine verblüffte Genossenschaft hören, man könne die deutsche Einheit nicht am Bahnhof stehen lassen, bis sie ein europäischer Zug mal mitnähme. Als der Lieblingsenkel Lafontaine postnational dagegen hielt, das eigentliche Ziel sei die Befreiung der Bürger in der DDR – und nicht die Einheit, da hat in Brandts Augen nicht nur dieser, sondern eine gesamte Generation versagt, weil sie der geschichtlichen Bedeutung dieser Situation nicht gewachsen war.

Der Erfolg einer für alle unerwartet rasch sich vollziehenden deutschen Einheit hatte dann schnell viele Väter. Reagans „Star Warst“ ebenso wie Schmidts Nachrüstungsbeschluss, beides soll die Sowjets totgerüstet haben und Kohls demonstratives Bekenntnis zur Stärke der NATO müsste dann das Politbüro der KPdSU in solch einen Schrecken versetzt haben, dass sie sich als Notlösung den Reformer Gorbatschow suchten.

Tatsächlich kamen die Veränderungen aus dem Reich des Bösen selbst und hatte einen Namen: Michail Gorbatschow. Letztlich teilte er das Schicksal aller Reformer in der russischen Geschichte, er scheiterte und verschwand ungeliebt in der Versenkung der russischen Geschichte. Aber eine große weltgeschichtliche Wende ist untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Die Frage wäre eher, was hat innerhalb des Sowjetsystems diesen Mann überhaupt ermöglicht? Der langjährige sowjetische Botschafter in Deutschland, Valentin Falin, der eine sehr einflussreiche Größe in der sowjetischen Politik war, sagte einmal, ohne die Ostpolitik, des Versuchs der Verständigung durch Brandt sei ein Gorbatschow nicht denkbar gewesen. Wenn Westdeutschland zu Beginn der siebziger Jahre mit den Ostverträgen den territorialen Status quo der Nachkriegsordnung nicht völkerrechtlich bindend anerkannt hätte, wäre eine Wiedervereinigung Deutschlands undenkba5t gewesen, wenn damit zugleich die Grenzen hätten geregelt werden müssen. Schon Kohl nur kurzes Zögern, die Westgrenze Polens festzuschreiben, hätte beinahe alles zur Disposition gestellt.

VIII. Versuch einer Bilanz und Charakterisierung

Entpuppte sich Brandt mit seinem Drang zur deutschen Einheit am Ende gar als Nationalist, wie manche meinten? Henry Kissinger äußerte diesen Verdacht, der auch auf Egon Bahr fiel, schon in seinem ersten Memoirenband. Aber das konnte auch heißen, ihnen war die deutsche Sache wichtiger als die NATO.

Es fällt schwer ein so sehr von Internationalität geprägtes Leben und Handeln mit Nationalismus in Verbindung zu bringen. Aber die Frage stellt sich schon, was war ihm die Nation? Er verstand darunter in Übereinstimmung mit seinem Freund und Kritiker Günter Grass die Kulturnation, die es in ihrem gelebten Gemeinschaftsgefühl der Menschen, die willkürlich getrennt wurden, zu erhalten galt. Die staatliche Einheit war dafür nicht zwingend, aber wenn sie sich als Chance ohne Gefährdung des Friedens bot, warum sollte sie den Deutschen verwehrt werden? Hatten sie mit der Teilung als Strafe für das Dritte Reich zu büßen? Eine Strafe, die sich im Westen leichter ertragen ließe als im Osten.

Er hatte schon im Exil dafür plädiert, dass die Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts, in der Atlantik-Charta und der UNO niedergelegt, auch für die Besiegten, also auch für die Deutschen gelten müsste. Und schwerlich lässt sich bei aller Kritik an dem Einigungsprozess behaupten, die DDR-Bevölkerung sei annektiert worden und damit handele es sich um einen Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht.

Fragen wir zum Ende, was war das nun für eine Persönlichkeit, die dieses erfüllte und bewegte Leben kurz vor seinem 80. Geburtstag an einem Krebsleiden sterbend beschloss? Was waren die Gründe für seine Ausnahmestellung, die der konservative Kolumnist Johannes Gross so umschrieb: „Adenauer wurde respektiert, Brandt aber haben die Deutschen geliebt – auch um seiner Schwächen willen, die ihn menschlich so nahe rückten.“

Dass er Wein, Weib und Gesang liebte, wusste eigentlich jedermann. Nicht umsonst war sein Spitzname in Berlin „Whisky-Willy“ und das war eher liebevoll gemeint. Man wusste, er lebte für die Politik, aber nicht von ihr für seinen persönlichen Vorteil.

Er war der letzte Vorsitzende der SPD, der noch durch die Kultur der klassischen Arbeiterbewegung geprägt wurde. Er gehörte zu einer Politikergeneration, die für ihre politischen Überzeugungen auch unter Einsatz ihres Lebens kämpften. Sie mussten Zeiten erleben, wo politische Gesinnung einem Charaktertest unterworfen wurden. Dass dabei andere Persönlichkeiten herauskommen, sollte uns nicht wundern, aber dafür müssen wir uns solche Zeiten nicht zurückwünschen.

Was war sein Ziel? In einem Gespräch mit dem Journalisten und Publizisten – und seinem späteren Redenschreiber – Klaus Harpprecht, zu Beginn seiner Kanzlerschaft, antwortete er darauf mit einem Zitat von August Bebel: „Ein Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit!“ Er verabscheute jegliche Form von Gewalt wie auch autoritären Gehabes, weshalb für ihn der Friede und das Überzeugen durch Argumente die Voraussetzung allen Tuns waren.

Zu seinem Grundwert erklärte er 1987 in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender die Freiheit. Nicht die Freiheit des Bourgeois ist die Freiheit, die er meinte. Die Freiheit aller, die „Befreiung der Menschen aus Knechtschaft und unwürdiger Abhängigkeit“, wie er es in einer Rede über Karl Marx formulierte. Die gleichen Lebens- und Teilhabechancen für alle waren ihm der Kern des Sozialismus und der bedurfte der Demokratie als politische Form. Brandt war in diesem Sinne immer ein demokratischer Sozialist.

Er war kein Macher und auch kein Freund der schnellen Entscheidungen. Lieber ließ er die Dinge sich entwickeln, seine Kritiker nannten es, sie treiben zu lassen. Er war nicht frei von melancholischen Anwandlungen, regelmäßig nahm er seine Grippe für versteckte Auszeiten. Mehrfach wollte er resignierend einfach alles hinwerfen, aber dann in scheinbar aussichtslosen Situationen konnte er blitzschnell zupacken und zum überragenden und begeisternden Kämpfer werden. Horst Ehmke hat solche Momente und Erfahrungen in seinen Erinnerungen „Mittendrin“ anschaulich beschrieben.

Brandt war wie Bebel keiner, der als Theoretiker ins Pantheon der Klassiker des Sozialismus eingeht. Er war wie sein großes Vorbild ein politischer Praktiker, kein Doktrinär, aber auch nicht das, was sich heute als Pragmatiker feiert und damit nur die technokratische Auslieferung an eine „alternativlose“ Realität camoufliert. Beide galten mindestens für ihre Anhänger als glaubwürdige Menschen, denen man vertraute, die Moral und Macht in ihrer Person versöhnten, die Menschen begeistern konnten für Ideen, die über den Tellerrand des Alltags hinaussahen, ohne die Sorgen des Alltags zu vergessen. Und beide erfuhren etwas sehr Besonderes, sie wurden geliebt und gehasst, aber am Ende von nahezu allen mit großem Respekt gewürdigt.

Und doch hat der handelnde Politiker nicht immer in der gleichen Ecke gestanden. Er war in seiner Jugend ein bekennender Linker, mit seinem Einstieg in die reale Politik in Berlin zählte er in der Partei zu den Rechten, dann ein Mann der Mitte, der Versöhnung und des entschiedenen „Sowohl als auch“. Mit zunehmendem Alter, so zitiert ihn Egon Bahr in seinen Erinnerungen, habe er sich wieder als Linker gefühlt.

Er war ein Realist, aber er lieferte sich der Realität nicht aus, er suchte und sah die Veränderungsmöglichkeiten mit einem guten Instinkt für Strömungen und Veränderungen in der Gesellschaft. In einem Aufsatz für den SPIEGEL befand er, nichts sei schlimmer in der Politik als Illusionen. Dagegen setzte er das, was er Realismus nannte, aber er behielt stets den Rahmen mit im Blick, der darüber hinaus weist. Das könnte man gegen Helmut Schmidts Diktum, der dafür Ärzte zuständig hielt, auch eine Vision nennen, eine Vorstellung von etwas anderem. Nimmt man die von Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ getroffene Unterscheidung in Wirklichkeits- und Möglichkeitsmenschen, gehört er zur letzteren Kategorie.

Er hielt große Reden, die er selber schrieb, war aber mit seiner rauchigen Stimme und seinem gepressten Sprachduktus alles andere als ein großer Redner. In dieser Disziplin konnte er Helmut Schmidt nicht das Wasser reichen. Seine zuweilen tastenden, vagen und auch kryptischen Formulierungen erweckten beim Publikum den Eindruck eines Dialogs. Er hatte eine schöne, einfache und bildhafte Sprache, die Reden beeindrucken nicht durch eine zwingende Logik, aber er beherrschte die Kunst, für jeden Moment die richtigen Worte zu finden und vor allem war seine Sprache gänzlich frei von allen Phrasen, die heute – wie übrigens auch schon früher – die Politikersprache dominiert.

Er erreichte mit seiner Art die Menschen, aber er selbst galt als geradezu unnahbar. Seine zweite Frau Rut hat das in ihren Erinnerungen bedrückend und einfühlsam beschrieben. Er kannte Unmengen bedeutender Menschen, aber auf die Frage seines ältesten Sohns Peter kurz vor seinem Tode, wer eigentlich seine Freunde gewesen seien, antwortete er: Egon! Gemeint war natürlich Egon Bahr.

Am Ende seiner „Erinnerungen“ schrieb er, was für ihn die „Summe seines Lebens“ war:

„Mitgetan zu haben, dass der deutsche Name, der Begriff des Friedens und die Aussicht auf europäische Freiheit zusammengedacht werden, ist die eigentliche Genugtuung meines Lebens.“

Dem Tode nahe schrieb er an die in Berlin tagende Sozialistische Internationale eine Grußbotschaft. Sie liest sich wie ein Vermächtnis:

„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf der Höhe der Zeit zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Er starb am 8 Oktober 1992 um 16.35 Uhr.

Er war – wie Max Weber sagen würde – religiös eher unmusikalisch, Agnostiker, aber ganz sicher neugierig, was da jetzt wohl kommen würde „in jenem Bezirk von dem kein Wanderer wiederkehrt“.

Auf seinem Grabstein auf dem Friedhof Zehlendorf sollte ein Satz stehen, der viel über einen Menschen sagt, der so merkwürdig oft von sich in der dritten Person sprach:

Man hat sich bemüht!


Anmerkungen zur Literatur:

Willy Brandt ist gelernter Journalist, er hat gern und viel geschrieben. Von etlichen politischen Büchern zu aktuellen Themen abgesehen, ragen drei Memoirenwerke aus seinem Werk heraus.

Brandt; Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975. Hamburg 1976 ist eine Mischung aus autobiografischen Elementen und einer Analyse der politischen Entwicklung dieses Zeitraums.

Brandt; Links und frei. Mein Weg 1930-1950. Hamburg 1982 ist sein persönlichstes und schönstes Buch über seine Entwicklung mit dem Schwerpunkt auf die Zeit im Exil.

Brandt; Erinnerungen. Berlin 1989 ist sein letztes und sein Leben resümierendes Memoirenwerk, das der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz die ehrlichste und selbstkritische Autobiografie eines Politikers nannte.

Und über ihn? Die umfassendste (927 Seiten) und bislang beste Biografie stammt aus der Feder des Journalisten: Peter Merseburger; Willy Brandt. 1913 – 1992. Visionär und Realist. Stuttgart – München 2002

 

 

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