Freitag, 26. April 2024

Very British. Eine Expedition auf die Insel – Teil 8

Ein Bericht unserer Korrespondentin Wendy Wordsworth
Britische Charity Shops, ein nachhaltiges Einkaufsparadies 

Eine gute Idee auch für Deutschland?

Müll, Abfall, Plunder für die einen, genau das, was sie gerade dringend brauchen für die anderen – oder etwas, das sie zufällig entdeckten, aber plötzlich ebenso dringend besitzen wollen („Mein Schatz, mein Schaaaatz!“) … das kennt man bei uns vor allem von Flohmärkten. Wer in Großbritannien Urlaub macht, stellt fest, dass er dafür nicht erst auf einen Flohmarkt bzw. car boot sale warten muss – dort sind solche Einkaufserlebnisse alltäglich.

Die Läden der British Heart Foundation (Foto: OR)Die Läden der British Heart Foundation (Foto: OR)

Auf jeder britischen High Street, der Hauptgeschäftsstraße, finden sich Charity Shops zwischen den regulären Geschäften. Charity (Wohltätigkeits)- oder Thriftshops („Spar“-Geschäfte) sind Second-Hand-Läden oder Soziale Kaufhäuser, die von einer gemeinnützigen Organisation betrieben werden. Der wichtigste Unterschied zu Deutschland ist ihre Häufigkeit in jeder britischen Stadt, und zwar in bester Lage. Aktuell gibt es mehr als 11.000 dieser Shops. Glücklicherweise haben die meisten die Schließung während der Pandemie überlebt und sind in der gewohnten Anzahl nach wie vor existent. Große Organisationen, wie die im gleichen ikonischen Rot wie die britischen Telefonzellen gehaltenen und deshalb von weitem auszumachenden Läden der British Heart Foundation, die medizinische Forschung im Bereich von Herz-Kreislauf-Erkrankungen fördert, oder Barnardo’s, eine 150 Jahre alte Einrichtung zur Unterstützung von Kindern und jungen Erwachsenen in Not, betreiben landesweit jeweils über 700 Läden. Cancer Research UK hat 600. Ihre Schirmherrin war die verstorbene Queen, die insgesamt 600 Wohltätigkeitsorganisationen im Land unterstützte, darunter etliche, die charity shops betreiben. Überall gibt es auch regionale Initiativen, die sich zum Beispiel für ein Hospiz in der Stadt, für Obdachlose oder wie das Whitby Wildlife Sanctuary für Tiere in Not engagieren.

Trash and Treasure, Maidstone (Foto: Paula Foley)

In der netten Kleinstadt Maidstone in Kent etwa, die inklusive Umland etwa so viele Einwohner wie Osnabrück hat, findet man bei einem Einkaufsbummel direkt im Zentrum aktuell mindestens 15 solcher Läden, u. a. von Age UK, Barnardo’s, der British Heart Foundation, Cancer Research, Cats Protection, Demelza Hospice Care for Children, Dogs Trust, Hospices of Hope, einen Oxfam Bookshop, Sue Ryder und The Children’s Trust, dazu noch die mehrerer lokaler Organisationen wie den Heart of Kent Hospice shop, Hi-Kent, eine Wohltätigkeitsorganisation für Gehörlose oder Hörgeschädigte, den Laden von Making A Difference to Maidstone (MADM), der seit 2015 vor allem Obdachlose oder die Peggy Wood Foundation, die seit 1980 das örtliche Krankenhaus unterstützt, und den des Blackthorn Trust, der auch Pflanzen aus dem eigenen Garten der Rehabilitationseinrichtung im Angebot hat. Und trotz der vielen Charity Shops finden mit Cash for Clothes und Trash or Treasure auch kommerzielle Second-Hand Geschäfte dort noch ihr Publikum.

Daneben gibt es viele weitere lokale und landesweite charity shops in Großbritannien: Die Läden des British Red Cross, von Marie Curie, das Hospize unterhält, der Samaritans, Save the Children oder Scope, einer Organisation vergleichbar der deutschen Aktion Mensch. Von Oxfam, der auch in Deutschland mit 55 Läden vertretenen Organisation, hält ein britischer Bekannter der Korrespondentin nichts, weil die Artikel in den großen Läden overprized, also zu teuer und quasi der Snob unter den charity shops seien. Außerdem geriet Oxfam in Großbritannien in Verruf, als sich herausstellte, dass Angestellte der Organisation während eines Einsatzes nach dem Erdbeben in Haiti von 2010 Partys mit Prostituierten in zuvor angemieteten Häusern veranstaltet hatten und ihrem Label ethically sourced dabei nicht wirklich gerecht wurden. Doch ansonsten sind charity shops sozial engagierte Institutionen, die in ihren Gemeinden verwurzelt sind und die Idee verkörpern, dass Menschen sich umeinander kümmern.

Hier lassen sich ganze Pferdeherden günstig erwerben (Foto: OR)Hier lassen sich ganze Pferdeherden günstig erwerben (Foto: OR)
Wie kam die Tasse aus dem alten Sachsen wohl nach Südengland? (Foto: OR)Wie kam die Tasse aus dem alten Sachsen wohl nach Südengland? (Foto: OR)

Und wer hat’s erfunden, das charity shopping? Schon wieder die Schotten. Eine interessante Wohltätigkeitsorganisation der Universität in Edinburgh, EUS ( Edinburgh University Settlement), die Studenten und Akademiker durch Ansiedlung in unterprivilegierten Wohngegenden mit arbeitenden Menschen räumlich zusammenbringen wollte, „um ihre Energien für das gemeinsame soziale Wohl zu vereinen“, öffnete 1937 den ersten Thrift Shop for Everyone. Als am 1. Juni 1941 auch in Großbritannien Kleidung kriegsbedingt rationiert wurde, folgte das Rote Kreuz mit seinem ersten Charity Shop in der Bond Street in London. Bis zum Ende des Krieges hatte es 350 Läden in der Metropole geöffnet. Die meisten Geschäftsräume wurden kostenlos zur Verfügung gestellt, manchmal übernahmen die Eigentümer auch die Kosten für Heizung und Elektrizität. Das ist heute meist nicht mehr der Fall.

Igel in Tasse (Foto: Museums and Galleries)

Die britischen Wohltätigkeitsorganisationen sammeln vor allem Bekleidung, Schuhe, Bücher, Haushaltswaren, Schmuck und Saisonware. In manchen gibt es auch Möbel. In die Sammelcontainer, die bei uns nur für Kleidung gedacht sind, kann man dort oft auch Bücher und andere Dinge werfen. Die charity shops verkaufen alles außer Schuluniformen, Kinderwagen und -sitzen, aufblasbarem Wasserspielzeug und Kuscheltieren ohne CE-Sicherheitslabel. Ein Igel, der sich im August ganz unten in der Spendentüte für den Laden des Farleigh Hospice in Witham, Essex, fand, wurde allerdings ebenso wenig weiterverkauft wie die Handgranate in einem Möbelstück, das der British Heart Foundation in Wigan bei Manchester im Mai gespendet wurde, die einen Großeinsatz der Polizei zur Folge hatte.

Ob man in einer zwei Kilogramm schweren Enzyklopädie sein Wissen über Blumen vertiefen, etwas über die Birds of Southern Africa herausfinden möchte oder How to learn Hindi in 5 Days – die bunte Auswahl an Büchern in Charity Shops ersetzt fast die Volkshochschule. Auch Schnurrbartträger (The Moustache Growers Guide) oder The Hipster finden hier Rat und Hilfe. Oxfam hat in größeren Orten wie Cambridge oder Bristol Shops, in denen ausschließlich Bücher verkauft werden – so gut sortiert, dass sie bei Geschichte nach World History, Military History und British History unterscheiden. Diese Klassifizierung sagt einiges über das Land aus, in dem das Militär immer noch eine wichtige Rolle spielt, man sich für seine Geschichte interessiert und die Erde ansonsten in Großbritannien und den Rest der Welt einteilt.

Schaufenster in Eastbourne im August (Foto: OR)Schaufenster in Eastbourne im August (Foto: OR)
Kleidung und Körbe in reicher Auswahl (Foto: OR)Kleidung und Körbe in reicher Auswahl (Foto: OR)

Nicht nur Schnäppchenjägern macht es Spaß, in den diversen charity shops einzukaufen. Sie sind für viele Lieblingsorte zum Stöbern. Bücher sind (wie bei den Flohmärkten des CVJM in Osnabrück) nach Themen, Romane manchmal auch noch nach Autor sortiert, die Bekleidung hängt oft nicht nur nach Größen, sondern auch nach Farben arrangiert auf dem Ständer, und ist nicht selten hochwertig. Statt von Second-Hand spricht man gern von pre-loved, vintage oder shabby-chic. Das Royal Trinity Hospice in Clapham Junction ist sogar auf Marken wie Stella McCartney und Hugo Boss spezialisiert, Oxfam Bridal in Leatherhead auf Brautausstattung. In Eastbourne waren Ende August alle Schaufenster auf die Flugshow Eastbourne Airborne ausgerichtet. Gelegentlich gibt es auch fabrikneue Ware, und fast alle Shops verkaufen Glückwunschkarten für diverse Anlässe. Bei Hi-Trade gibt es zum Beispiel auch Fairtrade-Produkte aus Nepal.

Erinnerung an das schottische Balmoral (Fotos: OR)Erinnerung an das schottische Balmoral (Fotos: OR)
Erinnerung an die amerikanischen Niagara-Fälle (Fotos: OR)Erinnerung an die amerikanischen Niagara-Fälle (Fotos: OR)

Wohltätigkeitsläden profitieren zwar von der in Großbritannien besonders großen sozialen Kluft, sind aber längst nicht mehr nur das Revier derjenigen, die notgedrungen billigere Waren suchen, sondern auch für Käuferinnen und Käufer mit anderen Motiven, darunter Schatzsucher, die auf der Suche nach Ungewöhnlichem diese modernen Aladin-Höhlen durchstöbern. Und bei Schönem und Schaurigem fündig werden: Einem Porzellan-Corgie, oder einem Souvenir aus Balmoral zur Erinnerung an die Queen, einer Sammeltasse aus dem sächsischen Bad Elster oder einer Teekanne mit den Niagara-Fällen. Die Zeiten, wo man günstig echte Schätze finden konnte, sind allerdings vorbei. Seit Internet und eBay kostet jeder Gegenstand, der ein gewisses Alter hat, mindestens 7 oder 8 Pfund, egal, worum es sich handelt. Das ist in deutschen Second-hand-Läden allerdings nicht anders.

Dieser Tiger sucht ein neues Zuhause (Foto: OR)

Das Geschäft mit dem Trash für den guten Zweck lohnt sich. 2018 betrug der Umsatz aller Läden zusammen umgerechnet fast eine Milliarde Euro, der Gewinn für diverse wohltätige Zwecke 2022 mehr als 270 Millionen. Der durchschnittliche Gewinn von charity shops die sich 2019 an einer Umfrage beteiligten, betrug 554 Pfund pro Woche. Unmittelbar vor der Pandemie steigerten sich Umsatz und Profit der charity Shops im Jahr um 5 Prozent, nach dem Ende des Lockdowns 2021 sogar um 7 Prozent. Von der Gewerbesteuer sind die wohltätigen Handelsunternehmen zwar zu 80 Prozent befreit, und auch die verbleibenden 20 Prozent kann eine Kommune erlassen. Für das jeweilige Ladenlokal wird aber Miete fällig. Manche Vermieter sind bereit, nur eine minimale Miete von einer gemeinnützigen Organisation zu kassieren, der sie kurzfristig kündigen können, statt monate- oder jahrelang eine leere Ladenfront zu haben. Doch meistens sind Mieten in gleicher Höhe an wie in den Vergleichsflächen ringsum zu zahlen. 22.000 Pfund im Jahr sind es im Landesdurchschnitt, in London erheblich mehr. Zudem fallen Personalkosten an. Charity Shops haben meist einen festangestellten Shopmanager, der von einer weiteren festen Kraft unterstützt wird. Dadurch bieten sie 25.000 Personen in Großbritannien Beschäftigung und weiteren 233.000 Freiwilligen die Möglichkeit, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu stärken, darunter auch ganz junge Leute, die Erfahrung sammeln wollen. Vielen älteren Menschen hilft die Arbeit dort, Einsamkeit zu überwinden und gleichzeitig etwas Sinnvolles zu tun. Im Durchschnitt engagieren sich 17 Ehrenamtliche pro Shop. In denen von Scope erhalten Menschen mit Behinderung eine Beschäftigungsmöglichkeit, wie in Osnabrück im Stadtgalerie Café.

Reicht für die Familienfeier: Regal mit echtem bone china Geschirr (Foto: OR)

Viele Briten kaufen in den Shops, weil sie sich reguläre Ware nicht leisten können. Vielen gibt es aber auch ein gutes Gefühl, dass Dinge weiter genutzt werden können. Die Pandemie hat noch mehr Menschen dazu gebracht, darüber nachzudenken, wo und wie sie konsumieren und sie bewusster für Nachhaltigkeit gemacht. Viele Menschen wollen aus Überzeugung keine Rohstoffe für neue Ware mehr verschwenden. Sie kaufen, wie auch junge Leute in Osnabrück, soweit wie möglich second hand ein, „weil es nachhaltiger ist, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen, anstatt neue zu produzieren, obwohl ja von allem genug da ist. Und dann spart man ja auch die Energie und Chemikalien etc. die es braucht, um neue Teile zu produzieren.“ Wohltätigkeitsläden verkörpern ein Geschäftskonzept, das als Triple Bottom Line bekannt ist und drei wichtige Ziele hat: Menschen, Planet und Gewinn. Den charity shops gelingt es, Geld für ihre Wohltätigkeitsorganisationen verdienen und dabei zugleich auch ökologische Ziele zu verfolgen. Durch die Menge dieser Geschäfte in Großbritannien haben sie tatsächlich eine messbare positive Auswirkung auf die Umwelt. Der Think Tank Demos schätzt, dass das Recycling und die Wiederverwendung der Kleidung, anstatt sie auf die Mülldeponie zu schicken, 6,9 Millionen Tonnen CO2-Emissionen einspart. Würden die 339.000 Tonnen an Kleidung, die die charity shops jährlich umsetzen, auf dem Müll landen, würde das die britischen Kommunen zusätzliche 27 Millionen Pfund pro Jahr für ihre Abfallwirtschaft kosten, die sie stattdessen für kommunale Einrichtungen verwenden können.

Toby oder Character Mugs, vermutlich nach einem Säufer aus Yorkshire, Toby Fillpot, benannt, der durch das Lied vom Braunen Pott, „The Brown Jug”, bekannt wurde (Foto: OR)Toby oder Character Mugs, vermutlich nach einem Säufer aus Yorkshire, Toby Fillpot, benannt, der durch das Lied vom Braunen Pott, „The Brown Jug”, bekannt wurde (Foto: OR)
Beliebtes britisches Souvenir: sogenannte Kaminhunde (Foto: Michael Schwarzwald)Beliebtes britisches Souvenir: sogenannte Kaminhunde (Foto: Michael Schwarzwald)

Wie andere regelmäßige Großbritannienfahrer würde die Korrespondentin sich wünschen, dass Leerstände von Geschäftsräumen bei uns mit dem gleichen Konzept wieder mit Leben gefüllt werden. Angesichts der bevorstehenden Finanzknappheit bei Privatpersonen und Kommunen und der wachsenden Bereitschaft, sich umweltfreundlich zu verhalten, wären Charity Shops auch bei uns sehr zu begrüßen.

Gratulieren für den guten Zweck mit Karten aus Charity-Shops (Foto: OR)Gratulieren für den guten Zweck mit Karten aus Charity-Shops (Foto: OR)
Kinder- und Jugendbücher (Foto: Michael Schwarzwald)Kinder- und Jugendbücher (Foto: Michael Schwarzwald)

Auf jeden Fall sind sie für Touristen in Großbritannien ein riesiges Vergnügen, weil man dank der günstigen Preise und ohne schlechtes Gewissen durchaus mal in einen Kaufrausch an very britischen Produkten wie wunderschönen alten Kinderbüchern, den bereits seit dem 18. Jahrhundert populären Toby Mugs oder englischen Kaminhunden geraten oder sich (völlig sinnfrei, weil man ja jedes Jahr wieder auf die Insel fährt) auf Jahre mit wunderschönen und günstigen Geburtstags- und Weihnachtskarten bevorraten kann. Auf jeden Fall kann man aber in etlichen charity shops die Geschichte der Royal Family auf Porzellan gemalt über Generationen hinweg anhand diverser geschmackloser Gedenktassen oder -teller studieren.

Das nicht mehr ganz so populäre Paar Harry und Meghan hat es in den charity Shop verschlagen (Foto: OR)Das nicht mehr ganz so populäre Paar Harry und Meghan hat es in den charity Shop verschlagen (Foto: OR)
Abb. Royales Gedenkgeschirr (Foto: OR)Abb. Royales Gedenkgeschirr (Foto: OR)


Very British. Eine Expedition auf die Insel – Teil 6

Very British. Eine Expedition auf die Insel – Teil 7

 

 

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