Sonntag, 19. Mai 2024

Vorsicht! Ein bissiger Kommentar …

… gegen ein allzu einseitiges Schalke-Bashing

Als „Osnaschalker“ pflege ich eine Fanidentität, die scheinbar unmöglich ist, wie die völlig überhitzte Debatte über das Wo und Wann des VfL-Spiels gegen den S04 nahelegt, die Debatte, die mit einer starken Polarisierung einhergeht. Die Kommentare sortieren sich entlang einer tiefen Spaltungslinie, die durch die eigene Fanorientierung bestimmt wird.

Für viele Königsblaue und Lila-Weiße ist die Situation so eindeutig, dass sie sich in ihrer Schuldzuweisung sehr sicher sind und entsprechend vehement mit dem Finger aufeinander zeigen – während mich die verbale Aggressivität zwischen beiden Seiten verwirrt, die Anwendung des Freund-/Feindschemas, nachdem VfLer und Schalker jahrzehntelang in friedlicher Koexistenz miteinander lebten. Aber vielleicht ist mein inneres Chaos auch selbst verschuldet, weil ich mich für ein Fanleben in einer Bigamie mit dem S04 und dem VfL entschieden habe.

Für mich haben beide Vereine bei ihrem Streit infolge der angeordneten Nutzungsunterlassung für die „Bremer Brücke“ legitime Interessen verfolgt. Aus der VfL-Perspektive kann ich sehr gut nachvollziehen, dass Welling & Co. das Heimspiel retten wollten mit einer „Brückenlösung“ für den 15.05., ebenso erscheint mir sehr plausibel, dass Schalke auf einen frühen Termin drängte. Es wäre vom Schalke-Boss Tillmann fahrlässig gewesen, wenn er sich auf den Ausweichtermin eingelassen hätte, der im Spieltagskalender zunächst vorgesehen (!) war. Denn er muss dafür sorgen, dass Schalke durch die lebensbedrohlichen Altersgebrechen der „Brücke“ keinen Nachteil darin erleidet, sich auf die Endspiele um den existenziell wichtigen Klassenerhalt vorzubereiten. Während der VfL die dritte Liga kann, wäre für Schalke der Abstieg eine Katastrophe, die den Verkauf von Assauers Lebenswerk – der Arena – bedeuten würde.

Ein Problem, das zur Verhärtung der Verhandlungsfronten geführt hat, war eine DFL-Kommunikation, die sich inhaltlich selbst widersprach. Einerseits war die Ansetzung des Nachholspiels am Millerntor für den 07.05. „endgültig“, andererseits gab es in dieser Erklärung doch wieder Schlupflöcher für andere Optionen. Während Schalke diese Schneise mit einer Nein-Stellungnahme schließen wollte, war der VfL – aus seiner Sicht sehr verständlich – stark daran interessiert, die Spielräume zu nutzen, die sich durch die paradoxe Erklärung eröffneten, also dadurch, dass die DFL ihre Aussagen mit dem Adjektiv „endgültig“ konstruierte, das durch den Kontext in seinem Bedeutungsgehalt so morsch wurde wie die Holzleimbinder in der Ostkurve.

Für Schalke schien der 07.05. als Nachholtermin und das Millerntor als Spielort mit Fans die zweitbeste Lösung zu sein (Plan A war ja, dass am Samstag, dem 04.05., gespielt werden sollte), zumal Schalke wegen seiner bundesweit starken Fanbasis erwarten durfte, dass der königsblaue Support zahlenmäßig dem zugewiesenen Kartenkontingent entsprechen würde. Für den VfL war dagegen das St. Pauli-Stadion mit Publikum keine tolle Lösung, weil viele Normalo-Fans mit „Brücken-Tickets“ bei einer Anstoßzeit um 18.30 Uhr nicht rechtzeitig ihren Tribünenplatz im Hamburger Kiez besetzt hätten – auch wenn die VfL-Ultras als Selfmade-Profis der Reiselogistik es sicher irgendwie geschafft hätten.

So war es einerseits löblich, dass sich Welling und Co. für die vielen Normalo-Fans einsetzten, um ihnen ein „Heimspiel“ an einem besser erreichbaren Standort zu ermöglichen. Andererseits soll es – wie die Schalker äußerten – eine Textnachricht gegeben haben, mit der sie am Donnerstagabend eine klare Botschaft vermitteln wollten, nämlich dass sie keine andere Lösung als Hamburg St. Pauli mehr akzeptieren werden, angeblich mit der Absicht, eine „weitere Verwirrung“ zu vermeiden.

Wer dagegen Christoph Determanns Stellungnahme liest, könnte denken, dass Schalke am Donnerstagabend die Kommunikation so stillgelegt hätte, wie es die Zeche Hugo schon lange ist. So liegt die Frage nahe: War die Textnachricht des Schalker Geschäftsführers etwa doch keine Tatsache, sondern lediglich eine irreführende Behauptung der „königsblauen Lügenpresseabteilung“? Falls diese Frage jedoch verneint werden muss, d.h., wenn es tatsächlich diese Schalker Textnachricht mit der unwiderruflichen Festlegung auf das Millerntor als Spielort gab, dann drängen sich Gedanken zu Doc Wellings Strategie auf, vor allem jene: Warum hat Doc Welling nach dem Motto „Nein heißt Ja“ gehandelt? Hätte er nicht als ersten Schritt den Schalker Tillmann umstimmen müssen – bevor der VfL-Geschäftsführer engagiert mit Bremen und Hannover verhandelt hätte, anstatt mit St. Pauli die Organisation des Spiels mit Publikum abzustimmen? Oder spekulierte Doc Welling darauf, dass die fanfreundlichere Lösung einen so starken fußballkulturellen Reiz hätte, dass aus Tillmanns „Nein heißt Nein“ doch noch ein dahinsinkendes „Ja“ wird?

Was auch immer Doc Wellings Strategie war – in jedem Fall prallte er sehr hart auf eine Schalker Wirklichkeitskonstruktion, die nur wenig und nicht lange offen für lila-weiße Alternativvorschläge war. So, wie Schalke anscheinend die Situation definiert, steht sportlich und damit existenziell zu viel auf dem Spiel, um sich dem VfL in die Arme zu werfen, ohne die Gewissheit zu haben, dass am 07.05. auch gespielt wird. Denn nach der Schalker Einschätzung war die Option, die der VfL geschaffen haben will, nicht „valide“ und „verbindlich“. Da der VfL jedoch das ganz anders sieht, entwickelte sich ein als Schlammschlacht ausgetragener Deutungskonflikt darum, was „valide“ und „verbindlich“ ist – wobei die jeweilige Interpretation von den eigenen Interessen abhängt.

Für Schalke hat es eine strikte Priorität, dass die Partie am Anfang der nächsten Woche stattfindet, selbst wenn ein fankulturell hoher Preis in Form eines Geisterspiels dafür bezahlt werden muss – während der VfL es darauf ankommen lassen könnte, ob eine Spielaustragung in Bremen am 07.05. wirklich „valide“ und „verbindlich“ wäre. Eine Verschiebung um eine Woche wäre zumindest kein größeres Risiko für die Lilahemden, im Erleben der Schalker dagegen wäre diese Verlegung ein höchst gefährlicher Tanz am Abgrund der sportlichen Selbstauslöschung.

Die Verhandlungsposition der Lilahemden litt darunter, dass die DFL mit ihrer grundsätzlichen Entscheidung für das Millerntor und den nächsten Dienstag als Nachholtermin eine Asymmetrie zugunsten von Schalke erzeugt hatte. So bekam Tillmann die Entscheidungsdominanz. Wie Koschinat in der Partie gegen Braunschweig ging auch Doc Welling all-in, doch sein Gegenüber – der Schalke-Boss – stieg aus dem Pokerspiel aus, weil er nach seiner sicherheitsorientierten Rationalität mit seinem erzielten Gewinn, dem „endgültigen“ Nachholtermin am 07.05., zufrieden war.

Für den VfL ist dieser Ausgang höchst ärgerlich, weil sich sein Verhandlungsergebnis noch einmal verschlechterte, verglichen mit dem, was möglich gewesen wäre, wenn er sich nach der DFL-Entscheidung voll und ganz auf die Umsetzung eines Nachholspiels am Millerntor konzentriert hätte. Nun war die Frist verstrichen, nur noch ein Geisterspiel möglich, womit die schlechteste aller Lösungen eintrat, weil noch ein größerer wirtschaftlicher Schaden durch die Ansprüche aus der Ticketerstattung hinzukommt. Daher ist die Wut auf Schalke verständlich – unabhängig davon, wie berechtigt sie wirklich ist. Denn um diese Frage besser beurteilen zu können, wäre es hilfreich vom Schalke-Boss zu erfahren, warum nach seiner Situationsdefinition das, was der VfL als Alternative vorschlug, nicht „valide“ und „verbindlich“ gewesen sein soll.

Ja, nach dem Lesen meiner bisherigen Argumentation werden einige mir vorwerfen, ich würde unreflektiert Schalke-Narrative verbreiten, als wäre ich der Angestellte einer königsblauen Trollfabrik. Aber die Homepage der Gelsenkirchener ist keine Internetseite von RT Deutsch – und daher als Quelle ernst zu nehmen, um sich als Außenstehender ein Bild von dem Konflikt zu machen. Zudem gilt auch in diesem Fall, dass das soziale Handeln nicht von dem bestimmt wird, was ist, sondern davon, wie das, was ist, wahrgenommen wird – und für Schalke erschien die angebotene Alternative nicht als „valide“ und „verbindlich“.

Daher ist es aus der Schalker Sicht erst einmal verständlich, ein Veto eingelegt zu haben – während das wütende Kopfschütteln im lila-weißen Lager ebenso verständlich ist, eben weil die Sachlage gänzlich anders bewertet wurde. Letztendlich ging es in diesem Konflikt auch um die Frage von Kontrolle über das Geschehen oder Vertrauen, um die Frage einer Zusammenarbeit, die davon gelebt hätte, dass die Königsblauen ins Ungewisse gesprungen wären, indem sie sich darauf verlassen hätten, dass der VfL und Werder es schaffen, das Spiel am Dienstag im Weserstadion auf die Beine zu stellen.

Zu diesem Vertrauensvorschuss war Tillmann nicht bereit, was darauf schließen lässt, dass die Schalker im Abstiegs- und Existenzkampf extrem angespannt sind. Die Schalker Rationalität ist auf eine Abwehr des schlimmstmöglichen Schadens ausgerichtet – weshalb das Verhandlungsgebaren der Schalker auf Außenstehende so unsympathisch wirkt, wie Mourinho-Mannschaften versuchen, einen dreckigen Sieg über die Zeit zu bringen. Etliche Schalke-Fans passten sich diesem Stil leider an, indem sie in den sozialen Medien einen erbärmlichen Trash-Talk führten, der unangenehm an die Arroganz jener HSV-Fanfraktion erinnerte, die noch nicht verarbeitet hat, dass 2024 nicht mehr 1983 ist.

Als Osnaschalker hätte ich Doc Welling vertraut. Aber im Schalker Vorstand gibt es anscheinend keinen Akteur mit einer königsblau-lila-weißen interkulturellen Kompetenz. Dieser Umstand begünstigte daher, dass mit dem Geisterspiel ein für den VfL katastrophales Verhandlungsergebnis zustande kam.

Das breitbeinige Auftreten der Schalker kann auch als eine Geste der Schwäche gelesen werden. Denn die Zurschaustellung einer knallharten rationalen Interessenverfolgung konnte nicht ganz überdecken, dass bei den Schalkern unbewusst emotionsgetriebene Handlungsanteile wirksam sind, vor allem jene, die in Form einer Selbstabschreckung vor der Abstiegsdrohung bestehen. Diese Angst führte dann zu einer Überkompensation durch eine harsche Machtkommunikation.

Der Osna-Fan in meiner Seele dankt Doc Welling und seinem Team dafür, alles versucht zu haben, um die lila-weißen Faninteressen zu wahren. Sein Verhandlungsstil war kloppscher Heavy Metal-Fußball, was mir sympathischer ist als das Mourinho-Gebaren der Schalker, auch wenn es in deren Sicht als zynisches Erfolgsmittel notwendig war, um eine bessere Spielvorbereitung der eigenen Mannschaft durchzusetzen. Stünde ich vor der Wahl, ob ich mit dem Doc oder mit Tillmann lieber eine Club-Mate trinken würde, dann würde ich den Doc nehmen – auch wegen seiner gesellschaftlichen Positionierung, die in den letzten Tagen leider ebenfalls angegriffen wurde, als unverbesserliche Hetzer*innen Themen miteinander vermischten, die nichts miteinander zu tun haben.

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