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„Die Punkte des Weihnachtsmanns“ – eine Weihnachtsgeschichte von Heiko Schulze

An weihnachtlicher Stimmung kommt in diesen Wochen keiner vorbei. Das gilt natürlich auch für einen Redakteur der Osnabrücker Rundschau. Ihm geht es dabei wie den meisten, die beim Thema verklärt die Augen verdrehen. Denn unweigerlich schreitet der Nachdenkliche zu einer Zeitreise. Die wiederum führt stets in die eigene Kindheit. Mit dem Abstand des Alterns verdient es der Rückblick, nach solchen Weihnachtsstationen zu suchen, die sich besonders ins persönliche Gedächtnis eingegraben haben. Schnell wächst dabei die Erkenntnis, dass fast alle Stationen immer wieder mit einer einzigen Person mitsamt seiner eigenartigen Autorität zu tun haben, deren Markenzeichen ein weißer Rauschebart, eine rote Mütze mit gleichfarbigem Dress und besonders hohe Stiefel sind.

Die Punkte des Weihnachtsmanns
Strafende Autoritäten und ängstliche Delinquenten

Die autoritäre Person ist für Kinder natürlich nur eine unter vielen. Denn heranwachsende Menschen, so belehren uns seit Jahrhunderten ausgewiesene Pädagogen, brauchen ständig feste Autoritäten mit klaren Ansagen. Hartnäckig beliebt sind vor allem solche Respektspersonen, die wirkungsvoll strafen und dabei auch Schmerzen des Delinquenten in Kauf nehmen.

Bei Kindern meiner Generation war es gemeinhin der Vater, der abends nach getaner Arbeit als Strafinstanz anrückte. „Wie war der Tag? War der Junge auch artig?“ Oder waren Tatbestände falschen Verhaltens zu beklagen?

Für die erfragten Straftaten gab es zu Lasten überführter Kinder eine lange Liste möglicher Vergehen: zerbrochenes Geschirr, Ärgern der jüngeren Geschwister, kein Wegräumen des Spielzeugs, Schauen verbotener Fernsehsendungen, Verschmutzen der Wohnung oder, was besonders verwerflich war, Widerworte gegenüber Erwachsenen.

Gerichtsverhandlungen über vorgeworfene Delikte pflegten in damaligen deutschen Familien ohne Anhörung des Angeklagten stattzufinden. Die Bedeutung eines Rechtsbeistandes war dem überführten Zögling ohnehin nicht bekannt.

Im Falle verurteilter Angeklagter pflegte das einzutreten, was zum Strafritual zählte: lautes Schimpfen, Fernseh- oder Dessert-Verbot für kleinere Vergehen. Hausarrest oder Prügelstrafen in unterschiedlicher Heftigkeit für besonders schwere Untaten.

„Das hat mir als Kind nicht geschadet, das schadet auch dir nicht“, pflegte der Strafende dem bestraften Nachwuchs in milderen Gemütszuständen zu erläutern.

Bei Vergehen im Schulalltag trat ein weiterer Strafender hinzu: Es war die Lehrperson, die Stören, Aufmucken oder gar Widerworte ebenfalls wirkungsvoll ahnden durfte: im milden Fall mit Schimpfen und Bloßstellen vor der Klasse, bei Leistungskritik mit schlechten Noten und miserablen Zeugnisnoten, im Falle von Widerworten oder schwerer Ungezogenheit mit einer Prügelstrafe in unterschiedlicher, fantasievoller wie schmerzhafter Ausprägung.


Schmerzhafte Ruten und schwarze Punkte

Je näher die kalte Jahreszeit heranrückte, trat neben Vater und Lehrperson eine weitere und ganz besondere Strafinstanz hinzu. Diese Instanz war der Weihnachtsmann.

Genau gesagt, so wurde uns warnend mitgeteilt, kam jener Weihnachtsmann sogar zu zweit. Hinter ihm schritt nämlich der ihm sklavenhaft ergebene Knecht Ruprecht. Der wiederum hatte offensichtlich gar nichts Nettes an sich.

Während der Weihnachtsmann im positiven Falle laut lachte, pausenlos „Ho ho ho“ brüllte und dabei wunderbare Geschenke verteilte, war dieser gruselige Ruprecht allein für das Prügeln verantwortlich. Dies vollzog er, so wurde ich zu Hause belehrt, mit einem dunklen Schlaginstrument aus gebündelten Holzstöcken, das als Rute bezeichnet wurde.

Das Furchterregende an Weihnachtsmann und Ruprecht war, dass sie Straftaten nicht, wie ich es aus Schule und Elternhaus gewohnt war, sofort nach dem Delikt bestraften. Dann was schnell geahndet wurde, war immerhin planbar, und das Leiden war auch schnell vorbei.

Für Vergehen, die der Weihnachtsmann erfasste, gab es aber eine Art Sammelliste. Und zwar eine besonders dicke.

„Der Weihnachtsmann trägt alles in sein Goldenes Buch ein“, belehrte mich meine Mutter. „Machst du etwas gut und bist lieb, malt er einen schönen goldenen Punkt neben deinen Namen. Bist du aber böse oder gehorchst nicht, malt er beim kleinen Heiko einen dicken schwarzen Punkt.“


Die Angst des Pessimisten

Als Siebenjähriger war ich hoffnungsloser Pessimist. Ich war es, obwohl ich das Wort noch gar nicht kannte. Schließlich war ich erst seit Ostern in der ersten Klasse der Albert-Schweizer-Schule. Ich war schon froh, wenn ich einige simple Worte nach der Ganzwortmethode mit Bleistift auf die vorgedruckten Linien meines pechschwarzen Schreibhefts kritzeln konnte.

Wenn ich Optimist gewesen wäre, hätte ich mich wie irre auf den Heiligabend gefreut. Und zwar darauf, dass der herzenzgute Weihnachtsmann aus seinem riesigen Sack viele prächtige Geschenke für mich ausgepackt hätte. Mit den anderen Geschenken aus seinem imposanten Riesensack wäre er dann am Heiligabend weitergezogen, um auch andere brave Kinder zu beglücken.

Nebenbei: Einige meiner Spielfreunde glaubten, dass nicht ein dicker kräftiger Weihnachtsmann den Riesensack mit den Geschenken schleppte, sondern ein sogenanntes, überaus mickriges Christkind. So ein kleines Balg sollte einen Riesensack schleppen? Wie konnten Mitschüler solch einen Blödsinn glauben? Aber so war das eben, hatte ich bereits gelernt: Schließlich hatten ja auch die Katholiken einen falschen Glauben und ich den richtigen evangelischen. Also irrten sich andere Gören eben auch.

In diesem Fall eben mit ihrem Glauben an das Christkind. So war das eben, und es beschäftigte mein siebenjähriges Gehirn auch nicht übermäßig. Denken musste ich damals aber vor allem, weil ich nicht Optimist, sondern, wie schon dargestellt, unverbesserlicher Pessimist war. Rationale Gründe besaß das nicht:

So lange ich mich an die vergangenen Weihnachten erinnern konnte, ging es für mich nämlich immer gut aus: In jedem Jahr hatten unter dem leuchtenden Tannenbaum tolle Geschenke gelegen.

In jedem Jahr war es aber auch der Endpunkt unendlicher Ängste: Hatte es womöglich mehr schwarze als goldene Punkte im Goldenen Buch des Weihnachtsmanns gegeben? Drohte statt des lächelnden Weihnachtsmann gar der Prügelknecht namens Ruprecht?

Immer, so wusste ich nun, war es gut ausgegangen. Aber wie oft hatte ich zuletzt von Mutti, Papa oder Oma jenen Satz gehört, der mich bei jeder überführten Untat erschaudern ließ: „Das gibt bestimmt einen schwarzen Punkt im Goldenen Buch!“

Es war der schlimmste Satz, den ich mir vorstellen konnte. Und wie war es in diesem Jahr? Die Liste meiner Delikte war wieder mal verdächtig lang. Gespenstisch lang, ganz bestimmt! Wie oft hatte ich wieder vergessen, mein Spielzeug wegzuräumen? Wie häufig hatte ich meinen kleinen Bruder zur Weißglut getrieben? Fast inflationär hatte ich sicher auch Widerworte gegeben.

Und jedes einzelne Delikt meiner Schlechtigkeiten hatte den Weihnachtsmann, der mich ja zu jeder Sekunde genau mit dem Fernrohr aus dem Himmel inspizierte, zum Malen eines dicken schwarzen Punktes neben dem Namen Heiko gezwungen. Wie viele dunkle Punkte mochten es diesmal wieder sein? Hatte ich womöglich genug goldene Punkte durch gutes Benehmen erkämpft, welche die schwarzen wieder aufwogen?

Ich wusste es nicht. Und je näher der Heiligabend rückte, desto mehr Schweißperlen spürte ich auf meiner kindlichen Stirn.


Und ewig grüßt das Happy End?

Lesende ahnen es: Am 24. Dezember 1961, abends gegen 18 Uhr, löste sich meine Angst in Wohlgefallen auf. Wahrscheinlich war es sogar pures Glück! Denn das, was der Weihnachtsmann, den ich am Heiligabend nie sah, ins Wohnsimmer geschleppt hatte, war wieder mal beachtlich.

Ich bekam ein stählernes Gokart, mein Bruder ein ebenso großes Pferdegespann mit Tretpedalen und einem Plüschross. Wie der Weihnachtsmann das und mehr in seinen Rucksack gestopft hatte, fragte ich mich nicht. Viel wichtiger war mir, dass dieser fiese Knecht Ruprecht nicht aufgekreuzt war.

Kurzum: Ich hatte es in diesem Jahr tatsächlich und wider Erwarten erneut geschafft! Keine Prügelstrafe durch Ruprechts Rute. Der drangsalierte offenbar andere als mich. Die bange Frage blieb trotz neuem Gokart: Wie lange konnte das für mich noch gutgehen?

Sobald Weihnachten vorbei war, wagte ich es, einmal mit etwas mehr Abstand über den Mann mit dem roten Mantel, der gleichfarbigen Zipfelmütze, den hohen Stiefeln, dem überlangen Bart und dem Riesenrucksack nachzudenken. Denn eines war mir schon häufig aufgefallen: Der Kerl sah immer so unterschiedlich aus!

Vor dem damaligen Kaufhaus Merkur hatte ich die bislang einzige persönliche Begegnung mit dem guten Mann gehabt. Dabei war er freundlich zu mir. Ich durfte sogar auf seinem Esel sitzen.

Ich war gerade dreieinhalb und in Begleitung meines Opas gewesen. Am Ende gab es zwar kein Geschenk, aber immerhin ein Foto vom Weihnachtsmann, von mir und natürlich dem Esel. Für die Abbildung musste mein Opa, was mich angesichts des so gütigen Geschenkverteilers irritierte, viel Geld bezahlen.


Outfit, erste Zweifel – und ein Osterhase im nackten Existenzkampf

Zu denken gab mir allerdings schon damals das Aussehen des Merkur-Weihnachtsmanns! Ich konnte es ja noch Jahre später betrachten. Er trug einen eher grauen und langfaserigen Bart.

Der Weihnachtsmann, der in meinen Bilderbüchern und in irgendwelchen Illustrierten auftauchte, besaß aber meistens einen watteartigen weißen Kinnschmuck. Als Fortbewegungsmittel benutzte der Illustrierten-Mann einen fliegenden Schlitten mit Rentieren. Der vor Merkur galoppierte offenbar allein auf einem Esel.

Außerdem war der andere Weihnachtsmann viel dicker als die ausgemergelte Gestalt im Morgenrock vor Merkur. Mit Radikaldiäten, die auch ein Weihnachtsmann absolvieren konnte und einen Figurwandel erzeugten, hatte ich mich als Siebenjähriger noch nie beschäftigt.

Während mich derartige Erinnerungen sogar noch im österlichen Schulalltag der Albert-Schweitzer-Schule beschäftigten, sollte eine Wende eintreten.

Es war eine Wende, die mein bisheriges Leben rabiat veränderte. Das erste Opfer der Wende war eigentlich unschuldig: Es war der Osterhase!

„Den gibt es nicht!“, brüllte Mitschüler Gerald in unsere Pausenrunde auf dem Schulhof. Ganz kurz fiel mir der putzige kleine Kerl ein, der ein liebenswerter und immer freundlicher Vertreter seiner Gattung war.

Jeden Ostern rannte er bei Wind und Wetter herum, verteilte bunte Eier und sogar schmackhafte goldverpackte aus Marzipan. Lieb und Harmlos! Und den gab es gar nicht? Schade.

Dann aber kam plötzlich der Ausruf eines anderen Mitschülers, der mich diesmal in Mark und Bein erschütterte: „Den Weihnachtsmann gibt es auch nicht!“, brüllte Joachim. Ich schluckte.

Günther nickte begeistert. Hartmut ergänzte, er habe dies schon lange gewusst. „Mann, seid ihr doof gewesen“, ergänzte er neunmalklug. Alle starrten jetzt auf mich. Was sollte ich sagen? Sollte ich den Mann verleugnen, der mich bisher immer beschenkte? Wie viele schwarze Punkte gab es für eine Existenzbestreitung? Ich wurde rot.

Zum Glück ertönte plötzlich die Pausenklingel. Frau Tomzik wartete auf uns im Klassenraum. Wir mussten rechnen und vergaßen klassenferne Existenzdebatten. Ich hatte es also noch einmal vermeiden können, zum gläubigen Gespött meiner Mitschüler zu werden.


Mutti lüftet das Geheimnis

Doch der Zweifel war nicht mehr aus meinem Kopf zu vertreiben. Als ich später, noch immer völlig verstört, zu Hause im Quakenbrücker Hof angekommen war, sollte endlich die Stunde der absoluten Wahrheit gekommen sein.

„Mutti, gibt es den Weihnachtsmann eigentlich gar nicht? Und den Osterhasen auch nicht? Und was ist mit dem lieben Gott?“ Meine Mutter stockte, als sie meinen Teller mit Kartoffeln, Kohlrabi-Gemüse und Sauce füllte. Noch bekam ich keinen Bissen hinunter. Mein Blick galt weder Sauce, Gemüse noch Kartoffeln, sondern allein den Augen meiner Mutter. Sie schluckte. Ich auch. Es dauerte.

„Natürlich gibt es den lieben Gott“, sagte sie. Das war ihr wichtig.

„Aber den Weihnachtsmann?“, fragte ich sofort hinterher. Es folgte eine unendlich scheinende Pause.

„Naja, äh“, meine Mutter schien überraschend sprachlos, ehe sie die erflehte Antwort dann doch mit markanten Worten aussprach: „Nein, Heiko. Den Weihnachtsmann gibt es nicht!“

Jetzt hatte ich Sendepause. Stille. Unzählige Bilder und Szenen schwirrten als Erinnerungen durch meinen Kopf: Tannenbäume, leckeres Essen, Präsente.

Aber eben auch die Rute. Wieder musste ich schlucken. Als letztes fielen mir meine schwarzen Punkte ein. Dezent atmete ich durch.

„Echt nicht?“, fragte ich nunmehr rhetorisch. Und den Osterhasen, was ist mit dem? Gibt es den auch nicht?“

„Auch nicht“, sagte meine Mutter. Dieses Aus einer Legende wirkte schon weniger überraschend. Ich zuckte traurig mit den Schultern.

Irgendwann kam mein Vater zur Mittagspause aus seinem Büro. Ich wollte die Wahrheit jetzt aus dem Munde aller Autoritäten hören. Und auch Papa bestätigte noch einmal die fehlende Existenz des Weihnachtsmanns.

Über den Osterhasen brauchten wir gar nicht mehr zu reden. Und zum Glück fiel kein einziges Wort mehr über Knecht Ruprecht.


Szenen des Glücks

Der Rest der Mittagsunterhaltung ging an mir vorbei. Ich war in meinen Gedanken verfangen. Und zunehmend war ich endlich mit den wohlschmeckenden Kartoffeln mit Sauce und dem Kohrabi beschäftigt. Zu denen hatte sich jetzt sogar ein Stück Fleisch gesellt.

Lecker! Mit Genuss verspeiste ich einen zweiten gefüllten Teller. Danach verzehrte ich mit gesteigertem Appetit den abschließend servierten Kaltrührpudding von Doktor Oetker.

Der Glückliche pflegt in der Stunde null seines Glücks häufig noch gar nicht zu begreifen, welch vorzügliche Wendung sein Leben genommen hat.

Mir ging es jedenfalls ähnlich. Die Erkenntnis, dass es diesen peniblen Punktesammler namens Weihnachtsmann im Himmel gar nicht gibt, machte mich immer euphorischer.

Ich wollte sofort Aufklärer sein, der missionarisch dafür sorgen wollte, dass fortan keiner mehr auf dieser Welt an den rotgewandeten Dickmops mit Sack und Goldenem Buch glaubt.

Da viele Freunde aus der Nachbarschaft eher irritiert auf meine missionarische Botschaft reagierten, verlor ich allerdings schnell die Freude an meiner Aufklärungsarbeit.

Mein Bruder sollte es eh nicht erfahren und weiter an den Rauschebart glauben. „Der muss das noch, der ist ja noch klein“, meinten meine Eltern einstimmig.

Was aber bedeuten kleingeistige Einschränkungen gegen den ganz persönlichen Triumph meiner neuen Erkenntnis? „Dich gibt es nicht!“, rief ich irgendwann ganz still in Richtung Himmel – und atmete beruhigt durch.

Das wahre Glück ist die Euphorie im Stillen. Und das eigentliche Happy End gab es trotzdem noch, spätestens am 24. Dezember 1962: pralle Weihnachtsgeschenke unter dem leuchtenden Tannenbaum! Präsente mit Garantiedatum. Und ohne jede Angst vor irgendwelchen negativen Punktbilanzen. Und ganz ohne Zittern vor einem wütend vor sich hin prügelnden Knecht Ruprecht.

Leid tat mir allein der im Doppelpack ausradierte Osterhase.

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