Günther Grunert / Walter Tobergte: Die Allgegenwärtigkeit neoliberaler Mythen – Teil 4 von 4

Günther Grunert / Walter Tobergte
Die Allgegenwärtigkeit neoliberaler Mythen – Teil 4

Dies ist Teil 4 unserer Serie über weitverbreitete Mythen des Neoliberalismus, einer Kritik auf Basis der „Modern Monetary Theory“ (MMT), der unserer Meinung nach weitreichendsten und überzeugendsten Kritik an der herrschenden neoliberalen Lehre. Heute geht es um die Behauptung, dass antizyklische Fiskalpolitik letztendlich wirkungslos ist, weil der Privatsektor stets durch eine steigende Ersparnis ausgleicht, was der Staat durch höhere Budgetdefizite an Nachfrage schafft.

( Teil 1 / Teil 2Teil 3 )

Mythos Nr. 4:

„David Ricardo hielt nichts von Schulden. Seine „Ricardianische Äquivalenz“ ist bis heute ein Argument gegen Konjunkturpakete: Bürger erkennen in schuldenfinanzierten Wohltaten die Steuern von morgen – und konsumieren daher nicht mehr.“

Quelle: „Geistesblitze der Ökonomie (IX) – Ricardos Argument gegen Staatsschulden“ in:   WirtschaftsWoche vom 12. Oktober 2013

Im letzten Teil 3 dieser Serie hatten wir gezeigt, dass eine Rückzahlung staatlicher Schulden nicht notwendig ist. Staaten tilgen ihre Schulden bei Fälligkeit, indem sie auslaufende Staatsanleihen durch neue ablösen, aber sie reduzieren selten das Volumen der Staatsverschuldung. Als Beispiel sei noch einmal auf die USA verwiesen: Dort verzeichnete die US-Bundesregierung in rund 200 der letzten etwa 240 Jahre Finanzierungsdefizite und häuft seit 1837 praktisch ununterbrochen Schulden an, ohne dass daraus irgendwelche Probleme entstanden wären.

Dessen ungeachtet behauptet die herrschende Lehre weiterhin, dass staatliche Budgetdefizite langfristig nicht tragbar seien und dass der Staat letztendlich alle Schulden tilgen müsse. Und nicht nur das: Auf der Annahme, dass jede Staatsverschuldung eines Tages (einschließlich Zinsen) wieder zurückgezahlt werden muss, ist eine Theorie entwickelt worden, nach der Budgetdefizite keine expansiven Effekte auslösen und daher auch z.B. schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme nichts bringen können.

Ricardos und Barros Theorie

Diese Sichtweise ist unter der kompliziert klingenden Bezeichnung „ricardianisches Äquivalenztheorem“ bekannt und stellt eine wichtige traditionelle Betrachtungsweise der Staatsverschuldung dar. Das Äquivalenztheorem wurde bereits im Jahr 1821 vom britischen Wirtschaftswissenschaftler David Ricardo entwickelt und im Jahr 1974 vom US-Ökonomen Robert Barro wiederentdeckt und mathematisch ergänzt. Danach gehen rational denkende Privathaushalte davon aus, dass Budgetdefizite in der Gegenwart zusätzliche Steuerzahlungen in der Zukunft bedeuten. Die privaten Haushalte erwarten also, dass der Staat in der Zukunft die Steuern anheben wird, um aus den höheren Steuereinnahmen die mit den Defiziten aufgelaufene Staatsschuld zurückzuzahlen. Die Folge ist, dass die privaten Haushalte ihre Ausgaben entsprechend reduzieren und sparen, um sicherzustellen, dass sie die zu erwartenden höheren Steuern zahlen können. In dieser Logik vermag der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage überhaupt nicht zu steigern, weil jedes Budgetdefizit dazu führe, dass die Nachfrage der Privaten in gleichem Umfang sinke. Jede Erhöhung der Staatsausgaben schlage sich sofort in einer Abnahme der Ausgaben für Waren und Dienstleistungen im privaten Sektor nieder. Aufgrund der rationalen Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer bleibe die Fiskalpolitik ohne Wirkung.

Staatsverschuldung und höhere Steuern seien mithin äquivalente Finanzierungsmethoden (daher der Name „Äquivalenztheorem“) – die Staatsverschuldung verschiebe nur die Besteuerung in die Zukunft.

Einfluss auf die Politik

Nun könnte man annehmen, dass es sich bei der „ricardianischen Äquivalenz“ um eine der vielen theoretischen Spielereien von Ökonomen handelt, deren praktisch-politische Relevanz gegen Null tendiert. Dem ist leider nicht so. Tatsächlich war Barros ricardianische Äquivalenztheorie in der Eurokrise zumindest in der Anfangszeit die offizielle Position der Europäischen Kommission in Brüssel. Übertragen auf den Euroraum bedeutete sie: Wenn die Regierung eines Eurolandes den Versuch unternähme, mit einem kreditfinanzierten Ausgabenprogramm zusätzliche Nachfrage und damit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, wäre dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Denn der ricardianische Äquivalenzeffekt würde bei den Steuerzahlern sofort einen Anstieg des Sparens aus ihrem laufenden Einkommen auslösen, mit dem Ergebnis, dass die private Nachfrage in exakt gleichem Umfang sänke, wie die staatliche Nachfrage als Folge des Stimulierungsprogramms zunähme. Gestiegene staatliche Ausgaben würden mithin durch verringerte private Ausgaben ausgeglichen: es gäbe gewissermaßen ein Patt.

Wenn dagegen die Regierungen Austeritätsmaßnahmen ankündigten, nähmen die Privatausgaben sofort zu und das Wirtschaftswachstum ziehe wieder an, da sich die allgemeine Erwartung durchsetze, dass die zukünftigen Steuerbelastungen niedriger sein würden.

Nicht nur Ökonomen beriefen sich auf die „ricardianische Äquivalenz“, auch viele Politiker machten sich die Argumentation zu eigen. So erklärte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem EU-Gipfel in Brüssel Ende Juni 2013: „Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Wachstum und Haushaltskonsolidierung sind keine Gegensätze. Im Gegenteil: Sie bedingen einander.“ Politiker anderer Länder teilten diese Auffassung, beispielsweise in Großbritannien, wo Ex-Premierminister David Cameron und Ex-Schatzkanzler George Osborne mehrfach verkündeten, dass die britische Wirtschaft eine „expansive Fiskalkontraktion“ (expansionary fiscal contraction) erreichen könnte: Wenn man die öffentlichen Ausgaben kürze, komme es zu mehr privaten Ausgaben.

Ähnlich äußerte sich Christine Lagarde, damalige Ministerin für Wirtschaft und Finanzen in Frankreich und jetzige Präsidentin der Europäischen Zentralbank, schon zu Beginn der Eurokrise 2010:

„Wenn wir das öffentliche Defizit nicht reduzieren, wird das Wachstum nicht begünstigt. Warum? Weil sich die Menschen Sorgen über das öffentliche Defizit machen. Wenn sie sich darüber Sorgen machen, fangen sie an zu sparen. Wenn sie zu viel sparen, konsumieren sie nicht. Wenn sie nicht konsumieren, steigt die Arbeitslosigkeit und die Produktion sinkt. Deshalb müssen wir diesen Kreislauf vom Defizit her attackieren“ (Lagarde 2010; hier im englischen Original bei Youtube).

Auch der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, hatte wenige Jahre zuvor (im März 2006) in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ gewarnt:

„Je höher die Budgetdefizite, desto mehr sinkt das Vertrauen der Investoren und Konsumenten in die Zukunft. Sie fürchten höhere Zinsen oder höhere Steuern als Konsequenzen, zögern mit Investitionen und sparen, statt zu konsumieren. Als Folge schwächt sich die Wirtschaft ab, und die Beschäftigung sinkt. Je umfangreicher die Haushaltslöcher, desto mehr bekommen die Argumente von Ricardo Gewicht im Vergleich zu den keynesianischen.“

Abstruse Annahmen

Das alles mag vielleicht auf den ersten Blick sogar recht einleuchtend klingen. Schaut man sich jedoch genauer an, auf welchen Modellannahmen Barros Version der ricardianischen Äquivalenz beruht, zeigt sich, dass die Theorie vollkommen unhaltbar ist. Dies gilt selbst dann, wenn man die unzutreffende Annahme, dass der Staat in irgendeiner zukünftigen Periode seine Steuern erhöhen muss, um seine Schulden der Vergangenheit zurückzuzahlen, zunächst einmal akzeptiert und allein die Plausibilität der weiteren zugrundeliegenden Modellannahmen prüft. Sollte irgendeine dieser äußerst restriktiven Annahmen nicht zutreffen, lassen sich auch die darauf basierenden Ergebnisse nicht aufrechterhalten.

Vier Annahmen müssen insgesamt erfüllt sein:

Erstens ist erforderlich, dass die Kapitalmärkte „perfekt“ sind. Jeder Haushalt kann jederzeit so viel Kredit aufnehmen oder sparen, wie er möchte – und zwar zu einem festen Zinssatz, der zu jedem Zeitpunkt für alle gleich ist. Anders ausgedrückt: Es besteht für alle Individuen ein vollkommen gleicher Zugang zu Finanzmitteln. Zweifellos kann diese Annahme nicht für alle Individuen und Zeiträume gelten. Haushalte haben Liquiditätsbeschränkungen und können nicht jederzeit und in jedem Umfang Geld leihen und anlegen, wie es ihnen gefällt.

Zweitens wird angenommen, dass die zukünftige Entwicklung der Staatsausgaben feststeht und die privaten Haushalte bzw. die Individuen, die annahmegemäß über perfekte Voraussicht verfügen, diese kennen. Natürlich ist eine solche Prämisse komplett realitätsfern, da niemand perfekte Voraussicht hat und genau weiß, wieviel welche Regierung in zehn oder zwanzig Jahren ausgeben wird.

Drittens wird unterstellt, dass alle Bürger aus der gegenwärtigen Entwicklung der Staatsausgaben präzise abschätzen können, wie hoch ihre Steuerbelastung in der Zukunft sein wird. Und nicht nur das: Jedes Individuum ist imstande, aus seiner zukünftigen Steuerbelastung abzuleiten, wie viel es in der Gegenwart konsumiert oder spart.

Dabei ergibt sich aber das Problem, dass gleiche Geldströme, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen, nicht den gleichen Wert haben, so dass man ein Verfahren anwenden muss, mit dem sich Geldströme unterschiedlicher Zeitpunkte auf einen einheitlichen Zeitpunkt umrechnen und erst dadurch miteinander vergleichbar machen lassen.

Die Summe von 1000 Euro, die jemand heute (zum Zeitpunkt Null) bekommt, ist mehr wert als 1000 Euro, die er zu einem zukünftigen Zeitpunkt erhalten soll. Denn der Eigentümer kann die 1000 Euro heute anlegen und damit Zinsen erwirtschaften. Beträgt etwa der Zinssatz 3 Prozent pro Jahr, so wachsen die ursprünglichen 1000 Euro nach 5 Jahren auf 1159,27 Euro und nach 10 Jahren auf 1343,92 Euro an. Das heißt, bei einem Zinssatz von 3 Prozent pro Jahr haben „1000 Euro heute“ den gleichen Wert wie 1159,27 Euro in 5 Jahren oder 1343,92 Euro in 10 Jahren.

Entsprechend gilt: Ist der Betrag von 1343,92 Euro in 10 Jahren zur Zahlung fällig, dann ist bei einem Zinssatz von 3 Prozent pro Jahr der Gegenwartswert – auch „Barwert“ genannt – dieses Betrages 1000 Euro. (Für Interessierte etwas genauer: Wenn der Zinssatz oder die Diskontierungsrate p% pro Jahr beträgt und r = p/100 ist, so errechnet sich für einen Betrag K, der in t Jahren zur Zahlung fällig ist, der Gegenwartswert GW = K (1+ r)-t  bei jährlicher Verzinsung.)

Verzeichnet also der Staat ein Budgetdefizit und wachsen damit die Staatsschulden heute, dann erkennen die Haushalte, dass in der Zukunft höhere Steuern zu zahlen sind, und sie sparen mehr – und zwar exakt so viel, dass die Ersparnis dem Gegenwartswert der zukünftigen Steuerlast entspricht. Denn sie wissen, dass insgesamt das gegenwärtige Budgetdefizit gleich dem Barwert der zukünftigen Steuern ist, die erforderlich sind, um die zusätzlichen Schulden zu bedienen.

Allgemein ausgedrückt heißt dies, dass die Gültigkeit des ricardianischen Äquivalenztheorems die Fähigkeit der Haushalte bzw. Steuerzahler/-innen voraussetzt, stets den Gegenwartswert ihrer Steuerschuld zu berechnen. Wer ernsthaft glaubt, dass die große Mehrheit der Bürger/-innen eines Landes solche Berechnungen vornimmt, zeigt damit nur, wie weit er sich von der realen Welt entfernt hat.

Viertens muss eine zeitlich unbegrenzte Sorge um die zukünftigen Generationen bestehen. Diese Annahme ist deshalb notwendig, weil sich aus der internen Logik des Modells keine Vorhersage ableiten lässt, zu welchem Zeitpunkt in der Zukunft die Steuererhöhungen zur Schuldenrückzahlung anfallen werden. Die Anhebung der Steuern, die angeblich erforderlich ist, um die Staatsschulden zu tilgen, könnte also in ferner Zukunft erfolgen, möglicherweise erst in hundert Jahren oder noch später. Dann aber ist zu fragen, ob nicht die privaten Haushalte möglicherweise davon ausgehen, dass sie die zukünftigen Steuererhöhungen gar nicht selbst tragen müssen, sondern glauben, sie auf die nächste Steuerzahlergeneration abwälzen zu können.

Dieses Argument lässt Robert Barro aber nicht gelten: Man dürfe nämlich nicht von einer Unabhängigkeit der Generationen ausgehen. Vielmehr fühle sich die gegenwärtige Generation für zukünftige Generationen verantwortlich. Nicht das Individuum, sondern die Familie, die über den Tod des Individuums hinaus unbeschränkt weiterlebe, sei die maßgebliche Entscheidungseinheit. So führe etwa eine schuldenfinanzierte Steuersenkung nicht zu einer Erhöhung der Konsumausgaben, sondern das Individuum spare das zusätzliche Einkommen, das ihm durch die Steuersenkung zukomme, um es an seine Nachkommen zu vererben und diese so für die zukünftig gestiegene steuerliche Belastung zu entschädigen.

Ob sich aber tatsächlich eine relevante Zahl von Menschen so verhält und den Konsum nicht erhöht, weil irgendwann – in vielleicht erst einhundert oder zweihundert Jahren – die Steuern angehoben werden, darf wohl bezweifelt werden.

Keine empirische Bestätigung

Interessanterweise hat das ricardianische Äquivalenztheorem gleich seinen ersten großen „Praxistest“ nicht bestanden. Als Barro in den 1970er Jahren seine Version der ricardianischen Äquivalenz veröffentlichte, wurde in vielen empirischen Untersuchungen ihre „Vorhersagefähigkeit“ geprüft. Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als der US-Kongress im August 1981 umfangreiche schuldenfinanzierte Steuersenkungen beschloss: Die USA steckten in einer Rezession, auf die mit der Einführung eines Konjunkturprogramms reagiert wurde. Die Steuerreduzierungen sollten zwischen 1982 und 1984 zum Einsatz kommen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stimulieren. Die Anhänger Barros prognostizierten, dass die Ersparnis steigen würde, um die zukünftigen höheren Steuerlasten aufgrund des erwarteten Anstiegs der öffentlichen Verschuldung wieder auszugleichen. Die Realität sah völlig anders aus: Die Sparquote stieg nicht, sondern sank ganz im Gegenteil von 7,5 Prozent im Jahr 1981 auf durchschnittlich 5,7 Prozent in den Jahren 1982 bis 1984.

In der Folgezeit gab es eine Vielzahl empirischer Studien, auch von konservativen Ökonomen, die keinerlei Belege für die Gültigkeit der Theorie der ricardianischen Äquivalenz fanden. Das ist wenig überraschend. Überraschend ist eher, dass einer solchen Theorie, die der bekannte heterodoxe Ökonom Paul Davidson einmal mit Recht als „ganz offensichtlich falsch, naiv und dumm“ bezeichnet hat, so viel Beachtung und politischer Einfluss zuteilwerden konnte.

 

Für diejenigen, die sich für mehr Einzelheiten und/oder zusätzliche Informationen interessieren, hier zwei weiterführende Beiträge, die im Online-Magazin Makroskop erschienen sind:

Die Lehrbuchweisheiten der Neoklassik – 2

Das „Biest“ als Stabilisator und Retter

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