von Anne Reinert
Schon klar, wir sind spät dran. Vier Monate ist es her, dass der neue Theaterintendant Ulrich Mokrusch und sein Ensemble am Theater Osnabrück in ihre erste Spielzeit gestartet sind.
Nachdem die Anfangseuphorie verflogen und die ersten Premieren-Sektgläser geleert sind, nehmen wir aus ganz nüchterner Perspektiven zwei Produktionen unter die Lupe: die Choreografie „Zeit“ von der neuen Tanztheaterchefin Marguerite Donlon und das Schauspiel „The Writer“.
Vor dem Stück kommt der Eintritt – nach Corona-Regeln
Mokrusch übernimmt das Theater Osnabrück in einer besonderen Zeit. Zwar konnte er anders als sein Vorgänger Ralf Waldschmidt gleich zu Beginn seiner Spielzeit die Türen für Live-Produktionen öffnen. Doch Einschränkungen gelten nach wie vor. Wer eine Vorstellung besucht, muss nachweisen, geimpft oder genesen zu sein und auch auf dem Sitzplatz eine Maske tragen. Damit es nicht zu voll wird, wird das Publikum im Schachbrettmuster auf den Sitzplätzen verteilt. Mehr Infos gibt es hier.
Tanztheater: „Zeit“ von Marguerite Donlon
So allgemeingültig das Thema Zeit auch ist, ohne Corona würde es diese Produktion vermutlich nicht geben. Sie habe während des Lockdowns plötzlich viel mehr Zeit als vorher gehabt, gibt Marguerite Donlon im Einführungsvideo zu ihrer Produktion auf der Website des Theaters preis. So kam es, dass sie viel über eben dieses Thema nachdachte. Herausgekommen ist ein sehenswertes Gesamtkunstwerk aus Tanz, Bühnenbild, Licht und live gespielter Musik im Orchestergraben.
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Das erste, was in den Blick fällt, ist die riesige Bühnenskulptur (Bühne: Belén Montoliú), zwei einander verschlungene Kreise, die von der Möbiusschleife inspiriert sind. Sie kennen kein Innen und Außen, keinen Anfang und kein Ende. Ein Symbol für die Unendlichkeit. Oder auch für die verschiedenen Perspektiven, die das Stück auf die Zeit nimmt.
Eine davon ist das Warten. Das Warten aufeinander, auf einen anderen Menschen. Paarweise sitzen sich Tänzer auf Stühlen gegenüber, während die Drehbühne sich in Bewegung setzt. Das Liebeskarussell dreht sich. Nicht immer ist das Ergebnis wie erhofft.
Eines der stärksten Bilder sind die vier Tänzerinnen, die quasi zu Uhrwerken werden. Ihre mit Uhrzeigern gekrönten Köpfe bewegen sich ruckartig hin und her, Arme und Beine werden zu weiteren Zeigern, während die Musiker auf ihren Instrumenten das Ticken eines Uhrwerks nachahmen ist. Das Orchester (Musikalische Leitung: An-Hoon Song) begleitet die Produktion mit Kompositionen von Bach/Berio, Debussy, Busconi und Adams. Dazu kommt elektronische Musik von Michio Woirgardt.
Donlon und ihre Tänzer:innen beleuchten verschiedenste Aspekte von Zeit. Wie fühlt sie sich? Wie treibt sie uns? Und wie ist es, aus der Zeit gefallen zu sein? Auch die Traumzeit ist ein Thema. In tierartigen Bewegungen erobert das Tanzsemble langsam und ruckartig das Territorium der Bühne. Das Unterbewusstsein nimmt sich seinen Raum, während das Bewusstsein schläft. Das ist ein klarer Kontrast zu den Bildern wenige Minuten vorher, als sich die Tänzer:innen gekleidet in Maßanzüge hektisch durch den Alltag bewegen.
Der neuen Tanzchefin ist ein bildstarker, faszinierender und atemraubender Tanzabend gelungen. Das lässt auf kommende Produktionen von ihr und ihrem Ensemble hoffen. Denn es scheint eine neue Zeit für den Tanz am Theater Osnabrück angebrochen zu sein. Eine gute Zeit.
Weitere Vorstellungen: Mittwoch, 12. Januar, Donnerstag, 13. Januar, Freitag, 21. Januar, und Dienstag, 8. Februar, jeweils 19.30 Uhr im Theater am Domhof. Stückinformation und Kartenreservierung auf der Website des Theaters.
Schaupiel: „The Writer“ von Ella Hickson
Das Stück beginnt unspektakulär. Eine junge Frau (Hannah Walter) kehrt nach einer Theatervorstellung in den Zuschauerraum zurück, weil sie ihre Tasche vergessen hat. Dort trifft sie auf einen Mann (Manuel Zschunke), der sie fragt, wie ihr die Vorstellung gefallen hat. Es entwickelt sich eine Diskussion, in der die Frau den Sexismus der Vorstellung hermacht und kritisiert, dass Frauen zu reinen Objekten degradiert werden. Ihr Gesprächspartner entpuppt sich dabei schließlich als der Regisseur des Stücks.
Das ist nur die erste von vielen folgenden Verwirrungen und lässt das Stück mächtig an Fahrt aufnehmen. Die junge Frau entpuppt sich schließlich als Autorin. Wenige Minuten später gibt es die nächste Wende, als sich herausstellt, dass die Begegnung nur gespielt ist und der Regisseur (Janko Kahle) und die Autorin (Anke Stedingk) das Ganze unterbrechen.
„The Writer“ wechselt ständig die Realitätsebene. Mal sind die Autorin und ihr Partner bei einer Auseinandersetzung im klassischen Bühnenbild (Bühne: Maren Greinke) eines Wohnzimmers zu erleben, mal bricht das Stück aus den männlich genormten Strukturen aus und reist in die Tiefen des Unterbewusstseins.
Inspiriert wurde die bekannte britische Autorin Ella Hickson von der #metoo-Debatte. Ihre Autorin, hervorragend gespielt von Anke Stedingk, will aus der männlichen Dominanz am Theater ausbrechen und das schreiben, was sie wirklich schreiben will. Doch kann ihr das gelingen, wenn sie immer wieder von der Realität eingeholt wird?
„Box in der Box in der Box“ nennt Regisseurin Cilli Drexel Hicksons verschachteltes Erzählprinzip, das sie kongenial umsetzt. Die Dynamik ihrer Inszenierung steigert sich von Szene zu Szene, um die Hauptfigur urplötzlich und unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückzufallen. Kann ein Ausbruch aus dem Machtgefälle und den unversöhnlichen Gegensätzen überhaupt gelingen?
Manches bleibt rätselhaft an dieser Inszenierung im Theater Osnabrück. Aber das macht dieses Schauspiel besonders spannend.
Weitere Vorstellungen. Sonntag, 23. Januar, Mittwoch, 26. Januar und Sonntag, 6. Februar, um jeweils 19.30 Uhr sowie am Sonntag, 30. Januar, um 15 Uhr im Theater am Domhof. Stückinformation und Kartenkauf auf der Website des Theaters.