Muttersöhnchen mit Knarre
Als die Konkurrenz ihn ins Jenseits befördern ließ, war »Little Augie« Orgen 33 Jahre alt. Sein Vater aber ließ »Jacob Orgen, 25 Jahre alt« auf die Sargplakette gravieren, denn für ihn war der Sohn bereits acht Jahre zuvor gestorben. Da war er zum Verbrecherkönig der New Yorker East Side geworden. Als dieser gehört er in ein unrühmliches Randkapitel der jüdischen US-Geschichte der ersten Jahrhunderthälfte, das lange totgeschwiegen wurde. Bis der Historiker Robert Rockaway, damals Dozent an der Uni Tel Aviv, sich des Tabuthemas annahm, FBI-Akten wälzte, Beteiligte interviewte und ein Buch schrieb – nicht etwa eine soziologisch dröge Analyse, sondern ein mit grotesk köstlichen Anekdoten gespicktes »Who is Who« der jüdischen Unterwelt, angesichts dessen man sich fragt: Wer war schon Al Capone gegen diese Ganoven? Von den Jungs der Killer-Agentur »Murder Inc.« und Jack Zelig, der seine Dienste von Brandbombe bis Mord zu Festpreisen anbot, über den König der Pferdevergifter »N*gger« Toplinsky und Monk Eastman, der Gewerkschaften wie Arbeitgeber mit Schlägertrupps versorgte, bis zu Lepke Buchalter, dem einzigen »Großen«, der auf dem elektrischen Stuhl landete.
Die meisten der Gangster waren in den übervölkerten Slums der osteuropäischen Einwanderer großgeworden, in denen oft nur eine kriminelle Karriere der Weg war, dem Elend zu entfliehen oder trotz gesellschaftlichem Ausschluss erfolgreich und berühmt zu werden. Zudem war es die schnellste und aufregendste Art zu Macht und Geld zu kommen, gerade nach dem Ersten Weltkrieg, als die Prohibition herrschte und gesetzestreue Bürger eh als Spießer oder Trottel galten. »Die Leute’ wollten Schnaps, sie wollten Rauschgift, sie wollten Glücksspiel, und sie wollten Weiber« erinnert sich Ex-Gangster Hershel Kessler wehmütig, »wir verschafften ihnen bloß, wonach ihnen das Herz stand…“
So waren etwa die Hälfte der führenden Schwarzbrenner Juden. Sie bauten über den Kontinent vernetzte, perfekt organisierte Banden auf und legten sich, wenn es sein musste, gegenseitig um – wie die Detroiter »Purple Gang« die Bosse der »Little Jewish Navy« (die hatten ihren Whiskey im falschen Revier verkauft). Die FBI-Beamten, die als Chassidim verkleidet, nach den Purples suchten, flogen allerdings auf, als sie sich am Jom Kippur vor der Synagoge Zigaretten ansteckten.
Manch Gangster war tatsächlich religiös. Den Profikiller »Red« Levine traf man zuhause nie ohne Kippa an und musste er einen »Job« am Schabbat erledigen, betete er vorher und trug die Kippa unterm Hut, erzählte der italo-amerikanische Pate Lucky Luciano. Anders jedoch als in deren sprichwörtlichen Mafia-»Familien« gehörte es zum Ehrenkodex der jüdischen Ganoven, nie die eigene Familie in die »Arbeit« hineinzuziehen. Sie verheirateten ihre Kinder auch nicht untereinander oder vererbten ihre Syndikate. Die bestanden nur eine Generation lang. Ihre Kinder sollten nichts von den »Geschäften« wissen (der Glücksspielzar Dave Berman ließ sogar einmal sämtliche Exemplare einer ihn kompromitierenden Zeitung aufkaufen), sie sollten studieren und der Familie »Ehre« machen, denn die Gangster waren auch den jüdischen Gemeinden höchstpeinlich. Und doch vergaßen sie selbst nie, dass sie Juden waren und wo sie herkamen. Das unterschied sie von anderen Kriminellen. Sie verteidigten ihre Leute, schlugen sich mit Polen oder Iren und wurden unter den Ghetto-Kids wie Helden gefeiert.
Die beiden berühmtesten, Meyer Lansky und Bugsy Siegel, ließen Nazitreffen in New York auseinanderprügeln und Siegel plante gar, Goebbels und Göring umzubringen. Jüdische Gangster schmuggelten Waffen für die Haganah, kämpften als Freiwillige im Zweiten Weltkrieg, spendeten Riesensummen für den Aufbau Israels und wohltätige Zwecke. So kaltblütig, brutal, gerissen sie als Verbrecher waren, so liebevoll, aufmerksam, großzügig waren sie als Väter und Söhne. Das Buch, das der Historiker Rockaway über sie geschrieben hat, hieß so folgerichtig im Original auch: »But – he was good to his mother«:)