Samstag, 27. April 2024

Vor 175 Jahren: Gründung des Osnabrücker Tageblatts

Der 22. März 1848 ist in Osnabrück die Geburtsstunde einer freien Presse

Am 1. März 1946 erblickt die Nummer 1 der Osnabrücker Rundschau als erstes demokratisches Blatt der Nachkriegszeit in die Augen des Lesepublikums. Die eigentliche Geburtsstunde einer freien Osnabrücker Presse liegt allerdings viel länger, exakt 175 Jahre, zurück. Man schreibt den 22. März 1848, als die Urgeschichte des unzensierten gedruckten Wortes in unserer Stadt beginnt: Das „Osnabrücker Tageblatt“, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Zeitung, die Jahrzehnte später als Vorläufer der NOZ entsteht, wird von linken Demokraten aus der Taufe gehoben.
Die folgenden Ausführungen basieren im wesentlichen auf Ausarbeitungen, die der Verfasser dieser Zeilen im Jahre 2016 in seinem Buch zur Osnabrücker Zeitungsgeschichte veröffentlicht hat.


Widrige Zeiten

Carl Rosenthal (1803-1877). Osnabrücker Lehrer, Sprecher der ersten Lehrergewerkschaft und leitender Redakteur des Tageblattes

Das Osnabrück im Ausklang der romantisch verklärten Biedermeier-Zeit ist alles andere als ein idyllisches Fleckchen Erde. Im Gegenteil: Es rumort gewaltig. Und das Bedürfnis, das Unwohlsein in gedruckten Seiten auszudrücken, steigt mächtig.

Rund 12.000 Seelen sind als Osnabrückerinnen und Osnabrücker verzeichnet. Die Stadt ist noch sehr vorindustriell geprägt. Noch fehlen die rauchenden Schornsteine einer flächendeckenden Industrialisierung. Doch die Missstände und Ungerechtigkeiten treten immer offener zutage. Stadt und Umland leiden noch immer unter den Folgen von Missernten, Teuerungen und dem Niedergang der heimischen Textilproduktion, die ihrer britischen Konkurrenz hoffnungslos unterlegenen ist.

In der Stadt Osnabrück selbst stinkt es, und es ist dunkel! Direkt hinter verfallenden Stadtmauern verbergen sich Enge, Krankheit und Tod. Mitten durch etliche Straßen ziehen sich mächtige Kloaken in Gestalt von Abwassergräben. Die Hase ist ein perfide riechendes Rinnsal, das die hineinlaufenden Kloaken aufnimmt. In unmittelbarer Nähe der Abwasserrinnen gesellen sich Frischwasserbrunnen, die sich allzu oft mit den Abwassern vermengen. Viele Straßen sind schlecht oder nur grob gepflastert und verbergen eine üble Mischung aus Misthaufen, Schlamm, Tier- wie Menschenfäkalien.  Hoch zum Himmel aufragende Fachwerkgiebel vermindern das Tageslicht auch bei Sonnenschein.

Andernorts in der Stadt wohnt die privilegierte und über den Rest der Bevölkerung herrschende Minderheit. Hier regieren üppiger Wohlstand und die Pflege vornehmer Künste. Der protzige Dom- und Ratshausbereich, natürlich auch edle Häuser der Vornehmen und Reichen, ein Beispiel ist die Hakenstraße, bilden mit ihren prächtigen Fassaden den Kontrast zum Elend der Armen. Seit 1843 ist es infolge einer Abschaffung des „Festungsgebots“ möglich, auch außerhalb der Stadtmauern ein Haus zu bauen und dennoch Stadtbürger zu bleiben. Wohlhabende zieht es danach mit aufwändigen Bauten auch in die Landwehr jenseits der alten Mauern.

Insbesondere in den Armenhäusern herrscht dagegen eine unbeschreibliche Enge, was sich in naher Zukunft noch verschärfen wird: Kleinere Vorboten der Cholera-Epidemie von 1859 kündigen sich an. Drastische Vorwarnungen des Stadtarztes Dr. Vezin finden kaum das nötige Gehör. Ein armer Osnabrücker wird im Schnitt keine 30 Jahre alt. Nahezu die Hälfte der Toten bilden Kinder, die kaum ihr fünftes Lebensjahr erreichen.


Frischluft unter Mehltau

Unzufriedene, die sich keineswegs mit ihrem Schicksal zufriedengeben wollen, bilden zarte Keime der Hoffnung auf Besserung. Den größten Berufsstand der vorindustriellen Stadt stellen Zigarrenarbeiter. Ihre Gesamtzahl beläuft sich auf etwa 500 bis 600 angelernte Arbeitskräfte. In deren beengten und stickigen Werkstuben beginnt es früh zu rumoren, was am Ende zum ersten gewerkschaftlichen Zusammenschluss in der Stadt führt. Gerade Zigarrenarbeiter sind es, bei denen das gedruckte Wort hoch im Kurs steht. Sehr oft garantiert ein sogenannter Vorleser, für den andere mitarbeiten, dafür, dass kritische Botschaften gegenüber der Obrigkeit ihr Publikum erreichen.

Mitbestimmen darf niemand aus der abhängig beschäftigten Bevölkerung, Frauen erst recht nicht. Wahlberechtigt steht allein Hausbesitzern und gutbetuchten Steuerzahlern zu.

Das Bildungsangebot spiegelt die Klassenlage: Kinder der Reichen besuchen im Genuss üppigen Schulgelds das evangelische Ratsgymnasium oder das katholische Carolinum. Das einfache Volk hat sich mit Kirchspielschulen für die Kleinen und Bürgerschulen für bis zu 14-Jährige zu bescheiden. Weil sich aber Ungerechtigkeiten der Gesellschaft kaum anderswo dermaßen drastisch zeigen wie im Schulalltag, finden sich immer mehr angestammte Lehrer, die ihren Unmut nicht mehr verschweigen wollen – und nach Möglichkeiten trachten, diesen Unmut nach außen zu tragen. Gerade Pädagogen trachten nach umfassender Volksbildung. Nur vier von zehn Deutschen sind um 1840 herum in der Lage, mühsam oder auch fließender Texte zu lesen.

Im Rathaus regiert seit 1833 Johann Carl Bertram Stüve als erhaben wirkender Bürgermeister. Der in weiten Kreisen des Bürgertums angesehene Mann ist daneben nicht nur als Artikelschreiber und Blattmacher aktiv. Seit 1824 sitzt er zusätzlich als Abgeordneter in der zweiten Kammer der Hannoverschen Ständeversammlung und vertritt darin die Anliegen der Städte. Das neue Stadtoberhaupt befindet sich mittlerweile, gemeinsam mit fast allen Stadtoberen, im mächtigen Clinch mit dem hannoverschen Königshaus. Der frisch ernannte König Ernst August I. hat anno 1837 schnurstracks wieder uralte Zustände in Kraft gesetzt hat. Macht und Posten stehen wieder ausschließlich dem Adel zu.


Wendejahr 1848

Im Jahre 1848 kündigt sich eine Wende der Verhältnisse an. Landauf, landab ziehen Arbeiter, Handwerker, Fabrikanten, Kaufleute bis hin zu Lehrern und Professoren auf die Straße. Alle fordern politische und wirtschaftliche Freiheiten. Wieder bilden Menschen in Frankreich die Vorreiter. Nach der dortigen Februarrevolution muss der sogenannte Bürgerkönig Louis Philippe schmählich abdanken. Eine neue Republik wird ausgerufen. Das Geschehen spricht sich wie ein Lauffeuer auch in den deutschen Staaten herum.

Die deutsche Parallele zur rot-weiß-roten französischen Trikolore bilden die Farben schwarz-rot-gold. Sie finden sich vor allem auf Fahnen oder Kokarden und verbreiten sich blitzschnell. Die Farbkombination beruft sich auf die Uniform des legendenumwobenen Lützowschen Regiments. Das hatte sich bis 1815 mit schwarzem Rock, goldleuchtenden Knöpfen und roten Aufschlägen den Truppen Napoleons entgegengestellt und junge Männer jenseits aller deutschen Staatsgrenzen miteinander vereint. Die Farbfolge gilt als Symbol in Doppelfunktion: einerseits für deutsche Einheit, andererseits für Freiheit und Selbstbestimmung.

In deutschen Zentren kommt es bereits vor 1848 zu mächtigen Unruhen. Pressefreiheit ist eine der bedeutendsten Forderungen. Menschen wollen schreiben, was sie denken. Zum Fanal der Revolution werden die Berliner Straßenkämpfe am 18. März: Hunderte von freiheitsliebenden Demokraten und Liberalen finden den Tod durch Gewehrsalven und blank gezogene Säbel der preußischen Armee. Der Ruf nach einem grundlegenden Wandel ist nicht mehr zu überhören. Selbst der erzkonservative preußische König Friedrich Wilhelm IV. muss erste Zugeständnisse machen. Am 2. April tagt der Bundestag mit all seinen adeligen Vertretern aus den deutschen Einzelstaaten. Am Ende hat das Parlament die freiheitsfeindlichen Karlsbader Beschlüsse aufgehoben. Mit der Knebelung einer freien Presse hat es damit ein Ende. Menschen jubeln. Vorerst jedenfalls.

Die Unruhen erfassen schnell auch Hannover. König Ernst August I. fackelt nicht lange. Er hebt schon am 25. März die Zensur auf und ernennt kurz darauf den Osnabrücker Bürgermeister Johann Carl Bertram Stüve zu seinem Innenminister.

Panorama einer vorindustriellen Stadt mit selbstbewusster Bürgerschaft. Festgehalten vom Standort der Gertrudenberg-TerrassenPanorama einer vorindustriellen Stadt mit selbstbewusster Bürgerschaft. Festgehalten vom Standort der Gertrudenberg-Terrassen


Osnabrück in schwarz-rot-gold

In Osnabrück haben sich schon früh sichtbare Vorboten des kommenden Geschehens gezeigt. So berichtet der Sozialist Karl Grün aus einem 1843 erfolgten Besuch von Freunden in Osnabrück, dass ihm dort ein „Menschenfrühling“ begegnet sei. Und im Jahre 1844 besucht eine Osnabrücker Delegation ein Pfingsttreffen demokratisch gesonnener Bürger im westfälischen Tatenhausen. Die Revolution von 1848, welche Deutschland die Einheit und allen Einzelstaaten Freiheit und Parlament bescheren soll, findet also an der Hase einen vielbeachteten Nährboden. Es macht die Stadt sogar zur „schönen Oase“  der Demokraten, wie dies später im Oktober aus einem Berliner Demokratenkongress berichtet wird.

Auch die Arbeiterbewegung erwacht früh in Gestalt einer Zigarrenarbeitervereinigung, die sich später mit ihrem Vorsitzenden I. C. F. Röhmeyer eng an der sogenannten „Arbeiterverbrüderung“ orientieren wird. Die wiederum beginnt sich im gesamten deutschsprachigen Raum als Vorläufer einer sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbewegung aufzustellen.

Unterwegs sind aber auch diejenigen, die eher bedächtige Verbesserungen im Sinne einer konstitutionellen Monarchie anstreben, ohne die feudale Herrschaft im Grundsatz abzulehnen. Deren Wortführer ist zuvorderst der frischgebackene hannoversche Minister Johann Carl Bertram Stüve, der sich im Laufe der kommenden Monate allerdings zum erbitterten Feind aller Demokratiebestrebungen aufstellen wird.

Tageblatt 1848 - ErstausgabeTageblatt 1848 - Erstausgabe

Ein „Tageblatt für jedermann“

Die linken Demokraten sind die ersten, die ein gemeinsames Blatt gründen, um ihre Positionen in die Öffentlichkeit zu bringen. Mit dem „Tageblatt für jedermann“ erscheint bereits am 22. März 1848 die allererste Tageszeitung der Stadt. Die Redaktionsräume befinden sich laut offiziellem Adressbuch in der Großen Straße 89.

Als Format wählen sich die Verantwortlichen eines, das nicht viel größer als viele andere zeitgenössische Publikationen ist. Der Leser hält ein überschaubares Blättchen mit den Maßen 19 mal 25 cm in seinen Händen. Bereits in seiner allerersten Ausgabe berichtet das Tageblatt über eine Massenversammlung auf dem Osnabrücker Schützenhof, die am Tag zuvor Tausende von Osnabrückern zusammengeführt hat. Inmitten schwarz-rot-goldener Fahnen, so der Berichterstatter, sei ein „Vivat für das freie einige Deutschland“ erklungen. Hauptredner sind die Tageblatt-Schreiber Noelle und Detering. Um 17.00 Uhr nachmittags bewegt sich der Zug dann, so der Bericht, direkt zum Rathaus. Hier sind es vor allem Bürgermeister Stüve und Altermann Breusing, die das Wort ergreifen.

Die Tageszeitung bildet den Kern linksrevolutionärer Aktivitäten und kommt – außer montags – als vierseitige Publikation heraus. Die wichtigsten Macher sind die Lehrer Carl Rosenthal und Hermann Wilhelm Schröder, in besonderer Weise auch der oben genannte Advokat Johann Detering mit seinen Kollegen Conrad und Franz Brickwedde. Unterstützt werden sie auch vom angesehenen Leiter der Handelsschule, Carl Noelle.

Hervorstechend ist außerdem die Person des Verlegers: Es handelt sich um Johann Friedrich Ludwig Lüdecke. Mit dem Tageblatt startet er sein zweites, diesmal völlig unzensiertes Zeitungsprojekt. Der wiederum hat bereits sein erstes Blatt, wie oben berichtet, bewusst „Unterhaltungsblatt für Leser aus allen Ständen“ genannt. Auch jetzt setzt er mit den demokratischen Redakteuren alles daran, das neue Tageblatt tatsächlich für alle Gruppen der Bevölkerung zu öffnen. Die Zeit, in der nur ein winziger Teil der Menschen seine Neuigkeiten aus einem periodisch erscheinenden Blatt bezieht, soll endgültig vorbei sein. Außerdem ist Lüdeckes neues Produkt dieses Mal gänzlich unzensiert und mit glasklaren politischen Botschaften versehen.

Im Tageblatt finden sich, ganz im Gegensatz zu den von Justus Möser anno 1766 gegründeten, als langweilig empfundenen Osnabrückischen Anzeigen, Modernes und Neues. Die Osnabrücker Leser studieren lebendig geschriebene Aufsätze und Kommentare, die besonders häufig aus der spitzen Feder des fleißigsten Schreibers Carl Rosenthal stammen. Ergänzt wird alles durch Nachrichten aus aller Welt wie aus der engeren Heimat. Das Publikum freut sich über Witz, Satire und über das Angebot, unter der Sparte „Eingesandtes“ selbst etwas zu veröffentlichen. Im politischen Teil legen sich die Redakteure keine Scheuklappen an: Die Schreiber fordern unmissverständlich die Trennung von Kirche und Staat, die Aufhebung des Schulgelds, eine grundlegende Besserstellung der verarmten Heuerleute und die Abschaffung der Prügelstrafe. Auch Frauen melden sich engagiert zu Wort und machen skeptischen Männern deutlich, dass auch die vielgeschmähten „Frauenzimmer“ ebenso klug und engagiert für ihre Meinung streiten können wie männliche Schreiber.

Breiten Raum nehmen auch Gastbeiträge prominenter Autoren ein. Darunter befindet sich der badische, im gleichen Jahr nach Amerika ausgewanderte Revolutionär Friedrich Hecker, häufig auch Robert Blum aus Leipzig, der kurze Zeit später als geistiger Kopf der Linken im Frankfurter Paulskirchenparlament gilt, welches sich rund zwei Monate später als erstes demokratisches Parlament in der deutschen Geschichte konstituieren wird.

Wie ein kraftvolles politisches Manifest liest sich eine Erklärung des Tageblatts, in der mit der Vergangenheit abgerechnet wird:

„Die alte Welt war die Welt der Privilegien, die Welt der Ausbeutung der einen durch die anderen. Der eine war reich, der andere war arm! Der eine hatte das Privilegium der Bildung, der Gesittung, des Wissens – der andere die Last der Roheit, der Ignoranz und des Glaubens. Dem einen war der Genuss zugedacht, dem anderen die Arbeit … der eine befahl, der andere gehorchte.“

Auf diese klare Manifestation folgt der weitere Werdegang des Blattes und seiner linksdemokratischen und frühsozialistischen Macher. Alle wollen weit mehr erreichen als eine Fortsetzung der alten Königs- und Fürstenherrschaft mit bescheidenen Mitwirkungsrechten.

Immer enttäuschter werden die Osnabrücker Linken später zur Kenntnis nehmen, dass ihre Haltungen sich ab Mai keineswegs in den Beschlüssen des gewählten Frankfurter Parlaments wiederfinden. Mit Stüve erwächst ihnen als Innenminister, später auch als wieder eingesetzter Osnabrücker Bürgermeister ein Gegner, der Demokraten mit aller Macht bekämpft.

All dies ist aber eine andere Geschichte, die in künftigen OR-Beiträgen vertieft werden soll.

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