Ein unbelehrbarer NS-Kreisleiter und sein Anwalt Hans Georg Calmeyer
Am 20. August 1935 hetzte NS-Kreisleiter Willi Münzer auf dem Ledenhof in Osnabrück laut Lagebericht der Gestapo vor 25.000 jubelnden Menschen gegen „die Juden“ und ihre vermeintliche „Weltverschwörung“. Vierzehn Jahre später bewahrte ihn sein Anwalt Hans Georg Calmeyer, der „Judenretter“ aus Osnabrück, davor, wegen Verbrechen gegen Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten verurteilt zu werden. Auch im Mordfall Anna Daumeyer-Bitter kam Münzer ungeschoren davon.
Ginge es nach den Calmeyer-Anhängern, würde das Gebäude, in dem die NSDAP-Zentrale Osnabrücks untergebracht war, in dessen Kellern führende Sozialdemokraten wie Josef Burgdorf, der Leiter der Untergrundbewegung in Osnabrück, Heinrich Niedergesäß, Wilhelm Mentrup, Heinrich Groos oder auch Gustav Haas von den Nazis misshandelt wurden, und in dem der NS-Kreisleiter und spätere Calmeyer-Mandant Münzer jahrelang „herrschte“, künftig Hans-Calmeyer-Haus heißen. Welche Verklärung der Geschichte des ehemaligen Braunen Hauses, es nach dem Mann zu benennen, der sich selbst als Judenretter sah und als überzeugten Nazigegner bezeichnete. Ein Hans Calmeyer, der sich gleichzeitig nicht zu schade war, mit Willi Münzer ohne Not einen Mann vor Gericht zu vertreten, der zur „ersten Garde der Osnabrücker Nazis“ gerechnet wurde und damit zu den Männern in Osnabrück gehörte, die dem Terrorapparat in Osnabrück ihren Stempel aufdrückten.
Folgendes ist über die „Massenkundgebung gegen die Juden in Osnabrück“ zwei Tage später in den Bramscher Nachrichten wie in allen gleichgeschalteten Zeitungen der Region zu lesen:
„Die Kreisleitung Osnabrück-Stadt hatte für Dienstag abend die Bevölkerung von Osnabrück zu einer Großkundgebung gegen die Juden aufgerufen, die auf dem Ledenhof stattfand. Von 20 Uhr ab zogen die Parteiangehörigen, SA., SS., HJ., die Beamten- und Angestelltenverbände, die Arbeiterschaft, strahlenartig von ihrem Sammelplatz aus mit Trommler- und Pfeiferkorps sowie schmetternder Marschmusik zum Ledenhof, der in hellem Licht flutete. Ein Wald von Fahnen gruppierte sich um die Rednertribüne. Eine eigens aufgebaute Lautsprecheranlage ermöglichte es, daß auch Tausende von Menschen, die rings um den geräumigen Platz herumstanden, die Reden gut verstehen konnten. Versammlungsleiter Pg. Kolkmeyer eröffnete um 21 Uhr, als der Aufmarsch beendet war, die Massenkundgebung mit dem Motto: Deutschland den Deutschen!
Dann ergriff Kreisleiter Münzer das Wort […]. Er legte dar, dass das Judentum im Verein mit dem Bolschewismus die Weltherrschaft auf politischem Gebiet erstrebe. Eine große Maschinerie sei in Bewegung, um Deutschland in einen Krieg zu stürzen, vor allem aber, um das friedliebende Volk der Deutschen in aller Welt verhaßt zu machen. Mit diesem Vernichtungswillen verbinde sich der teuflische Plan, Deutschland auch wirtschaftlich zu vernichten durch den Wirtschaftsboykott.“
Verblüffend erscheint die Ähnlichkeit der damals verwendeten Parolen mit jenen, die uns auf manchen heutigen Demonstrationen begegnen.
„Immer noch umschleichen Rasseschänder dich und deine Familie!“ warnte der Osnabrücker Kreisleiter in seiner Rede auf dem Ledenhof . Die jüdische Osnabrücker Ärztin Dr. Frieda Loewenstein beschrieb nach ihrer Flucht aus Deutschland 1938 vor dem Zonta-Club im Staat New York diese Art der nationalsozialistischen Hetze als „die abscheulichste, pornographisch-obszöne Literatur“ – was wohl auch einen Teil ihrer Anziehungskraft ausmachte. Sie erklärte den amerikanischen Frauen, der Stürmer stelle „widerlich aussehende jüdische Männer dar, die über schöne blonde deutsche Frauen herfallen“. Auch Kreisleiter Münzer appellierte an die niedrigsten Instinkte – im typischen Stil nationalsozialistischer Propaganda, wie man sie aus Julius Streichers primitiven Stürmer kannte: „Deutsche Mutter, hast du darüber nachgedacht, in welcher Gefahr dein Kind schwebt? Weißt du, daß täglich Kinder von Juden geschändet werden?“, fragte Münzer. „Immer noch weilen Hunderttausende von Juden in unserem Staat! Immer noch umschleichen Rasseschänder dich und deine Familie!“
Juden, das ist Eure letzte Warnung!
1935 wurden überall im Deutschen Reich antisemitische Ausschreitungen organisiert, die im August ihren Höhepunkt erreichten und erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im September wieder abflauten. An größeren Orten in der Umgebung Osnabrücks fanden antisemitische Kundgebungen und Propagandamärsche unter dem Motto „Kampf gegen die Judengefahr“ statt. Auch der ehemalige Osnabrücker Hans Leichtentritt, dem 1936 noch rechtzeitig die Emigration gelang und der sich dort Chanan Maor nannte, erinnerte sich 1984 in einem Brief aus Israel an die fanatisierten Massen: „Die Bevölkerung Osnabrücks tat sich bereits in den frühen dreißiger Jahren mit großem Judenhass hervor. Bereits im Jahre 1934 oder 35 organisierten wichtige Persönlichkeiten der Stadt auf dem Ledenhof eine Massenveranstaltung mit dem Motto: Aufruf – Judenfrage in Osnabrück – Juden, das ist Eure letzte Warnung! Es gab leider Juden, die den Ernst der Situation nicht erfassten und ihr Zögern mit dem Leben büssen [sic] mussten.“
Die Warnung galt nicht nur den jüdischen Osnabrückerinnen und Osnabrückern, sondern auch allen, die mit ihnen sympathisierten. Kreisleiter Willi Münzer prangerte bei der Massenveranstaltung öffentlich Menschen an, die noch „zum Juden gingen“. Wer, „vom jüdischen Gift verseucht”, noch immer „beim Juden” kaufe, sei ein „weißer Jude“ und ein Volksverräter „und unterstützt den Juden in seinem Weltherrschaftsstreben”, verkündete der Kreisleiter. Münzer warf ihnen namentlich vor, dass sie „mit den Juden gemeinsame Sache machte[n]“. Die „gemeinsame Sache“ war der Einkauf in einem der Geschäfte, die noch jüdische Eigentümerinnen oder Eigentümer hatten. Es gehe um die „Erziehung des deutschen Menschen” durch eine „Radikalkur”.
Die Motive der Menschen, die auf dem Ledenhof öffentlich angeprangert wurden, weil sie noch „beim Juden“ kauften, sind nicht bekannt. Bei allen handelte es sich jedoch um renommierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Die von Münzer auf dem Ledenhof genannten und auch in den Zeitungsberichten erwähnten Namen, Kaufmann Wilhelm Abeken, Henriette Ostmann von der Leye, Margarete Lübcke sowie Wilhelm Wendland, finden sich auch in der Kartei des nationalsozialistischen Sicherheitsdienstes (SD), der politische Gegnerinnen und Gegner ausschalten und die Bevölkerung einschüchtern sollte. Die in der Rede angeprangerte Familie Abeken beispielsweise war eine alteingesessene Bürgerfamilie, die eine Holzhandlung in Osnabrück betrieb. Von Wilhelm Abeken wird berichtet, dass er trotz der Boykottaufrufe im Kaufhaus Alsberg einen Schlips kaufte, den er gar nicht brauchte. Er starb am 8. Juni 1941 bei einem Bombenangriff auf Osnabrück. Oder Frau Wendland, sie war die Ehefrau des Direktors des Reformrealgymnasiums, dem heutigen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. Mariano Freiherr Ostman von der Leye und sein Bruder Egon hatten bei einem „Gemeinschaftsempfang“ einer Hitler-Rede im Radio im Saal der Gaststätte Busch in Atter durch „eine heftige Trinkerei“ an der Theke die Übertragung gestört – auch so konnte Widersetzlichkeit im NS-Regime aussehen. Sie wurden von den anwesenden SA-Leuten angezeigt und daraufhin von der NSDAP-Ortsgruppe Atter zu einem Schulungsabend zur Rassenfrage und dem Nationalsozialismus „eingeladen“. Frau Ostman von der Leye dagegen erhielt vom Kreisleiter auf dem Ledenhof in aller Öffentlichkeit „Nachhilfe“ in der Rassenfrage.
Von Frau Lübcke wird berichtet, dass sie noch immer im Damenschneider-Salon von Henny van Pels an der Möserstraße schneidern ließ, die sich auf die „Anfertigung eleganter Damenkleidung“ verstand. Auch wenn sie wie andere Kundinnen nur noch abends spät zur Anprobe kam, konnte dies in einer Stadt von der Größe Osnabrücks nicht verborgen bleiben. Die Lübckes waren Nachbarn von Aron van Pels am Kaiserwall (heute Hasetorwall). Sein Sohn Hermann floh zwei Jahre später in die Niederlande und versteckte sich dort mit seiner Frau Auguste und dem Sohn Peter van Pels mit der Familie Frank im Hinterhaus an der Prinsengracht in Amsterdam.
Diese antisemitischen Angriffe, angereichert mit Lokalkolorit durch die Nennung stadtbekannter Namen, erfüllte ihren Zweck, die Bevölkerung in Osnabrück gegen ihre jüdischen Mitbürgerinnen und -bürger aufzuhetzen. Werner ten Brink, Sohn einer jüdischen Osnabrücker Familie und damals 16 Jahre alt, war wie Hans Leichtentritt ebenfalls auf dem Ledenhof anwesend. Er erinnerte sich: „Auf einer Nazi-Kundgebung mit 20 000 Menschen in Osnabrück wurde plötzlich ein Nazi-Lied gesungen, und jeder streckte den rechten Arm halb hoch zum Hitlergruß, nur ich nicht.“ Dafür bekam der jüdische Junge prompt eine Ohrfeige. „Am folgenden Tag nach der Kundgebung grüßten uns die Nachbarn nicht mehr und wir wurden gemieden.“ Bei seinen Nachbarn hatte die „Erziehungsaufgabe an deutschen Volksgenossen in Bezug auf den Einkauf in nichtdeutschen Geschäften“ durch den Kreisleiter anscheinend Erfolg. Und sicher nicht nur bei ihnen.
Die durch Münzers Rede aufgeheizte Atmosphäre erschien der jüdischen Gemeinde so bedrohlich, dass laut dem Geheimen Lagebericht der Gestapo ein großer Teil der jüdischen Osnabrücker Familien aus Angst aus der Stadt floh.
Lukrative Geschäfte für den Kreisleiter und seine Freunde
Kreisleiter Münzer war bekannt dafür, dass er bei Arisierungen für sich selbst und seine besten Freunde lukrative Geschäfte zu machen pflegte, wie in Entschädigungsakten im Niedersächsischen Landesarchiv Osnabrück nachzulesen ist. Die Männer um Münzer waren in der Stadt als „Clique Münzer“ bekannt. Der Osnabrücker Rechtsanwalt Geelvink bestätigte in einem Entschädigungsverfahren wegen des erzwungenen Verkauf des Kaufhauses Wertheim 1951, dass Münzer „bei vielen anderen Arisierungen für sich selbst oder zumindest für seine besten Freunde lucrative [sic] Geschäfte zu machen pflegte“.
Durch massive Drohungen wurden Kund*innen davon abgehalten, in den Geschäften einzukaufen. Mehrere Fotografen waren von der NSDAP damit beauftragt, Kund*innen beim Verlassen der Geschäfte jüdischer Inhaber*innen zu fotografieren. Auf diese Weise wurden die Geschäfte zugrunde gerichtet und laut Geelvink zu einem „Notverkauf“ gezwungen, bei dem dann die Käufer gute Geschäfte machten. Die jüdischen Eigentümer*innen, die das unternehmerische Risiko des Neuanfangs getragen und ihr Geschäft unter Einsatz ihrer Arbeitskraft über Jahrzehnte aufgebaut und durch die Wirtschaftskrise gebracht hatten, sollten, so Geelvink, „nichts bekommen, sie sollten mit einer Badehose Osnabrück verlassen“, wie es in einem Schreiben des Anwalts an das Landgericht hieß. Die Nationalsozialisten, in Osnabrück konkret Kreisleiter Münzer, nahmen ihnen ihr Lebenswerk und „verramschten“ es billig an Firmengründer, die sich ins gemachte Nest setzen und die harten Jahre des Starts überspringen konnten. Das Kaufhaus Alsberg erholte sich nach der Arisierung innerhalb kürzester Zeit vom Boykott. „Wie in einem Bienenkorb war der Betrieb in unserem Hause“, heißt es in einer Werbeanzeige von Lengermann + Trieschmann im Dezember 1935, unmittelbar nach der Alsberg-Übernahme. Es reichte, dass die Partei den Boykott beendete und die SA-Posten vor dem Geschäft abzog, um den „Bienenkorb“ zum Summen zu bringen.
„Das macht Freude und frischt das Blut auf“
Nach dem durch den Boykott erzwungenen Verkauf des größten Kaufhauses in Osnabrück, S. Alsberg u.Co., an die Kaufleute Alfred Trieschmann aus Essen und Friedrich Lengermann aus Mülheim/Ruhr, sprach Kreisleiter Münzer im August 1936 vor dem Kreisverband der Partei Osnabrück-Stadt „von einer Parteiaktion zur Überführung jüdischer Geschäfte in arische Hände, die langsam vorwärts gehe.“ Man dürfe stolz darauf sein, daß man ohne Zwischenfall die größten jüdischen Geschäfte in Osnabrück in arische Hände habe überführen können, und es sei eine schöne Zeit gewesen, einmal wieder etwas revolutionär handeln zu können. „Das macht Freude und frische das Blut auf.“
1940 wurde Wilhelm Münzer aus Osnabrück abberufen und als Provinzbeauftragter für Zeeland in die besetzten Niederlande abgeordnet. Wie Hans Georg Calmeyer arbeitete er fortan für das Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete unter dem später als Kriegsverbrecher hingerichteten Arthur Seyß-Inquart. Laut den ersten Calmeyer-Forschungen, die Peter Niebaum in seinem Buch Hans Calmeyer – ein „anderer Deutscher“ im 20. Jahrhundert veröffentlichte, hatte Münzer dienstlichen Kontakt mit dem Osnabrück Rechtsanwalt Hans Georg Calmeyer, der ebenfalls im Reichskommissariat arbeitete. Die beiden kannten sich bereits aus Osnabrück. Als Calmeyer 1933 wegen der gerichtlichen Vertretung von Kommunisten in Schwierigkeiten geriet, wandte er sich um Hilfe an „Freunde und Bekannte“, darunter den Fabrikanten Oskar Laue, „dem erstklassige Kontakte zur SS nachgesagt werden“ und bat, Peter Niebaum zufolge auch den Osnabrücker Kreisleiter der NSDAP, Wilhelm Münzer, um Hilfe.
Gegen Kriegsende 1945 befand sich Münzer wieder in Osnabrück. Er gehörte zu der Gruppe um Oberbürgermeister Dr. Gaertner und NS-Gauinspekteur Fritz Wehmeier, die auf der Flucht vor den heranrückenden Briten in den Mordfall Anna Daumeyer-Bitter verstrickt waren, die für das Hissen einer weißen Fahne auf ihrem Hof an der Nordstraße durch einen Kopfschuss getötet wurde. Keiner der Beteiligten wurde für die Tat zur Rechenschaft gezogen.
Münzer wurde am 28. Mai 1945 von den Briten verhaftet und an die Niederlande ausgeliefert, wo er interniert wurde. Nach seiner Entlassung aus der Internierung 1948 beauftragte Willi Münzer, ein fanatischer Nationalsozialist, der die Mitglieder der jüdischen Gemeinde 1935 in große Gefahr brachte, die Arisierungen in der Stadt vorantrieb und auch privat davon profitierte, Rechtsanwalt Calmeyer damit, ihn vor Gericht zu vertreten. Münzer wollte gegen seine Einstufung im Entnazifizierungsverfahren klagen, um eine günstigere Einstufung zu erlangen, und suchte sich dafür einen Anwalt, von dem er sich Erfolg in dem Verfahren versprach. Calmeyer nahm das Mandat an. Der „Judenretter“ verteidigte wissentlich mit Münzer einen Mann, der nicht nur öffentlich in widerwärtiger Weise gegen jüdische Menschen in Osnabrück gehetzt und federführend an ihrer Enteignung beteiligt gewesen war, sondern auch später keinerlei Einsicht in das Unrecht des NS-Regimes zeigte.
„Von den uns angedichteten Schandtaten hat unser Gewissen uns schon längst freigesprochen. […] Wir haben das Gute gewollt und das Beste für unser Volk erstrebt. […] Christentum der Tat!“ schrieb Münzer im Internierungslager Vught am 8. Februar 1948.
Und danach? Folgt man dem 1990 erschienenen Biographischen Handbuch zur Geschichte der Region Osnabrück, ist dort schlicht und einfach über den am 11. Juni 1969 verstorbenen Mann ohne Reue vermerkt:
„Später lebte er als Industrie- und Handelsvertreter in Osnabrück.“
Es ist durchaus anzunehmen, dass Münzer im beruflichen Alltag durchaus erfolgreich auf alte Netzwerke zurückgreifen konnte. In der von Adenauer geprägten Bundesrepublik bleibt Münzers Werdegang somit keine Ausnahme.