Samstag, 21. September 2024

Ort des Jubels – Ort der Zwangsarbeit – Ort des Lernens für die Zukunft (mit Podcast)

(Texte und Interviews: Heiko Schulze & Kalla Wefel / Fotos: Manfred Pollert / Technik & Gesamtgestaltung: Kalla Wefel)*

Teil 3 der OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens

Selten liegen in einer deutschen Stadt das Jubeln und das Leiden so nahe beieinander wie auf einer eher nichtssagenden Fläche, die auf dem KME-Werksgelände an der Gartlage zu finden ist. Es handelt sich um ein ehemaliges Zwangsarbeitslager in der Gartlage, dessen Baracken in Kriegszeiten nahezu exakt da zu finden waren, wo der VfL bis 1939 seine größten Vorkriegstriumphe feierte. Anlass genug, um aus diesem Kontrast den Bogen zur Zukunft zu spannen und dazu insbesondere im Jahr des großen Osnabrücker Friedensjubiläums aktiv zu sein. Die Voraussetzungen dazu sind ausgezeichnet: Die Fanszene des hiesigen VfL hat in jüngster Zeit bereits sehr erfolgreich Pflöcke einer bundesweit vorbildlichen Fußball-Erinnerungskultur gesetzt.


Ort des Jubels – Ort der Zwangsarbeit

Beginnen wir mit dem wohl größten Triumph der frühen VfL-Geschichte. Am 26. Februar 1939 schlägt der VfL Osnabrück in einem grandiosen Spiel den damaligen Deutschen Meister Hannover 96 im alten Gartlage-Stadion mit 3:0. Geebnet ist der Weg zur Meisterschaft in der Gauliga Niedersachsen, was zur Endrundenteilnahme zur Deutschen Meisterschaft berechtigt. Wer sich den Triumph in einer für den VfL erstellten nachgestellten Wochenschau ansehen möchte, kann dies hier tun …

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Weitere Informationen

Der 4:2-Gruppensieg gegen den Konkurrenten Hamburger SV ist am 21. Mai 1939 das letzte Spiel, das an der Gartlage zu sehen ist. Es folgen die Aufgabe, der Abbruch und die Planierung des alten Tennen-Platzes. Die „Kampfbahn Bremer Brücke“, nur ein paar Steinwürfe entfernt, steht längst als Nachfolgestadion bereit und wird nach dem Weltkrieg zum Schauplatz legendärer VfL-Spiele.

Der alte Platz wird zum Werksgelände des KME-Vorgängerbetriebs, des Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerks (OKD). Ab 1942, der Zweite Weltkrieg ist mit all seinen Leiden in das dritte Jahr getreten, beziehen rund 1.300 Zwangsarbeitende aus der damaligen Sowjetunion ein gutes Dutzend länglicher Holzbaracken. Durchschnittlich rund 81 Menschen verbringen ihre Nächte in einer dieser Behausungen. Umzäunt ist alles mit Stacheldraht. Wachmannschaften sorgen mit Argusaugen und geladenen Gewehren dafür, dass niemand hinauskommt. Vor den Eingangstüren der Baracken sorgt ein dickes Vorhängeschloss dafür, dass niemand entweichen kann.

Inmitten der verschmutzten Baracken türmen sich mehrstöckige Holzbetten. Ratten, Wanzen, Läuse und sonstiges Ungeziefer finden immer wieder den Weg in die Schlafstellen, die aus primitiven Strohsäcken und speckigen Decken bestehen. Als Toiletten dienen allenfalls stinkige und von Rost zerfressene Eimer. Die Ernährung, zumeist in der Großkantine des Werks eingenommen, besteht meistens aus dosierten Brotstücken und wässriger Suppe. Die wöchentliche Arbeitszeit der Geschundenen beträgt am Kriegsende mindestens 72 Stunden. Absolviert werden die Arbeiten beim OKD, beim Aufräumen von Bombenschäden oder in der Rüstungsfabrik auf dem nahegelegenen Teuto-Metallwerk auf dem Limberg, wo im hohen Maße vor allem Zwangsarbeiterinnen eingesetzt sind. Männer wie Frauen absolvieren ihre Wege zur Arbeit oder zum Appell auf dem Lagerplatz zumeist in primitiven Holzschuhen. Das unförmige Schuhwerk macht das Fortkommen für all jene besonders schwer, die krank und erschöpft sind. Ziehen Zwangsarbeitende durch Osnabrücker Straßen, bleibt das laute, massenhafte Geklapper ihres Schuhwerks für Einheimische eine dauerhafte akustische Erinnerung.

In den rund 100 Osnabrücker Lagern für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, männlich wie weiblich, leben rund 10.000 Menschen, die ihr Schicksal als Kriegsgefangene oder Zivilisten aus der Sowjetunion, Frankreich, Polen, den Niederlanden, Belgien und andernorts nach Osnabrück geführt hat. Lager mit sowjetrussischen Insassen sind besonders groß. Neben dem in der Gartlage besteht noch eines am Piesberger Steinbruch, in dem 2.000 Gefangene drangsaliert werden und oft lebensgefährliche Arbeiten verrichten müssen.

Dass auffallend viele Zwangsarbeiterinnen im Gartlager Lager untergebracht sind, besitzt einen speziellen Anlass: Den Nazis ist es nämlich allemal lieber, den angeblich „rassisch minderwertigen“ Russinnen und Ukrainerinnen in den örtlichen Betrieben anstrengende Arbeit zuzumuten. Der Platz „arischer“ deutscher Frauen soll, wenn irgend möglich, daheim an Heim und Herd sein. Geschlechtsverkehr mit Angehörigen der einheimischen Bevölkerung ist den Zwangsarbeitenden verboten und wird mit dem Tode bestraft. Kommt es unter Zwangsarbeiterinnen tatsächlich zur Geburt von Kindern, werden die Neugeborenen mitnichten betreut. Noch heute künden zahlreiche Kindergräber, unter anderem auf dem Heger Friedhof, vom furchtbaren Schicksal der Kleinsten. Bei ihrer Definition des angeblich „unwerten Lebens“ unterscheiden die Nazis nicht zwischen Kleinkindern und Erwachsenen.


Auffälliger Teil der Stadtgesellschaft

Zwangsarbeiterinnen oder Zwangsarbeiter, die durch Osnabrücker Wohnstraßen ziehen, zeigen in ihrer Verzweiflung zuweilen echten Mut: Sie signalisieren zuschauenden Osnabrücker*innen verzweifelt ihren Hunger. Zuweilen fliegen dann tatsächlich Brotstücke in die Menge und werden von den Fangenden, soweit sie nicht von ihren Bewachern oder uniformierten Nazis am Straßenrand daran gehindert werden, hastig in der Kleidung verstaut. Wer dabei erwischt wird, sich „illegal“ Nahrung besorgt zu haben, riskiert, ebenso wie beim Fluchtversuch, die Deportation in das „Arbeitszuchtlager“ Augustaschacht am Hüggel. Dort wiederum herrschen Bedingungen, die noch weitaus schlimmer sind als an der Gartlage und mit denen in einem KZ verglichen werden können. Aber auch diejenigen, denen dieses Los erspart bleibt, müssen mehr als hart schuften. Zuvor sind alle meist willkürlich in ihrem Heimatort verhaftet und zwangsdeportiert worden. Alle sollen jene deutschen Männer ersetzen, die an der Front für „Führer und Vaterland“ kämpfen und notfalls sterben sollen.

Osnabrücks angestammte Bevölkerung macht in jener furchtbaren Zeit, natürlich vollkommen ungewollt, ihre ersten Erfahrungen mit einer multikulturellen Stadtbevölkerung, deren nichtdeutscher Teil sein Dasein allerdings eher im Status von Arbeitssklaven fristen muss. Da die militärischen Bewacher penibel aufpassen, kommt es auf den Straßen selten zu Begegnungen mit der deutschen Bevölkerung. Allenfalls Zwangsarbeitende, die aus Staaten wie Frankreich oder Italien kommen, werden deutlich freundlicher behandelt und sind vor allem in Kleinbetrieben und auf Bauernhöfen zuweilen sogar ins Familienleben integriert.

Nach der Befreiung durch die Briten am 4. April 1945 werden alle ehemaligen Lagerinsassen jene „Displaced Persons“ bilden, die sich den Stadtraum mit rund 60.000 Verbliebenen der vormaligen Stadtbevölkerung sowie einigen Tausend Geflüchteten aus deutschen Ostgebieten teilen, was naturgemäß recht häufig zu gewaltsamen Konflikten führen wird. Dies wiederum ist eine gesonderte Erzählung wert.

Mindestens 300 Kriegsgefangene, Häftlinge oder Zwangsarbeiter werden in Osnabrück Opfer des Bombenkrieges. Die dezentral bereitgestellten, vorwiegend für Alt-Osnabrücker reservierten Beton-Bunker bleiben nicht selten für Nichtdeutsche verschlossen. Werden sie dennoch infolge des kargen freien Platzes hineingelassen, wird ihnen in der Regel vom NS-Bunkerwart allenfalls ein Stehplatz am Eingang zugewiesen, wo der Schutz vor Bomben ungleich geringer ist als im Inneren des Bunkers.

Wie viele der Zwangsarbeitenden und Kriegsgefangenen, ganz unabhängig von den Folgen des Bombenkrieges, infolge ihrer Mangelernährung, von Epidemien, Misshandlungen oder Überforderung am Arbeitsplatz ihr Leben verloren haben, bedarf in Osnabrück noch einer detaillierten Ermittlung. Bekannt ist, dass im Deutschen Reich von insgesamt 2,5 Mio. Zwangsarbeitern rund 625.000, mithin jeder Vierte, den Krieg nicht überlebt hat. Wollte man dieses tragische Zahlenverhältnis auf die Stadt Osnabrück übertragen, käme man auf rund 2.500 Tote.

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Aufarbeitung 2023: einen Bogen zur Zukunft spannen

Was folgt aus der Erkenntnis, dass ein Ort der Fußballsiege zu einem Tatort der Menschenrechtsverletzung geworden ist? Das Bündnis „Tradition lebt von Erinnerung“, dem neben Einzelpersonen das VfL-Museum, die VfL-Fanabteilung, die Violet Crew, das Osnabrücker Fanprojekt sowie der Bürgerverein Schinkel angehören und das sich bei weiteren Aktionen eng mit dem Verein Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapo-Keller abstimmt, ist seit längerer Zeit intensiv mit der Aufarbeitung der Geschehnisse auf dem ehemaligen VfL-Platz befasst. Maßgeblich ausgearbeitet von Christoph Rickling und Lothar Ulferts, wurden akribisch exakte Pläne erstellt.

Die Befragung noch lebender Zeitzeugen, Öffentlichkeitsarbeit sowie die Sichtung von auffindbaren Plänen, Fotos und Dokumenten hat bereits wichtige Ergebnisse zutage gebracht. Besondere Beachtung fand in jüngster Zeit ein übersetztes und aufgezeichnetes Zeitzeugengespräch mit der betagten Ukrainerin Antonina Vasilijewna Sidoruk, die ehemals als heranwachsende junge Frau bei den Teuto-Werken am Limberg arbeiten musste.

Konsequente Bildungs- und Erinnerungsarbeit im Geiste von Demokratie, Antirassismus und Toleranz sind seit Jahren die Grundpfeiler des breit getragenen VfL-Bündnisses. Große Resonanz finden gemeinsame Workshops und regelmäßige Diskussionsabende, in denen fachkompetent informiert wird und die Teilnehmenden viele Anstöße für ihre weitere Arbeit erfahren. Neben der Herausgabe einer vielbeachteten Broschüre „Lila-Weiß in brauner Zeit“, Bildungsangeboten für Schulklassen, Vorträgen zur Vereinsgeschichte sowie Begehungen von Stolperstein-Standorten zur Erinnerung an Nazi-Opfer hat sich das Bündnis mittlerweile mit beachtlicher Resonanz der Öffentlichkeit aufgestellt – und fügt sich inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil Osnabrücker Erinnerungskultur zusammen. Etliche Angebote wiederholen sich mittlerweile seit Jahren.

Hinzu tritt die laufende Aufgabe, Arbeitsergebnisse laufend zu dokumentieren und öffentlich zu vermitteln. Hinzu kommen Ideen, wie nahe am Ort des Geschehens an die Geschichte von Fußballplatz wie Lager erinnert werden kann. In Vorbereitung ist die Erstellung einer reichhaltig bestückten Website. Weitere Arbeitsschwerpunkte betreffen Social Media, neue Ausstellungen, interessante Workshops, nicht zuletzt interne wie externe Sonderveranstaltungen. In Rede stehen die Ausweisung von sichtbaren Informations- und Lehrpfaden, die per QR-Code, Audio-Guide oder Audio-Walk erschlossen werden könnten. Weiter diskutierbar ist die Umbenennung von Ortsbezeichnungen, die mit der zu gehenden Route zum Einsatzort der Zwangsarbeitenden in der Limberger Fabrik verbunden sind.

Aufsehen erregt und inspiriert haben die Osnabrücker Aktiven mittlerweile weitere Initiativen in ganz Deutschland sowie in Österreich. Im Gebaude der Gedenkstätte Augustaschacht sind mittlerweile überregional finanzierte Hauptamtliche tätig, die sich allesamt mit der Erforschung und mit Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik „Orte des Jubels – Prte der Zwangsrbeit“ auseinandersetzen.

Dass man dies alles tut, besitzt im Fußballgeschehen immer wieder einen traurigen Anlass: Wiederholt zu beklagen sind dort unvermindert rassistische Vorfälle. Auch die versuchte Einflussnahme rechtsextremer Gruppen ist in vielen deutscher Vereine nicht wegzudiskutieren.

Am Ende könnte ein öffentlich zugänglicher Gedenkort in unmittelbarer Nähe des früheren VfL-Platzes stehen. Wer sich beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, mit dem Fanprojekt unter der Adresse https://fanprojekt-osnabrueck.de  in Kontakt zu treten.


Der Podcast zum Bericht:

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Weitere Informationen

Kalla Wefel & Heiko Schulze unterhalten sich über die Zukunft des Fanprojekts „Tradition lebt von Erinnerung“.


*Die 14-teilige OR-Serie zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens wird gefördert vom Fachbereich Kultur der Stadt Osnabrück.

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