„Da kommt Tante Gerhild mit den Kindern“
Wir schreiben das Jahr 1969. Wenige Wochen vor der Landung der ersten Menschen auf dem Mond, wenige Monate vor der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler. Es ist der 8. Juni. Eine brüllende Hitze im Frühsommer des „Summer of Love“ bringt nicht nur die 22 Spieler der Partie VfL Osnabrück gegen Rot-Weiss Essen ins Schwitzen, nein, auch FIFA-Schiedsrichter Ferdinand Biwersi und über 33.000 Zuschauern im Stadion Bremer Brücke läuft das Wasser die Körper herunter. Eine von ihnen ist Gerhild Gierschner. Im Hauptberuf Erzieherin in einem Kinderheim am Osnabrücker Schölerberg. Doch Gerhild Gierschner ist viel mehr als das: Sie ist ein Fan mit Leib und Seele. Damals sagte man Schlachtenbummler, heute würde man den Begriff Ultra dafür nutzen.
Gerhild Gierschner ist an diesem 8. Juni 1969 natürlich wie bei nahezu jedem Spiel des VfL Osnabrück im Stadion. Der VfL hat in der damaligen Spielzeit sensationell die Nordmeisterschaft der damals zweitklassigen Regionalliga Nord für sich entschieden und steht gemeinsam mit dem TuS Neuendorf, dem SC Tasmania Berlin, dem Karlsruher SC und eben Rot-Weiss Essen im Vorzimmer der ersten Fußballbundesliga, die erst wenige Jahre zuvor ihre Premierensaison absolviert hatte. Zusatztribünen werden aufgebaut und über 20.000 Dauerkarten für die 4 Heimspiele verkauft. Der VfL feiert zu jener Zeit seine größten sportlichen Erfolge seit der Teilnahme an der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft im Jahr 1952. In einem der legendärsten Spiele der 124 Jahre währenden Geschichte des Vereins aus der Hasestadt erkämpfen sich tapfere Gastgeber ein 3:3 gegen den späteren Bundesligaaufsteiger aus dem Ruhrgebiet. Trotz des am Ende verpassten Aufstiegs in die Beletage des deutschen Fußballs sind die über 30.000 Osnabrücker Anhänger restlos begeistert und feiern ihre Helden. Gerhild Gierschner ist eine von ihnen. Und doch sticht sie vielleicht schon damals aus der Masse heraus.
Anfang der 1930er Jahre erblickt Gerhild Gierschner das Licht der Welt. Die Zeiten sind hart. Weltwirtschaftskrise und die Machtübernahme der Nationalsozialisten schütteln das damalige Deutsche Reich durch. Adolf Hitler wird Reichskanzler und schaltet nach und nach alle demokratischen Parteien aus bis hin zur endgültigen Errichtung einer Diktatur durch das Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933.Auch in Osnabrück, wo Frau Gierschner in der Augustenburger Straße aufwächst, ist die Allmacht der NSDAP spürbar. Schon Frau Gierschners Eltern sind alles andere als Nazis. Ihr Elternhaus ist sozialdemokratisch geprägt und Gerhild Gierschner wird dementsprechend trotz des Terrors der Nazis nach humanistischen Werten erzogen. Früh entdeckt sie über ihren Vater die Liebe zum Fußball im Allgemeinen und zum VfL Osnabrück im Besonderen.
Die legendäre Gartlager Elf elektrisiert sie von Kindesbeinen an und noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs besucht sie das erste Mal ein Spiel des VfL. Frauen und Mädchen sind in der damaligen Zeit nur selten beim Fußball anzutreffen. Schon 1926 verbot der DFB Frauen Fußballsport auszuüben. Gynäkologen und Funktionäre beklagten eine „weibliche Rekordsucht“, warnten vor einer drohenden Vermännlichung der Sportlerinnen und vor einer Verzögerung der Aufnahme mütterlicher Pflichten durch den Sport. Auch nach dem Krieg hielt der DFB an seiner Linie fest. Am 30. Juni 1955 beschloss der DFB auf seinem Verbandstag, es den im DFB organisierten Vereinen zu untersagen, Frauenfußball anzubieten. In der damaligen Begründung hieß es, „… dass diese Kampfsportart der Natur des Weibes im Wesentlichen fremd ist. … Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit undAnstand“. Zudem gab der DFB in seiner Begründung eine angeblich gesundheitsschädigende Wirkung des Sports auf Frauen an, da dadurch ihre Gebärfähigkeit beeinträchtigt würde.
Gerhild Gierschner ließ sich von diesem unsäglichen Gebaren nicht beeindrucken. In ihrer Freizeit spielte sie selber Fußball, in gemischten Freizeitmannschaften. Und sie ließ es sich ebenfalls nicht nehmen, auch weiterhin die Spiele des VfL Osnabrück zu besuchen.
Auch politisch blieb sich Frau Gierschner treu und trat mit 21 Jahren, also so früh es damals nur ging, in die SPD ein. Sie hatte wie viele aufrechte Demokraten ihrer Generation die innerliche Überzeugung, dass sich Diktatur und Krieg nie wieder ereignen dürften und dass das Nachkriegsdeutschland eine echte Demokratie werden müsse.
Gerhild Gierschners Berufswunsch kristallisiert sich bereits in ihren Kindheitstagen heraus: sie möchte eines Tages mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und erlernt den Beruf der Erzieherin. Im Jahr 1959 tritt sie ihre Stelle als Erzieherin in einem Kinderheim unweit der Osnabrücker Brinkstraße an. Zur damaligen Zeit leben viele Kinder und Jugendliche in sogenannten Waisenhäusern. Ihre Eltern sind in den Wirren des Krieges verstorben oder verschollen. Gerhild Gierschner nimmt sich ihrer an. Mit fürsorglicher Liebe begegnet sie den vielen Schicksalen und bereitet die jungen Menschen auf ihr Leben vor. Für Frau Gierschner ist ihr Wirken mehr Konfession denn Profession, sie ist erfüllt von ihrer Arbeit und beseelt von dem Gedanken, dass künftige Generationen es einfacher im Leben haben sollen als sie und ihre Freundinnen, Freunde und Familien es während der nationalsozialistischen Terrordiktatur hatten.
Ihr erster Arbeitstag im Jahr 1959 beginnt damit, dass sie an der Tür des Kinderheims am Schölerberg klingelt. Geöffnet wird ihr die Tür durch einen jungen Mann, der trotz seiner fast abgeschlossenen Ausbildung zum Sparkassenkaufmann mit seinen 19 Jahren noch nicht geschäftsfähig ist, da das Volljährigkeitsalter in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später durch die sozialliberale Koalition von 21 auf 18 Jahre gesenkt wird. Dieser junge Mann, der Frau Gierschner die Tür öffnet, ist Helmut Wessling. Er ist ein gescheiter Mann in den Endzügen seiner beruflichen Ausbildung und zeigt Frau Gierschner ihren neuen Arbeitsplatz.
Weit bevor die Hattie-Studie im Jahr 2009 belegte, dass Bildung und Erziehung entscheidend von der Beziehung von Lehrern und Erziehern zu ihren Schutzbefohlenen abhängen, machte sich Frau Gierschner eben unter Berücksichtigung dieser pädagogischen Erkenntnis an ihre Arbeit. Sie sorgte nicht nur dafür, dass die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen auf ein Leben auf eigenen Füßen vorbereitet werden konnten. Sie nutzte den Volkssport Fußball dafür, dass den jungen Menschen Freude an Bewegung sowie Werte wie Toleranz, Kameradschaft und Fairness auch abseits des manchmal tristen Alltags in einem Waisenhaus vermittelt wurden. Freizeitangebote waren bis spät in die 1960er Jahre in Westdeutschland Mangelware, in der bleiernen Zeit machten auch ehemalige Nazis in Politik und Wirtschaft Karriere, der Fußballplatz war nicht selten der einzige Ort, an dem die Menschen der Wirtschaftswunderjahre Freude und Ablenkung erfahren konnten. Die Bundesrepublik war auf dem Papier eine Demokratie. Doch bis sie endgültig eine werden konnte, zogen viele Jahre ins Land. Die Spiegel-Affäre im Jahr 1962 und die Zeit der außerparlamentarischen Opposition Ende der 1960er Jahre wurden zu Bewährungsproben des noch jungen Staates. Erst am 31. Oktober 1970 hob der DFB das Verbot des Frauenfußballs auf. Frau Gierschner hatte da schon längst mit ihren Kindern regelmäßig Fußball gespielt. Ihre Position: Torhüterin. Die gleiche Position, die Andreas Burose einst beim VfL Osnabrück während der goldenen Jahre der Nordmeistermannschaft bekleidete, die fünfmal in Folge an der Aufstiegsrunde zur ersten Bundesliga teilnahm. Burose war im Hauptberuf Gärtner bei der Stadt Osnabrück und erhielt deswegen von den Fans den liebevollen Spitznamen „Pflanzer“. Für Gerhild Gierschner ist er bis heute einer ihrer Lieblingsspieler in ihrer über 80 Jahre währenden Verbundenheit zum VfL Osnabrück.
Frau Gierschner besuchte auch die Partie am 8. Juni 1969 nicht alleine. In ihrer Begleitung befanden sich schon damals Kinder und Jugendliche aus dem Waisenhaus. Unzähligen jungen Menschen impfte sie den VfL-Virus ein und begeisterte sie für die Kicker in Lila und Weiß.
1971 suchte der VfL Osnabrück einen neuen Schatzmeister und fand ihn in Helmut Wessling. Eben jener Helmut Wessling, der 12 Jahre zuvor Gerhild Gierschner die Tür im Kinderheim geöffnet hatte. In diesen Jahren hatte Wessling es bis zum Direktor der Stadtsparkasse Osnabrück gebracht. Mehr als ein Vierteljahrhundert, nämlich bis ins Jahr 1996 und dem Rücktritt von Hartwig Piepenbrock als Präsident und Mäzen des VfL Osnabrück, regelte Wessling die Finanzen des Vereins. Und wie Gerhild Gierschner hatte auch Helmut Wessling nicht vergessen, woher er kam und wer einen Anteil an seinem späteren Lebensweg hatte. Schon bald sorgte er dafür, dass Gerhild Gierschner mit ihren Kindern ins Stadion kam. Schon bald fiel bei nahezu jedem Heimspiel der geflügelte Satz beim Ordnungsdienst: „Da kommt Tante Gerhild mit den Kindern“. Selbst bei restlos ausverkauften Partien sorgte Wessling dafür, dass seine ehemalige Erzieherin mit den Waisen dem jeweiligen Spiel beiwohnen konnte. Bis weit in die 90er Jahre und ihrem Eintritt ins Rentenalter hinein, begleitete Gerhild Gierschner Kinder und Jugendliche zum VfL und verschaffte ihnen gemeinsam mit Helmut Wessling ein paar Stunden der Freude. Aus Liebe zum Spiel. Aus Liebe zum VfL. Aus Liebe zu ihren Schutzbefohlenen.
Anfang des Jahres 2023 wurde das Löwenpudelkuratorium auf die Geschichte von Frau Gierschner aufmerksam gemacht. Anke Busiek arbeitet als Podologin in Bad Iburg und ist wie ihre gesamte Familie leidenschaftliche Anhängerin des VfL Osnabrück. Seit einigen Jahren wohnt Frau Gierschner in einem Seniorenheim in der westfälischen Gemeinde Lienen.Anke Busiek ist regelmäßig in dieser Einrichtung tätig und hat die Geschichte von Gerhild Gierschner unserem Kuratorium erzählt. Am 25. März 2023 durften wir Frau Gierschner kennenlernen. Sie freute sich über unseren Besuch, stellte aber gleichzeitig klar, dass wir „aber erstmal das VfL-Spiel“ mit ihr zu gucken hätten. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits die Vorberichterstattung im NDR zum Auftritt der Mannschaft von Tobias Schweinsteiger bei Waldhof Mannheim. Gemeinsam mit Frau Gierschner bejubelten wir einen souveränen 2:0-Auswärtssieg beim bis dato heimstärksten Team der 3. Liga. Ganz besonders freute sich Frau Gierschner darüber, dass ihr aktueller Lieblingsspieler Chance Simakala die Lilahemden in Minute 21 in Führung brachte. Nach Spielende erzählte uns Frau Gierschner ihre Geschichte: die Geschichte einer Frau, die weit vor Begriffen wie Emanzipation, Gleichberechtigung von Frauen und Männern und der aktiven Teilnahme von Frauen am Fußballsport in Deutschland begann und die ihrerseits als alleinerziehende Mutter eines Sohnes mindestens eine lokale Pionierin zur Verwirklichung dieser Ziele wurde. Eben eine Pionierin wie Elisabeth Selbert, die im Parlamentarischen Rat als eine der wenigen „Mütter des Grundgesetzes“ den Artikel 3 des Grundgesetzes „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“ gegen zum Teil erbitterten Widerstand ihrer männlichen Kollegen durchsetzte.
Frau Gierschner ist inzwischen 91 Jahre alt und auf eine Gehhilfe angewiesen. Auf ihrem Rollator befinden sich Aufkleber der Violet Crew, die ihr vonAnke Busiek schon vor Jahren mitgebracht worden waren. Bis zum heutigen Tage fiebert sie bei VfL-Spielen mit. Bis zum heutigen Tag ist sie eine aufrechte und engagierte Demokratin, die auch keine politische Diskussion mit ihren Mitbewohnern scheut, falls diese das dritte Reich zu verklären versuchen. Bis heute hat sie sich das bewahrt, was ihr als Kind von ihren Eltern vermittelt wurde: das Eintreten für ein gesellschaftliches Miteinander, geprägt von Empathie, Toleranz und Respekt.
Wir haben dem VfL Osnabrück die Geschichte von Frau Gierschner erzählt. Auch Helmut Wessling konnten wir sprechen, der sich ebenso freudig an seine Erzieherin erinnerte und ins Schwärmen geriet. Gegen die SV Elversberg war Frau Gierschner das erste Mal seit fast 25 Jahren wieder zu Gast an der Bremer Brücke. Alle VfLer um uns herum auf der Südtribüne waren begeistert von dieser Frau und ihrer Geschichte, ihrem beispiellosen Engagement für Menschen, die es nicht einfach im Leben hatten und denen sie ihre Liebe zum VfL Osnabrück vermittelt und sie selbst zu Fans hat werden lassen.
Gerhild Gierschner hat Zeit ihres Lebens keine einzige Minute für den VfL Osnabrück gespielt.Aber sie hat wahrscheinlich im Stillen mehr Jubelschreie und Tränen der Freude bei vielen Mitmenschen zu verantworten, als wir uns denken können. Gerhild Gierschner wurden Türen geöffnet und sie hat vielen anderen Menschen Türen und Tore geöffnet. Vor allem die Tore zum Stadion an der Bremer Brücke.
Wir verneigen uns im Namen aller VfLerinnen und VfLer vor Gerhild Gierschner und verleihen ihr den „Löwenpudel der Saison 2022/23“.
Das Löwenpudel-Kuratorium zu Osnabrück im Mai 2023