In Bramsche geborene Jüdin wird heute 90 Jahre alt

Ingeborg Voss ist 90

Am 28. Juli 1933 kam in Bramsche Ingeborg Voss zur Welt. Die Tochter des jüdischen Viehhändlers Ernst Voss und seiner Frau Ida wuchs in dem Torlageschen Haus am Otterkamp 7 zusammen mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Erwin auf. Doch durch die immer drastischer werdenden Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die Juden sah die Familie keinen anderen Ausweg mehr als zu flüchten.

Ingeborg Voss war gerade vier Jahre jung als sie ihre Freundinnen in Bramsche verlassen musste und im Oktober 1937 nach einer mehrwöchigen Schiffsreise in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires an Land ging. Vor ihnen lagen weitere 300 Kilometer, bevor sie in Basavilbaso, einer Stadt mit damals knapp 6.000 Einwohnern in einer landwirtschaftlich geprägten jüdischen Kolonie im Norden Argentiniens ein neues Leben beginnen konnten. Ihre vergleichsweise komfortable Mietwohnung in der Stadt Bramsche mussten sie mit einem provisorisch gestalteten 2-Raum-Putzbau in der einsamen Landschaft Argentiniens tauschen, den sie auch noch mit der Familie ihres Onkels Carl Meyer teilen mussten.


Neuanfang in Argentinien

Die Eltern mussten hart arbeiten auf dem Felde, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen und um das Darlehen für Land, Vieh und Maschinen abzahlen zu können. Ingeborg und ihr Bruder wuchsen in einer Umgebung auf, deren Sprache sie erlernen mussten und deren Kultur sie in dieser Form bisher aus Bramsche nicht kannten. Auch für sie war es trotz kindlicher Neugier auf das Neue schwer, sich in dem fremden Land zurecht zu finden. Die Familie Voss hielt es nicht lange in der Provinz: Bereits Anfang der 1940er Jahre zog die Familie in die Hauptstadt Buenos Aires.


Berufsleben und Familie

Während die Eltern verschiedene Arbeiten annahmen, um Geld zu verdienen, wussten sie die Kinder in einem jüdischen Kinderheim gut aufgehoben. Erwin machte danach eine Optikerlehre und machte sich später mit wegweisenden Erfindungen über Südamerika hinaus einen Namen. Seine Schwester Ingeborg lernte nach ihrer Schulzeit Schreibmaschine schreiben und Kurzschrift. Bereits im Alter von 14 Jahren begann sie, in einer Schraubenfabrik im Büro zu arbeiten. 1957 heiratete sie, wenige Jahre später wurden die Kinder Silvia und Claudia geboren. Den Kontakt zu ihrem Arbeitgeber hielt sie aufrecht, so dass sie später, als die Kinder älter waren, dort wieder arbeiten konnte. Die letzten Jahre ihres Berufslebens arbeitete sie dann in der Firma ihres Bruders.

Erwin und Ingeborg (jeweils eingekreist) im Jüdischen Kinderheim in Buenos Aires (Foto: VossMeyer Veteranos Sammlung Przygode)Erwin und Ingeborg (jeweils eingekreist) im Jüdischen Kinderheim in Buenos Aires (Foto: VossMeyer Veteranos Sammlung Przygode)

2011: Treffen in Buenos Aires

2011 hatte ich bei meinem Besuch in Buenos Aires Gelegenheit, Ines, wie sie von der Familie und von Freunden genannt wird, persönlich kennenzulernen. Sie wohnte in einem Appartement im Stadtteil Belgrano, der im Norden der Hauptstadt liegt und als Wohnviertel der gehobenen Mittelschicht gilt. Viele Deutsche haben sich dort angesiedelt. „Schön, dich zu sehen“, begrüßt sie mich in bestem Deutsch. Sie habe nie Deutsch in der Schule gelernt, aber ihre Eltern hätten stets Deutsch mit ihr gesprochen. Wir kommen an dem Gebäude vorbei, in dem ihre Eltern einst ein Café betrieben haben und landen schließlich vor dem ehemaligen jüdischen Kinderheim. Früher sei es eine Art Internat gewesen, erzählt Ingeborg. „Unsere Eltern haben wir nur an den Wochenenden gesehen, unter der Woche kaum, weil sie dann wegen ihrer Arbeit keine Zeit hatten.“ In der Unterhaltung mit ihr war eine überraschende Vertrautheit zu spüren, obwohl wir uns bis dahin nur aus den wenigen Briefen kannten. „Reisen unternehme ich nicht mehr“, erklärte sie mir zum Abschluss unseres Treffens, als ich sie darauf ansprach, ob sie nicht einmal ihre Geburtsstadt Bramsche besuchen möchte. Auch wenn Ingeborg Voss 1956 durch Wiedereinbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangt hat, die ihr und vielen anderen von den Nazis wegen der Flucht aberkannt worden war, bekennt sie, dass Argentinien zu ihrer neuen Heimat geworden ist.

Erwin und Ingeborg Voss 2011 in Buenos Aires (Foto: Dieter Przygode)Erwin und Ingeborg Voss 2011 in Buenos Aires (Foto: Dieter Przygode)

Lebensabend in der Seniorenresidenz

Ingeborg Voss lebt heute in einer Seniorenresidenz in der Nähe von Belgrano. Am Freitag feiert sie dort ihren 90. Geburtstag im Kreise ihrer Familie. Tochter Silvia, die in Buenos Aires wohnt, wird selbstverständlich ebenso da sein wie ihre jüngste Tochter Claudia, die aus Los Angeles angereist ist. Auch in ihrer Geburtsstadt Bramsche ist Ingeborg Voss nicht vergessen, denn Bürgermeister Heiner Pahlmann wird ihre eine Glückwunschbotschaft zu ihrem Ehrentag senden.

Herzlichen Glückwunsch und Mazel Tov!

Übrigens: von den vor 1945 ehemals im Osnabrücker Land lebenden jüdischen Menschen dürfte Ingeborg Voss die einzige Überlebende sein.


Titelfotos:
Ingeborg Voss ca. 1936 als kleines Mädchen in Bramsche (Foto: VossMeyer Veteranos Sammlung Przygode)
Ingeborg Voss in der Seniorenresidenz Residencia del Arce in Buenos Aires (Foto: Familie Cohen)


Cover des Buches Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss (Foto: Hentrich & Hentrich Berlin / Leipzig)

Die Lebensgeschichte von ihr und ihrer Familie ist in dem im Hentrich & Hentrich Verlag erschienenen Buch Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss veröffentlicht worden.

 

 

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