Am Ende gab es Gammelfleisch aus der Fußballhölle
Siegen oder fliegen! Die Debatte im Oldschool-TP vor dem Kellerduell gegen Eintracht Braunschweig strahlte die dramatisch zugespitzte Atmosphäre eines Italo-Westerns aus. Am Samstag um 13.00 Uhr war High Noon im ehemaligen Zonenrandgebiet. Wären die Beiträge im VfL-Forum musikalisch untermalt worden, hätte man aus der Ferne eine Mundharmonika erahnen können, auf der im gleißenden Sonnenlicht mit letzter Kraft „Spiel mir das Lied vom Tod“ gehaucht wird.
Die Regieanweisungen aus dem Oldschool-TP waren eindeutig: Dem Schweinsteiger-VfL wurde die simple Logik verordnet, in der die Filmfiguren wie Charles Bronsons handelten. Nach dem auf eine halbe Seite eingedampften Drehbuch, das als Ultimatum verfasst wurde, sollte der VfL in Braunschweig einreiten, die Eintracht sportlich niederstrecken und das Fußballgold der drei Punkte an sich reißen. Ansonsten hätte der Sheriff – Doc Welling gemeinsam mit den Gremien – den Trainer und den Sportdirektor für vogelfrei zu erklären und aus Osnabrück und Umgebung zu verjagen.
Vor der Begegnung mit Braunschweig wurde Schweinsteiger hart im Fanforum kritisiert. Denn er hatte nicht die High Noon-Rhetorik übernommen, nach der nur ein Sieg zählen dürfe. Stattdessen bemühte sich der VfL-Trainer darum, eine positiv motivierende Herangehensweise anzuwenden, die den Druck von seinen Spielern nehmen sollte – nachdem die Lilahemden in den Aufsteigerduellen gegen Elversberg und Wiesbaden verkrampft gewirkt hatten.
So äußerte Schweinsteiger, dass Siegen keine Pflicht sei, sondern der VfL den Anreiz habe, Spiele zu gewinnen. Er wies darauf hin, die Chancen stünden bei 50:50. Daher benannte er als Zielsetzung, dass der VfL die Braunschweiger in jedem Fall auf Abstand halten und im Optimalfall den Vorsprung auf sie vergrößern wolle. Diese Aussage galt vielen im TP als zu kleinmütig, obwohl der VfL-Trainer realistisch die Ausgangslage in der sportlichen Sachwelt beschrieb, was jedoch für etliche VfL-Fans schmerzhafte Wahrheiten über die Chancen auf den Klassenerhalt implizierte: Wahrheiten, die lieber verdrängt und abgewehrt werden.
Ein Auswärtssieg an der „Hamburger Straße“ wäre zwar absolut wünschenswert gewesen – gerade angesichts der prekären Lage im Tabellenkeller -, aber die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Mannschaften sind zu ausgewogen, als dass ein Dreier für den VfL der Normalfall sein könnte. In der Kritik an Schweinsteigers Aussagen drückte sich somit auch ein fehlender Respekt gegenüber dem Gegner aus. Unabhängig davon, was nach der herrschenden Fußballmoral im Oldschool-TP geboten wäre – die Braunschweiger sind nicht so schwach, dass ein VfL, der die Tugenden seines Sports auf den Platz bringt, in jedem Fall gewinnen müsste.
Schweinsteigers Aussage war wie die Gemeinwohlklausel aufgebaut: Er trat nicht als Verbotstrainer auf, der seinen Spielern das Steak des Remis untersagte, vielmehr wollte er ihnen Anreize aufzeigen, dass sie nach dem Tofuschnitzel des Auswärtssiegs greifen. Drei Punkte wären schließlich ein wichtiger Beitrag gewesen, um im Kopf der Spieler dem mentalen Klimawandel zur Abstiegsangst entgegenzutreten. Doch leider trat in der 113. Minute das Worst-Case-Szenario ein, nachdem wegen des Ausfalls der Torraumkamera der VAR den Siegtreffer der Eintracht quälend lange auf Abseits geprüft hatte.
Der Treffer wurde letztendlich gegeben, weil die Entscheidung des Schiedsrichters anhand der verfügbaren TV-Bilder nicht widerlegt werden konnte. So bekam der VfL weder Steak noch Tofuschnitzel, sondern Gammelfleisch aus der Schlachterei der Fußballhölle, das allen Lila-Weißen jetzt schwer im Magen liegt. Erst im Heimspiel gegen Kaiserslautern, dann an der „Brücke“ gegen Kiel und nun in Braunschweig: Wieder verdarb ein übler Treffer in der Nachspielzeit dem VfL gewaltig den Ergebnisgenuss. Nach dem 2:3-Schock wird es jetzt noch herausfordernder werden, die Lilahemden auf dem Pfad des Glaubens an den Klassenverbleib zu halten.
Das VfL-Spiel verlief sehr enttäuschend. Das Team mit den drei Rauten auf der Brust kam schlecht in die Partie hinein, wobei zu erwähnen ist, dass Braunschweig keineswegs desolat auftrat, anders als vor dem Anpfiff im digitalen Fanforum teilweise mit apodiktischer Gewissheit vorausgesagt wurde. Beermann, der letzte Woche als Chef der Dreierkette dem VfL defensiv viel Sicherheit gab, musste wegen einer Verletzung nach zehn Minuten raus. Dieser erzwungene Personaltausch auf einer Schlüsselposition war ein früher Nachteil, den der VfL erlitt.
Bezeichnend, dass Beermanns Ersatz – Gyamfi – kurz nach seiner Einwechslung zu spät in den Zweikampf mit dem quirligen Gomez kam, wodurch der Eintracht-Stürmer zum 0:1 einnetzen konnte. Danach trat der VfL organisierter auf, weshalb er Kontrollverluste für eine längere Phase vermied. Aber offensiv war er zu ideenlos, um das Tor der Eintracht zu gefährden.
Doch dann leistete der Gegner in der Nachspielzeit der ersten Hälfte eine tollpatschige Beihilfe. Als wäre sein zweiter Vorname Goofy, rannte der BTSV-Torhüter Hoffmann Kleinhansl im Strafraum um. Cuisance verwandelte den fälligen Elfmeter sicher, danach hätte der VfL aber noch vor dem Pausenpfiff fast das 1:2 kassiert, weil er in der 45. + 6 Minute und in der 45. + 8 Minute defensiv so ungeordnet war, als wäre die Mannschaftsküche zu einem Gemeinschaftsraum unbelehrbarer Messies geworden.
Nach der Pause hatte der VfL die Spielkontrolle übernommen, bis er eine fragwürdige gelb-rote Karte bekam. Kaufmanns Drecksackmentalität einerseits und Cuisance fehlende Cleverness in dieser Situation andererseits ergaben eine für den VfL unheilvolle Melange, so dass der VfLer vom Platz musste, weil er angeblich die Ausführung des Strafstoßes blockiert hatte Dabei hätte das brutale Foul, das Bicakcic acht Minuten zuvor verübt hatte, nämlich seine rücksichtslos gegenüber Cuisances Gesundheit angesetzte Beinschere, wirklich einen Feldverweis verdient gehabt.
Typisch für den VfL-Auftritt am Samstag war, dass es ausgerechnet Bicakcic war, der den sehr späten Siegtreffer erzielte. Es greift jedoch zu kurz, wenn die unglückliche Niederlage an der „Hamburger Straße“ nur mit äußeren Umständen erklärt würde, etwa mit Beermanns Verletzung und mit den fragwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters. Denn der VfL machte zu viele individuelle Fehler, um in Braunschweig zu punkten. Während Tesche in der letzten Saison noch der Unterschiedsspieler war, der den VfL zum Aufstieg führte, zeigt er in der zweiten Liga überraschende Blackouts. So war es sein verheerender Ballverlust, der das 1:2 einleitete.
Der VfL belohnte sich kurzfristig für seine Moral, die er nach dem Platzverweis und dem erneuten Rückstand zeigte. Der Handelfmeter gegen den BTSV kurz vor dem Ablauf der regulären Spielzeit war zwar etwas glücklich für den VfL, weil dem Braunschweiger aus kurzer Distanz in einer natürlichen Drehbewegung der Ball gegen den Arm klatschte. Aber der Pfiff war bei aller Absurdität regelkonform. Nach dem zweiten verwandelten Strafstoß hätte sich der VfL zumindest das Steak des Unentschiedens sichern müssen. Er bekam aber das Gammelfleisch der Auswärtspleite, indem noch das 2:3 fiel – und das nach dem bekannten Fehlermuster: nach einem Einwurf und einem verlorenen zweiten Ball.
Das Geschrei nach dem 2:3 war im Oldschool-TP groß, wenig überraschend nach der emotionsgetriebenen Debatte um Schweinsteigers Aussage vor dem Spiel. Quälend lange Stunden der Abrechnung begannen mit dem Schlusspfiff in Braunschweig. Im Online-Forum für VfL-Fans fanden regelrechte „XYZ raus!“-Forderungsorgien statt.
Eine fußballpopulistische „Law and Order“-Fraktion gab den Ton an, die gnadenlos die Gesetzmäßigkeiten der Fußballbranche exekutieren möchte. Als unverzeihliche Schwäche gilt dagegen eine akzeptierende Krisenarbeit: Ein Ansatz, der den Bewältigungsstrategien des Trainers vertraut, also darauf setzt, dass Schweinsteiger seine Ressourcen aktiviert, etwa seine Fähigkeit zur Mannschaftsführung, um die Mentalitätsprobleme seiner Spieler in den Griff zu bekommen. Wer Schweinsteiger rausschmeißen will, blendet zudem aus, dass eine besondere Eigenschaft des Trainers noch zu einem Trumpf im Abstiegskampf werden könnte, nämlich sein theoretisches Fußballverständnis, das ein tucheleskes Kompetenzniveau hat. Fazit: Der Oldschool-TP frisst seine Aufstiegshelden, als ob die aktionistische Problemlösung ein Allheilmittel wäre.
Der VfL ist noch nicht abgestiegen. Aber er kann den Klassenerhalt nur schaffen, wenn der Kader als Einheit auftritt. Dafür müssen sich alle Spieler positiv in die Gruppe einbringen, auch diejenigen, die mit ihrer aktuellen Rolle unzufrieden sind, etwa weil sie im Konflikt mit ihrem Selbstbild nur Ergänzungsspieler sind. Leider gehen jedoch einige nicht konstruktiv mit ihrem Frust um, sondern agieren anscheinend als Stinkstiefel. Dass Schweinsteiger diese Mentalitätsprobleme öffentlich macht, ist ein Alarmzeichen – zumal im Sommer bei der Auswahl der neuen Spieler die Persönlichkeit ein wichtiges Kriterium gewesen sein soll.
Es gibt etwas, das sogar noch nerviger ist als die Niederlagen, die Egoisten im Kader und die „Schweinsteiger raus“-Forderungsorgien. Gemeint ist das schlimme Verhalten der Wutfans, deren populistische Appelle nicht nur auf den Sturz des Trainers und des Sportdirektors beschränkt sind, sondern die Wertestruktur beim VfL gleich mitentsorgen wollen: die Enkeltauglichkeit also, die für ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Teilhabe, soziale Inklusion und Diversität steht. Es ist ein besonders widerlicher Populismus, der einen Gegensatz zwischen einem „gesunden“ Fanwillen einerseits und einem angeblichen VfL-Establishment andererseits konstruieren möchte, das mit vermeintlich fußballkulturfernen Ansprüchen die Verfolgung sportlicher Ambitionen grob vernachlässigen würde.
Wie absurd die geifernden Behauptungen dieser Wutfans sind, offenbart ein Blick zum DFB. Denn die Flickinger im DFB-Dress stürzten in ihrer Leistung erst dann richtig ab, als der Kapitän wieder den schwarz-rot-goldenen Stofffetzen trug – und das, obwohl doch die „One Love“-Binde schuld am WM-Desaster sein sollte. Wenn es beim VfL wirklich „Totalversager“ gibt, dann sind es diese Wutfans mit ihrem populistischen Rechtsdrall, weil sie in der Debatte um den VfL jegliche zivilgesellschaftlichen Grundtugenden vermissen lassen.
Dazu Kallas Einwurf von heute mit dem Autor dieses Artikels, Frank Schneider, sowie Hauke Peinz und Jascha Alteruthemeyer. Und am Donnerstag der VfL-Podcast mit derselben Besetzung.