Versuch einer Darstellung und Würdigung seines Werkes
(Vierter von fünf Teilen)
Kants Ethik aus dem Geist der Vernunft
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (IV. 300) Mit diesem für Kant ganz untypischen Anfall von Pathos eröffnet er den „Beschluss“ seiner 1788 publizierten Kritik der praktischen Vernunft. Die Gesetze der Natur können wir entdecken, die Gesetze der Moral müssen wir erfinden. Beides ist eine Aufgabe der Vernunft. Einmal als erkennende, das andere Mal als gesetzgebende Instanz.
Die Gesetze der Moral sind Vorschriften unseres Wollens und die ergeben sich aus dem, was die praktische Vernunft gebietet, was wir tun sollen. Das zu begründen ist die Aufgabe der praktischen Philosophie. Sie ist das Herzstück seines gesamten Werkes. Zwar wurde Kant durch die Kritik der reinen Vernunft berühmt, ihre Erarbeitung verschlang einen großen Teil seiner Lebenszeit, aber das philosophische Ziel war sie nicht. Das lag in der Beantwortung der Frage, was sollen wir tun?
„Im Innern ist ein Universum auch“ nannte es Goethe. Mit der ihm eigenen Schärfe der Begrifflichkeiten entfaltet Kant eine Morallehre, die einer Analyse dieses Universums gleicht. Vielen ist sie zwar in ihrer Kurzform durch den „kategorischen Imperativ“ bekannt, aber selten mit der umfangreichen Begründung zur Kenntnis genommen worden.
Da nun auch diese zweite seiner drei großen „Kritiken“ nicht nur für heutige LeserInnen keine leichte Kost darstellt, er aber so freundlich war, eine etwas genüsslichere Speise 1785 vorab in einer kleineren Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu servieren, erfolgt die Darstellung der analytischen Begründung der Kantschen „Pflichtethik“ exklusiv auf der Basis dieses Textes. Denn hier finden sich alle Momente, welche „bereits die neue Lehre in allen Grundzügen verkündet.“ (Vorländer, I. 29)
Doch bevor wir uns dem Text zuwenden, bedarf es einer Erinnerung und Vorbemerkung. Im ersten Teil wurde erwähnt, dass zu Beginn der 1860er Jahre die Lektüre des Emile oder über die Erziehung von Jean-Jacques Rousseau Kant zu einer völlig anderen Einstellung zum Menschen geführt habe. So wie Newton sein Führer durch die physische Welt wurde, wurde mit dem Emile und dem Contrat social Rousseau zu seinem Führer durch die sittliche Welt. Zwei Erkenntnisse Rousseaus prägten Kant: die Idee der Gleichheit aller Menschen und die natürliche Güte des Menschen (statt der christlichen Erbsündenlehre).
Rousseaus Problem im Contrat Social mit der Frage, wie die ursprüngliche Freiheit des Menschen, der frei geboren, doch überall in Ketten liegt – wie es in der Eröffnung dieses Werkes heißt – in einem das politische Gemeinwesen konstituierenden Vertrag als Akt der Selbstregierung freiwillig vollzogen und doch die Freiheit der Einzelnen gewahrt werden kann, taucht in Kants Ethik in der Form auf, wie das autonome Individuum sich selbst als Gesetzgeber einer allgemeinen Regel unterwerfen kann, die seine Freiheit bewahrt. Kant blieb in der Frage, ob die ersten Gründe der Sittlichkeit dem Erkenntnisvermögen oder dem Gefühl entsprangen, zwar indifferent (Burg, 244), aber für die Entfaltung der vernünftigen Gründe lässt er die Gefühle auf sich beruhen.
Die Revolution in Kants Moralphilosophie lässt sich am Begriff „Sitte“ veranschaulichen. Darunter versteht man umgangssprachlich etwas „Übliches“, das was eben „bei uns so Sitte“ ist und keiner besonderen Begründung bedarf und wofür es außer, dass es Tradition oder eben „üblich“ ist, auch keine gibt. Sitte wird bei Kant aber als „Sittengesetz“ zu einem Gebot, dass sich allein aus der reinen Vernunft herleitet und dem das autonome Individuum kraft Einsicht als Pflicht folgt. Wie sich das begründen lässt und welche Konsequenzen das hat, ist Inhalt und Gegenstand der praktischen Philosophie.
Der disziplinäre Ort der praktischen Philosophie
Zunächst geht es um die systematische Zuweisung dieser praktischen Philosophie in Kants Ordnungsgefüge. Er knüpft an der Dreiteilung der Wissenschaft seit der Antike an. Sie unterscheidet zwischen Physik, Ethik und Logik. Weiter wird alle Vernunfterkenntnis in eine materiale und formale unterschieden. Während die materiale stets irgendein Objekt betrachtet, widmet sich die formale Vernunfterkenntnis unter Ausblendung aller Objekte den „allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt“, also den Formen des Verstandes und der Vernunft selbst. (IV. 11) Diese formale Seite der Philosophie ist die Logik, die materiale aber, die es mit konkreten Objekten und ihren Gesetzen zu tun hat, zerfällt je nach Art dieser Gesetze in zwei Teile. „Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit.“ (IV. 11) Jene Wissenschaft, die sich mit den Gesetzen der Natur beschäftigt, heißt die Naturlehre oder Physik, diese, die sich mit der Freiheit beschäftigt, die Sittenlehre oder Ethik.
Im Unterschied zur Logik, die sich mit den allgemeinen und notwendigen Gesetzen des richtigen Denkens beschäftigt und somit keinen empirischen Teil haben kann, da sie sonst keine Logik, jedenfalls im Kantschen Sinne, mehr wäre, kommt der Physik und der Ethik ein solcher empirischer Teil zu. Was bei der Physik unmittelbar einleuchtet, da sie doch die Gesetze zu erkennen hat nach denen die Natur funktioniert, das erfährt bei der Ethik die zunächst überraschende Vorschrift, dass es hier um jene Gesetze gehe, nach denen alles geschehen soll. Wie, so stellt sich sofort die Frage, kann es sein, dass die Freiheit die Sphäre der Ethik ist und zugleich analog der empirischen Gesetzeserkenntnis der Physik behandelt wird? Aber so gestellt ist die Frage etwas voreilig. Philosophie, die auf Gründen der Erfahrung beruht, nennt Kant empirisch. Diese unterscheidet sich von der reinen Philosophie, die auf Prinzipien a priori beruht, d.h. unabhängig aller Erfahrung ist. Soweit diese Prinzipien bloß formaler Art sind gehören sie zur Logik. Ist diese reine Philosophie aber nicht eine rein formale, sondern auf „bestimmte Gegenstände des Verstandes eingeschränkt, so heißt sie Metaphysik“ (IV. 12) Neben einer Metaphysik der Natur haben wir nun auch eine Metaphysik der Sitten, der wir im dritten Teil dieser Darstellung am Beispiel der Staats- und Rechtslehre schon begegneten.
Das Sein und das Sollen
In der Kritik der reinen Vernunft werden der Vernunft durch die Erfahrung Grenzen gesetzt. In der praktischen Philosophie erlangt sie dagegen die unbeschränkte Herrschaft als die Gesetzgeberin. Hier ist die unterstellte Freiheit des Menschen der Ausgang und nicht irgendeine empirische Erkenntnis der menschlichen Natur oder der praktischen Anthropologie. Wenn sich die Moral allein daran orientieren wollte, wie der Mensch von „Natur“ aus ist, dann bräuchte man eigentlich keine Morallehren. Ganz abgesehen davon, ob es eine solche Natur des Menschen überhaupt gibt, wäre Moral aus dem Reich des Sollens entlassen in ein Reich des Seins. Moral wäre dann, was der Mensch seiner zugeschriebenen Natur nach zu sein scheint, oder was jeweils in einer gegebenen Kultur oder Gesellschaft als faktische Moral gilt. Damit ist Kant nicht zufrieden. Die Formel, man müsse die Menschen nehmen wie sie eben sind, heiße nur: „wozu wir sie durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand gegebene, Anschläge gemacht haben, nämlich halsstarrig, zur Empörung geneigt“. (VI. 352)
Ein Blick nach England könnte als Bestätigung dienen. Dort feierte im 18. Jahrhundert der Utilitarismus seinen Siegeszug. Er ging davon aus, dass die Menschen in ihrem Leben nach dem größtmöglichen Nutzen strebten, der in der Summe im größtmöglichen Glück bestand. Da aber im Unterschied zur antiken Ethik, insbesondere der Platons und Aristoteles‘, es keine allgemeine Vorstellung davon gab, was das „gute Leben“ und das darin sich ausdrückende Glück sei, sondern dieses höchste Gut und Ziel ganz der inhaltlichen Füllung durch die handelnden Subjekte überwiesen wurde, wurde schon bei der Definition des Glücks jede und jeder „seines Glückes Schmied“. Auf die Gemeinschaft bezogen, bestand dann das ethische Ziel in der Erreichung des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“. In der reinsten Form wurde diese Lehre von Jeremy Bentham (1748 – 1832) formuliert.
Der Erfolg dieses Utilitarismus galt als Beleg dafür, dass er der Natur des Menschen entspreche. Aber anders betrachtet könnte er auch als das normative Programm gewertet werden, das die Menschen dahin bringt, sich den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Erwartungen und Anforderungen entsprechend so zu verhalten, wie diese es erfordern. Also erfindet man eine konstante menschliche Natur, die als Sein das erfüllt, was sein soll. So wurde aus dem historisch-gesellschaftlich entstandenen seinen Nutzen maximierenden modernen Bürger der Mensch an sich.
Die Forderung, man solle die Menschen so nehmen, wie sie nun mal seien, taugt auch deshalb nicht, weil man damit auch jegliches Unrecht, welches die Menschen begehen, legitimieren könnte. Schon die Zehn Gebote des Alten Testamentes sind nicht zufällig Sollbestimmungen, sie fordern von den Menschen etwas, was gelten soll, aber durch die menschliche Natur nicht garantiert ist. Was nach Kant die praktische Philosophie leisten muss, ist somit die Entwicklung einer reinen Moralphilosophie, die uns Antwort auf die Frage gibt: Was soll ich tun?
Eine Antwort darauf bietet sich für Kant aus der Idee der Pflicht und des Sittengesetzes an. Wenn es das Ziel der Ethik ist, moralisch verbindliche Regeln oder Gesetze zu entwickeln, dann können diese nicht aus der Erfahrung gewonnen werden, sie müssen vielmehr, wenn sie strenge Verbindlichkeit und Gültigkeit beanspruchen wollen, aus Begriffen der reinen Vernunft a priori, d.h. jenseits aller Erfahrungstatsachen entwickelt werden. Nur so können sie den Anspruch moralischer Gesetze erfüllen, andernfalls sind es lediglich praktische Regeln der Lebensklugheit.
Eine so verstandene Moralphilosophie, die nicht von empirischen Erkenntnissen über das „Wesen des Menschen“ ausgeht, setzt allerdings den Menschen als vernünftiges Wesen voraus. Dass Kant diese Gesetze übrigens nicht allein für den Menschen als vernünftiges Wesen, sondern für alle vernünftigen Wesen schlechthin entwickelt, erklärt sich aus der einfachen Tatsache, dass er zutiefst davon überzeugt war, auf anderen Planeten würden sich ebenfalls vernünftige Wesen befinden.
Die so entwickelten Gesetze a priori erfordern dann aber doch eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft, damit unterschieden werden kann, in welchen Fällen sie zur Anwendung kommen und so Eingang in den Willen finden. Denn dieser wird durch eine Vielzahl von Neigungen „affiziert“, so dass der Mensch zwar der Idee einer praktischen reinen Vernunft fähig ist, aber sie eben deshalb noch nicht in seinem Leben verwirklicht. Kant benutzt hierfür die Metapher, der Mensch sei aus einen so „krummen Holz“ geschnitzt, dass daraus kaum etwas Gerades werden könne.
Die Notwendigkeit einer so verstandenen Metaphysik der Sitten ergibt sich für Kant auch daraus, dass die empirischen Sitten „allerlei Verderbnis unterworfen bleiben“ (IV. 14), wenn nicht eine oberste Norm zur richtigen Beurteilung gefunden wird. Es reicht nicht aus, dass das moralisch Gute dem Sittengesetz gemäß ist, es muss diesem vielmehr vorgeordnet werden. „Denn die Metaphysik der Sitten soll die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens untersuchen, und nicht die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens überhaupt, welche größtenteils aus der Psychologie geschöpft werden.“ (IV. 15) Wir haben bis hierher eine der Kritik der reinen Vernunft folgende abstrakte Begründung für Kants Methode für die Entwicklung einer Ethik. Wie nun „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (IV. 16) bei Kant entwickelt wird, ist nun zu rekonstruieren.
Das Postulat der Willensfreiheit und seiner Güte
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könne gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (IV. 18) Keine menschliche Handlung, so edel sie auch erscheinen mag, gilt für sich als gut, wenn sie sich nicht aus einem guten Willen ergibt. Der zum Ausgangspunkt gesetzte gute Wille zeigt sich nicht durch das, was er bewirkt oder durch das Erreichen eines Zweckes, er ist allein durch das Wollen an sich. Der so verstandene gute Wille ist ein Wert an sich, der auch dann wie ein „Juwel glänzt“, wenn widrige Umstände, das Schicksal oder mangelndes Vermögen ihn hindern sich durchzusetzen.
Weder natürliche Anlagen noch Instinkte begründen die moralischen Prinzipien und auch die Vernunft kann nicht als ein Mittel zur Erlangung von Gütern wie die Glückseligkeit angesehen werden. Die Vernunft ist ein dem Menschen eingepflanztes praktisches Vermögen, das Einfluss auf den Willen haben soll. Die Bestimmung der Vernunft ist nicht die eines Mittels, sie hat den guten Willen als Selbstzweck hervorzubringen. Alle anderen Güter wie die Glückseligkeit sind dagegen zweitrangig.
Der gute Wille steht somit obenan und ist der Ausgangspunkt und die Bedingung für alles weitere. Mit dem guten Willen hat es nach Kant nun aber eine seltsam anmutende Bewandtnis. Er wird methodisch a priori gesetzt, er ist aber gleichwohl im „natürlich gesunden Verstande“ schon vorhanden und muss mithin nicht gelehrt, sondern aufgeklärt werden. (IV. 22) Das Neue dieser Ethik liegt weniger in ihren Resultaten, als vielmehr in der Begründung, denn bei allen Differenzen kann sie ihre Herkunft aus dem Protestantismus nicht verleugnen.
Kant versucht nun den Begriff des guten Willens durch den Begriff der Pflicht zu entwickeln. Dieser Zentralbegriff seiner Ethik schließt zunächst solches pflichtgemäße Handeln aus, das nicht aus innerer Neigung zur Pflicht erfolgt. Das lässt sich an Kants Kaufmannsbeispiel erläutern. Zwar handelt ein Kaufmann pflichtgemäß, wenn er seine Ware nicht überteuert und sie zu einem Preis verkauft, der für jedermann gleich ist, aber die Frage ist, ob er nach den Grundsätzen der Ehrlichkeit aus innerer Neigung oder Pflicht oder wegen des Vorteils handelt. Es gilt zu unterscheiden, ob das pflichtgemäße Handeln eine Befolgung von außen gesetzten Auflagen (Konventionen, Sitten, Ansehen etc.) oder einem inneren Bedürfnis entspringt. So kann ein Mensch wohltätig sein, doch dabei in erster Linie seine Eitelkeit befriedigen. Kant schließt daraus als zweiten Grundsatz, dass der moralische Wert der Pflicht nicht von der Absicht abhängt, die damit erreicht werden soll. Der moralische Wert der Pflicht ergibt sich allein aus dem „Prinzip des Wollens“, er liegt „in der Maxime, nach der sie beschlossen wird.“ (IV. 26) Protestanten erkennen hier sogleich die Parallelen zu Martin Luther, denn auch bei ihm zählen zur Erlösung keine guten Werke, sondern nur die innere Einstellung, der Glaube als das alleinige gottgefällige Motiv.
Wenn Absichten und Wirkungen unseren Handlungen keinen moralischen Wert verleihen können, also nicht die guten Taten das moralische Prinzip ausmachen, sondern allein im Prinzip des Willens selbst der moralische Wert begründet liegt, dann muss der Wille von Motiven und Neigungen abgekoppelt werden, die außerhalb dieses Willens liegen. Kant definiert den Willen als Mitte zwischen einem formellen Prinzip a priori und seiner materiellen Triebfeder a posteriori. Gemäß der zuvor formulierten Begründung einer Metaphysik der Sitten kann also auch die Pflicht nur unter Ausblendung aller empirischen Bezüge definiert werden. Daraus folgert Kant den Satz: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ (IV. 26)
Neigungen, so Kant, lassen sich nur billigen, aber nicht achten. Gegenstand der Achtung kann hingegen nur ein bloßes Gesetz sein. Es ist ein Gesetz objektiver Art, das ich mir freiwillig, eben aus Pflicht, mittels meines Bewusstseins als Willen selbst auferlege. Das Gesetz ist die objektive Seite, das den Willen bestimmt und die Achtung die subjektive, genauer die Maxime, d.h. dem Gesetz selbst entgegen meiner Neigungen zu folgen.
Maxime, ebenfalls ein Schlüsselbegriff in Kants Ethik, ist das subjektive Prinzip des Wollens. Das objektive Prinzip ist das praktische Gesetz und dieses ist nun wiederum dasjenige, was unter der Voraussetzung der Vorherrschaft der Vernunft über alle Neigungen und Begehrlichkeiten allen vernünftigen Wesen auch subjektiv als praktisches Prinzip gelten würde. (IV. 27) Indem der gute Wille als Pflicht das objektive Gesetz zum subjektiven macht, wird die Sittlichkeit in den Grund des Handelns und nicht in der Wirkung erkannt.
Nun stellt sich natürlich die entscheidende Frage, welcher Art das Gesetz ist, das meinen Willen als Maxime leiten muss, damit dieser gut genannt werden kann? Wenn der Wille aller subjektiven Antriebe entledigt wird, der Wille also nicht irgendeinem bestimmten Gesetz entspringen soll, dann bleibt statt besonderer Gesetze nur ein allgemeines Gesetz. Der gute Wille kann nur darin bestimmt sein, dass er wollen kann, seine Maxime solle auch ein allgemeines Gesetz werden. (IV. 28) Damit haben wir die erste Andeutung des berühmten kategorischen Imperativs, doch zu dessen vollständiger Entfaltung bedarf es noch einiger Schritte.
Was also kann die Regel sein, die meine Maxime mit einem allgemeinen Gesetz zur Übereinstimmung bringt? Kant demonstriert die Beantwortung dieser Frage zunächst am Lügnerproblem. Eine Frage ist, ob es in bestimmten Situationen klug ist zu lügen. Aber auf der Ebene der Klugheit ist diese Frage schon wegen der oft gar nicht abschätzbaren Folgen nicht endgültig zu beantworten. Die eigentliche Frage ist für Kant, ob man die Lüge zur allgemeinen Regel machen könne und das wird man eindeutig verneinen müssen. Was hier auch dem gemeinen Menschenverstand einleuchten mag, wirft für Kant dennoch die Frage auf, ob die hohen Ansprüche der Vernunft, die den gegebenen Neigungen so sehr zu widersprechen scheinen, der Menschennatur gänzlich widersprechen. Er verweist auf eine Dialektik, die nicht auf einen menschlichen Spekulationstrieb rekurriert, die zwar versucht, die Vernunftansprüche den Neigungen und Wünschen genehm zu machen, aber zugleich auch praktisch deutlich macht, dass es so keinen Ausweg aus den widerstrebenden Handlungen gibt und somit die Suche nach einer allgemeinen Regel sich ganz von allein ergibt. Hier kommt noch einmal zum Vorschein, dass Kant weniger eine neue Ethik aus den Höhen einer abstrakten Vernunft herab deduziert, er versucht vielmehr ein Prinzip zu begründen, das eigentlich schon in nuce vorhanden ist.
Die Begründung des „kategorischen Imperativs“ aus dem Reich des Sollens
Kant verweist zunächst nochmals auf die Unmöglichkeit, praktische Gesetze bzw. moralische Regeln aus der Erfahrung abzuleiten. Doch macht er nun zusätzlich geltend, dass der apodiktische Charakter der Gesetze des Sollens eben auch aus rein logischen Gründen schlechterdings nicht aus Erfahrungen hergeleitet werden könne, sondern nur aus einer reinen erfahrungsunabhängigen (a priorischen) Vernunft. Nur sie kann die Kriterien entwickeln, an denen die Erfahrungsbeispiele zu messen sind. Wenn es um Gesetze des Sollens geht, dann lassen sich diese nicht aus dem Sein bzw. aus der Erfahrung herleiten. Erst wenn es eine Begründung der Metaphysik der Sitten gibt, dann haben Beispiele und Popularisierungen zur Demonstration der allgemeinen Prinzipien ihren pädagogischen Sinn. In dieser Verkehrung des methodischen Vorgehens sieht Kant das Versagen aller vorhergehenden Ethiken, gleichgültig ob sie sich auf die menschliche Natur, die Gottesfurcht, die Glückseligkeit oder die moralischen Gefühle berufen. Sie alle mögen diversen Neigungen und dergleichen der Menschen genehm sein, aber sie können kein Gesetz hervorbringen.
Das geforderte Gesetz entwickelt Kant mit der Begründung, dass nur vernünftige Wesen über das Vermögen verfügen nach Gesetzen zu handeln. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erforderlich wird, ist der Wille praktische Vernunft. Vorausgesetzt der Wille wird durch die Vernunft bestimmt, dann sind die objektiven Gesetze auch zugleich die subjektiven. Der Wille ist dann das Vermögen, nur das zu wählen, was die von den Neigungen gereinigte Vernunft als praktisch notwendig und als gut erkennt.
Der durch die Vernunft gesteuerte Wille ist das zentrale Element der Konstruktion in Kants Moralphilosophie und damit zugleich das Einfallstor für reichhaltige Kritik, die aber zumeist auch übersieht, dass Kant dieses Postulat nicht als empirisches Faktum unterstellt. Er hebt im Gegenteil in diesem Kontext hervor, dass ein der Vernunft nicht gemäßer Wille die menschliche Wirklichkeit ist und dieser das Auseinanderfallen von objektiver Notwendigkeit und subjektiven Willen unter dem Anspruch der Vernunft als Nötigung erfährt. Eben weil dies die Regel ist, werden die Vorschriften der Vernunft Akte eines Sollens, denn andernfalls lägen sie ja in der Natur oder im Instinkt oder was auch immer schon vor. „Die Vorstellungen eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ“ (IV. 41) Imperative drücken sich durch ein Sollen aus, dieses ist ein objektives Gesetz der Vernunft und zeigt ein Verhältnis zum Willen an, der subjektiv dazu aber nicht notwendigerweise bestimmt ist. Er hat letztlich die Wahl, dem Gebot zu folgen oder nicht. Praktisch gut ist aber nur, was der Wille in Übereinstimmung mit den objektiven Gesetzen der Vernunft tut. Es ist ja z.B. auch niemand gezwungen nach den Regeln der Logik zu denken, aber richtig kann er nur denken, wenn er diesen Regeln folgt.
Hypothetische und kategorische Imperative
Imperative sind nun wiederum in hypothetische und kategorische Gebote zu unterscheiden. Hypothetische Imperative heißen solche, welche die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel für etwas anderes gebieten. Hingegen sind kategorische Imperative solche, welche „eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellt.“ (IV. 43) Ist eine Handlung also nur in Bezug auf einen anderen Zweck als Mittel gut, handelt es sich um einen hypothetischen, wird sie aber als an sich gut und notwendig aus einem der reinen Vernunft gemäßen Willen vorgestellt, dann handelt es sich um einen kategorischen Imperativ. Er hat die Form eines apodiktisch-praktischen Prinzips, dagegen sind die Prinzipien des hypothetischen Imperativs entweder problematisch, wenn sie sich auf die Möglichkeit einer Handlung beziehen, oder assertorisch-praktisch, wenn sie sich auf die Wirklichkeit einer Handlung beziehen, die als Mittel für einen anderen Zweck steht.
Nun kann man z.B. die Glückseligkeit als eine wirkliche Absicht bei jedem Menschen als gegeben annehmen, da aber die Glückseligkeit nach Kant kein Zweck an sich sein kann, so fällt dieses Bestreben als assertorisches Prinzip unter den hypothetischen Imperativ. Ebenso verhält es sich mit der Klugheit und Geschicklichkeit, die als Mittel für nicht festlegbare Zwecke fungieren.
Der kategorische Imperativ aber ist frei von Absicht und Wirkung, kein Mittel für anderes, sondern der Grund selbst, das Prinzip, welches sich auf keine Materie richtet. Das „Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle.“ (IV. 45) Dieser Imperativ ist für Kant die Sittlichkeit. Die Festlegung auf die reine Gesinnung unter Ausblendung der Folgen guter Handlungen hat nebenbei die vor allem von Max Weber gezogene Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethikern zur Folge. (Weber, 549 ff.) Würde man aber Webers Forderung, dass die Folgen des Handels mit zu berücksichtigen sind, an Kants kategorischen Imperativ herantragen, dann bräche die Formel in sich zusammen, denn dann könnte der gute Wille, das a priorische Vernunftprinzip kein Zweck seiner selbst mehr sein, sondern die gute Handlung würde sich erst dadurch erweisen, welche – auch unbeabsichtigten – Folgen sie hat.
Kant unterscheidet gemäß den drei Prinzipien, die verschiedene Nötigungen des Willens sind, in Regeln der Geschicklichkeit, der Klugheit und Gebote bzw. Gesetze der Sittlichkeit. Nur das Gesetz impliziert den Begriff der unbedingten, objektiven und allgemeingültigen Notwendigkeit, der auch entgegen allen Neigungen Folge zu leisten ist. Die Regeln oder Ratschläge dagegen sind nicht objektiver Natur und keine Gesetze, sie liegen im Belieben des subjektiven, etwa in der Wahl dessen, was ein Mensch zu seiner Glückseligkeit zählt. So lassen sich nach Kant die hypothetischen Imperative der Geschicklichkeit auch als technische (zur Kunst gehörend), die Klugheit als pragmatische (die Wohlfahrt erhöhend) bezeichnen, der kategorische als das Sittengesetz, als moralischer Imperativ.
Bei der Frage nach der Möglichkeit dieser Imperative entwickelt Kant verschiedene Urteilsformen, die der Kritik der reinen Vernunft entspringen. Der Imperativ der Geschicklichkeit bietet die geringsten Probleme. Wer einen bestimmten Zweck will, der benötigt auch die entsprechenden Mittel und der Satz ist somit ein analytischer, weil in dem Kausalgrund des Zweckes die Mittel impliziert sind. Gleiches hätte auch Geltung für die Klugheit, aber hier ist der Zweck, die Glückseligkeit, eine nicht bestimmbare Größe. Da man die Glückseligkeit mit keinem Grundsatz zu fassen bekommt und dieser launische Geselle sich einer eindeutigen Bestimmtheit entzieht, er zudem nicht der Vernunft, sondern der Einbildungskraft entspringt, also auf empirischen Gründen beruht, ist er nur der logischen Form nach analytisch.
Der Unterschied der Urteilsformen ließe sich vereinfacht auch so umschreiben: Die hypothetischen Imperative verfahren nach dem Muster: „Du sollst so und so handeln, wenn …“ und dieses Wenn ist eben das Bedingende. Um etwas zu erreichen, soll dieses oder jenes getan werden. Darin liegt aber auch die Möglichkeit einer zweckrationalen Begründung. Der kategorische Imperativ aber beinhaltet die apodiktische Aussage: „Du sollst das und das tun“. Hier ist auf eine Schwäche hinzuweisen, denn auf die Frage, warum es getan werden soll, gibt es keine oder nur die Antwort, weil man es soll. (MacIntyre; 180)
Wie erwähnt, wollte Kant keine neue Ethik erfinden, sondern einer schon vorhandenen durch Aufklärung die Begründung ihrer Möglichkeit geben. So ließe sich an dieser Stelle schlussfolgern, dass der kategorische Imperativ nur eine vernünftige Begründung für die Zehn Gebote sei, die ebenfalls als unbedingte Gesetze gelten, die sich einer inhaltlichen Begründung entziehen. Weiter könnte auch gefolgert werden, Kants Protestantismus zeige sich eben hier in aller Deutlichkeit, indem er lediglich die absolute Verinnerlichung der apodiktischen Sollensgesetze der Moral und Sittlichkeit mittels der Vernunft und einer Pflicht um der Pflicht willen betreibt.
Das wäre – so naheliegend es vielleicht auch scheint und auch biografisch begründbar wäre – zu einfach. Denn Kant geht es seiner Argumentation nach vor allem darum, die Autonomie des moralisch Handelnden ins Zentrum zu rücken. Eine Befolgung des Sittengesetzes entspränge keiner inneren Pflicht, wenn sie sich aus einer äußeren Autorität, sei es nun Gott oder eine andere, herleitet. Dieses Autonomieprinzip, das sowohl die menschliche Freiheit als auch die Vernunft absolut setzt, bleibt auch dann noch zentral für den Bruch mit der Tradition und ein reines Produkt der Aufklärung, wenn schließlich und endlich Gott und die Religion doch noch ihre hilfreiche Rolle zugewiesen bekommen. Entscheidend ist hier, dass beide keine konstituierende Funktion mehr erhalten. So stellt sich mit noch größerem Nachdruck die Frage, wie unter solchen Voraussetzungen aus der reinen Vernunft heraus ein Sittengesetz als ein kategorischer Imperativ allgemeingültig – und das heißt: jenseits von Raum und Zeit, denn andernfalls unterläge es den Bedingungen irgendwelcher Zufälligkeiten – formuliert werden kann.
Die Formen des kategorischen Imperativs
Der kategorische Imperativ lautet nun in seiner ersten Form: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (IV. 51) Er enthält also zweierlei, zum einen den Imperativ als das allgemeine Gesetz oder das objektive Prinzip, das für alle vernünftigen Wesen gültig ist und nachdem sie handeln sollen. Zum anderen die Maxime, die das subjektive Prinzip zu handeln bestimmt. Hier liegt das Postulat begründet, dass das Subjekt als vernünftiges Wesen dem praktischen Gesetz des Imperativs gemäß handeln soll. Aus diesem einzigen Imperativ können nun alle weiteren Imperative der Pflicht abgeleitet werden. Die Pflicht, die zunächst ein leerer Begriff zu sein scheint, erhält als allgemeiner Imperativ der Pflicht die Form: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ (IV. 51) Wird also in der ersten Form die Maxime dem allgemeinen Prinzip unterworfen, so wird hier die Maxime verpflichtet, zu prüfen, ob die verallgemeinerbar ist bzw. als allgemeines Gesetz taugt. Es sind also alle Handlungen nur gut, die eine universelle Geltung beanspruchen können.
Im kategorischen Imperativ wird die Individual- mit der Sozialethik in der Weise verbunden, dass vermittels der Vernunft nur solche Handlungen gut sind, die dieser allgemeinen Regel folgen. Dieses zu tun, ist die Erfüllung der Pflicht um ihrer selbst willen. Kant demonstriert dieses Prinzip anhand einzelner Pflichten, die wir hier unerwähnt lassen können. Festzuhalten bleibt lediglich, dass die Forderung der Widerspruchslosigkeit des Gesetzes prinzipiell eine Ausnahmeregelung ausschließt, da eine solche zwangsläufig die strikte allgemeine Geltung des Imperativs zum Einsturz brächte und der Beliebigkeit jenseits aller Vernunft freie Bahn gäbe. Damit ist aber auch absehbar, dass die Befolgung des universellen Gesetzes den dauerhaften Widerstand unserer Neigungen herausfordert, aber diesen mit Willen zu überwinden ist eben die Pflicht eines vernunftgeleiteten Wesens. Warum dies aber so ist, das ist a priori so wenig bewiesen wie die faktische Geltung des Imperativs.
Zunächst muss nochmals daran erinnert werden, dass die Geltung des Prinzips sich nicht aus „besonderen Eigenschaften der menschlichen Natur“ ableiten lässt. Daraus ließen sich bestenfalls subjektive Maximen begründen, nicht aber die hier geforderten praktischen Gesetze, die zu befolgen Pflicht ist. Da Kant hier mit der gesamten Tradition bricht, weil das Vernunftprinzip gerade nicht in der menschlichen Natur oder in wie auch immer gearteten eingeborenen Ideen verankert wird, woraus es dann seine Faktizität erhielte, sondern gerade von solcher Empirie abstrahiert, bekennt Kant selbst, dass die Philosophie sich hier auf einem „mißlichen Standpunkt stellet“, der zwar fest sein soll, aber doch weder im Himmel noch auf Erden eine Stütze findet. (IV. 57) Was aber bleibt, wenn weder die menschliche Natur noch eine in die Seelen eingepflanzte göttliche Gerechtigkeit der Geltung des universellen Gesetzes Kraft geben? Wenn wir ferner auf alle empirischen Zutaten bei der Begründung ebenfalls verzichten müssen, dann muss es der Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens sein, der dem Gesetz des Sollens eine a priori begründbare Stütze gibt. Da wir den Willen danach betrachten, was er tun soll und nicht danach, was er faktisch tut, so muss es um die Klärung des Verhältnisses des Willens zu sich selbst gehen, sofern er von der Vernunft allein bestimmt ist.
Der Mensch als Zweck seiner selbst und seine „Würde“
Der Wille ist sowohl subjektiver Grund eines Begehrens, als auch Bewegungsgrund des objektiven Wollens. Im ersten Falle ist er hypothetisch, er verfolgt materiale Zwecke, die alle beliebig und relativ sind. Andererseits aber ist der Wille, der dann allerdings durch nichts determiniert sein darf. also als frei vorgestellt werden muss, und zwar als ein Vermögen, das gemäß bestimmter vorgestellter Gesetze sich selbst im Handeln bestimmt. Ist nun der Wille selbst bestimmt, dann kann er auch seine Zwecke selbst setzen. Wenn er nicht nur subjektive Zwecke setzen kann, dann ist die Frage, ob er mittels der Vernunft einen für alle vernünftigen Wesen geltenden Zweck an sich setzen kann. Der muss seinen Grund darin finden, was als Dasein einen absoluten Wert an sich hat. Darin allein kann nach Kant die Bedingung der Möglichkeit eines kategorischen Imperativs liegen. „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (IV. 59 f.)
Das ist die schlichte Formulierung des Prinzips, dass man einen anderen Menschen niemals als Mittel für einen Zweck ansehen oder benutzen darf. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen ist ein Zweck an sich, niemals Mittel für etwas, sein Dasein folglich das höchste Gut. Hierin liegt seine Würde, die zu achten das höchste moralische Gebot und der Kern des formalen ethischen Prinzips ist. Insofern der Mensch sich selbst als ein Zweck an sich betrachtet, liegt hier das subjektive Prinzip seines Handelns und sofern er dieses auf alle vernünftigen Wesen anwendet, was die Vernunft gebietet, so verbindet sich hier die Maxime des subjektiven Willens mit dem praktischen Imperativ dessen, was ich wollen soll: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (IV. 61) Poetisch findet das in Friedrich Schillers Vers „alle Menschen werden Brüder“ aus dem Gedicht „An die Freude“ seinen Ausdruck.
In dieser Verknüpfung des Individuellen mit der allgemeinen Menschheit liegt das zentrale Element der Kantschen Ethik, die zugleich die Frage aufwirft, ob der vielfach erhobene Vorwurf, Kants Ethik sei ein inhaltloser Regelformalismus, berechtigt ist. Karl Vorländer verweist zu Recht auf den materialen Gehalt gerade dieses Imperativs, der den vermeintlichen Gegensatz von Form und Inhalt nicht nur überwindet, sondern geradezu erzeugt. „In der Vorstellung einer allgemeinen Gesetzgebung liegt vielmehr schon von selbst die Idee der Menschheit, die der Mensch „als das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt“, und der wir „jederzeit“, so lange und so wahr vernünftige Menschen existieren, nachzustreben verpflichtet sind.“ (Vorländer I, 298)
Es ist auch dem Irrtum vorzubeugen, der kategorische Imperativ sei nur die akademische oder philosophische Formulierung der berühmten Volksweisheit „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinen andren zu“. Das ist nach Kant bestenfalls eine Ableitung aus dem kategorischen Imperativ, enthält aber den Mangel der Selbstverpflichtung und der Pflichten gegen andere. (IV. 62)
Das Prinzip der Menschheit, d.h. einen jeden Menschen als Wert und Zweck an sich zu sehen, ist das oberste Prinzip und zugleich eine Beschränkung der Freiheit der Handelnden. Aber – wie unmittelbar einsichtig – ist es auch nicht der Empirie zu entnehmen. Damit erfüllt das erste Prinzip den Charakter der strikten Allgemeingültigkeit, zum zweiten gilt es auch als Regel für das subjektive Handeln und drittens wird somit der Wille eines jeden vernünftigen Wesens mit dem allgemeinen gesetzgebenden Willen in Übereinstimmung gebracht. Der Wille wird nicht nur dem Willen des allgemeinen Gesetzgebers unterworfen, er ist auch selbst Gesetzgeber, dem die Vernunft gebietet, seine Maximen daran auszurichten, ob sie als allgemeine Gesetze gelten könnten. Hier liegt also kein Diktat einer abstrakten Vernunftinstanz vor, sondern die Allgemeingültigkeit, die die Freiheit des Einzelnen beschränkt, erfolgt aus einer Selbstverpflichtung und zugleich bleibt er kraft seines freien Willens autonom.
Hierin sieht Kant auch die eigentliche Überlegenheit seines Prinzips gegenüber allen vorhergehenden. „Man sähe den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und dass er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden, Willen gemäß zu handeln.“ (IV. 65) Wäre er nicht sein eigener Gesetzgeber, so wäre er nur um eines Anreizes oder Zwanges willen genötigt einem Gesetz zu folgen und somit würden sich darein Interessen empirischer Art mischen, die gerade der Selbstverpflichtung entbehrten. Auch wenn darin seine empirischen Zwecke und Interessen berücksichtigt würden, so bliebe er nicht nur einer Heteronomie ausgeliefert, er bliebe in seiner Bedingtheit dieser Zwecke ein Sklave anderer und verlöre das kostbare Grundprinzip, das den Grund der menschlichen Würde ausmacht: die Autonomie des Willens. (IV. 69)
Erst durch die gemeinsame Unterordnung aller unter jenes Gesetz, das im „Reich der Zwecke“ festlegt, dass sich alle füreinander niemals als Mittel und nur als Zweck an sich ansehen müssen, wird es möglich, dass das durch die Freiheit des Willens ermöglichte Reich der Zwecke eben jene Begrenzung und Festlegung erfährt, die das vernünftige Wesen als Gesetzgeber trifft. Darin liegt auch die Moralität, in der Beziehung aller Handlungen auf die Gesetzgebung, die aber in jedem vernünftigen Wesen angetroffen werden und seinem Willen entspringen können muss. Der Wille muss also „durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten können.“ (IV. 67)
Da nun die Maximen nicht von Natur aus notwendig übereinstimmen, heißt die Notwendigkeit einer diesem Prinzip folgenden Handlung Pflicht. Diese Pflicht ist allein aus der Vernunft, genauer dem Miteinander vernünftiger Wesen abgeleitet. „Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf jede andere Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um irgendeines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.“ (IV. 67) Würde heißt, dass es im Reich der Zwecke das ist, was keinen Preis und damit auch kein Äquivalent hat, sondern einen inneren Wert an sich besitzt. Sittlichkeit und die Menschheit allein sind es, die Würde haben, denn nur dadurch, dass sich alle Vernunftwesen als Selbstzweck betrachten, ist es allen möglich, ein gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke zu sein.
Die genannten drei verschiedenen Arten das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind nur Formeln ein und desselben Gesetzes. Die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs lautet: „Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetz machen kann.“ (IV. 70)
Hier schließt sich auch der Kreis zum Anfang, zu der Bestimmung des „guten Willens“. Der Wille ist gut, der nach diesem Prinzip handelt, und er kann das, weil der Wille hiernach niemals mit sich selbst in Widerstreit gerät. Der Wille, dessen Maximen mit dem allgemeinen Gesetz übereinstimmen, ist nach Kant ein „heiliger“. Die Abhängigkeit eines nicht guten Willens vom Prinzip der Autonomie, nennt Kant „Verbindlichkeit“. Dergleichen ist nicht heilig zu nennen. Pflicht heißt daher eine Handlung aus Verbindlichkeit gegenüber der objektiven Notwendigkeit. Mit der kategorischen Forderung, alle Vernunftwesen niemals als Mittel, sondern immer als Zweck an sich zu betrachten, wird der freie Wille eines jeden mit einem allgemeinen Gesetz verbunden ohne den einzelnen zu unterwerfen, denn er erhält seine Würde und Freiheit nicht als besonderes Privileg. Autonomie des Willens und Würde gelten für alle vernunftbegabten Wesen, also auch für denjenigen, der sich diesem praktischen Gesetz unterwirft und da er dadurch auch selbst diese Momente erhält und selbst Teil der allgemeinen Gesetzgebung qua seiner Vernunft ist, bringt ihm die Unterordnung als Pflicht nicht Abhängigkeit, sondern Freiheit und Autonomie. Die Gesetze sind mithin keine äußerlichen, wie etwa die Gesetze der äußeren Natur, es sind selbstauferlegte Gesetze des Sollens.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob es eine realistische Annahme ist, alle Vernunftwesen würden nach dergleichen Gesetzen handeln und es auch wollen. Aber auch wenn man nicht darauf rechnen kann, dass jedes Vernunftwesen diesem Prinzip treu ist, so bleibt es als Sittengesetz dennoch gültig, denn sonst würde das Subjekt nur seinen Bedürfnissen unterworfen gedacht werden können und daraus lässt sich die Erhabenheit und Würde des Menschen durch ein praktisches Gesetz nicht gewinnen. Und selbst wenn das Subjekt sich nur aus Pflicht dem Gesetz unterwirft, so erhält es dadurch doch seine Erhabenheit und Würde, wenn es das Gesetz achtet und ihm nicht aus Furcht oder anderen Gründen folgt.
Die Besonderheit der Ethik Kants und das Problem des Gewissens
Die weitere Begründung in der Schrift, die den Übergang zur Kritik der praktischen Vernunft bildet und sich mit der logischen Begründung der Möglichkeit synthetischer praktischer Sätze a priori und dem Grundsatz der Freiheit des Willens widmet, können wir hier außer Acht lassen. Es gilt hier im Wesentlichen festzuhalten, dass Kant sich von allen vorangehenden Ethiken, insbesondere denen der damals sehr einflussreichen schottischen Moralphilosophie von David Hume, Francis Hutcheson und auch Adam Smith sowie Jeremy Benthams Utilitarismus durch die radikale Kritik abhebt, dass sie alle von problematischen empirischen Annahmen zur Begründung ihrer Ethik ausgehen. Ginge man so vor, käme man nicht nur mit den in diesen Theorien als Natur gesetzten menschlichen Bedürfnissen zu keiner Zwecksetzung, man könnte auch gar keine Moralprinzipien entwickeln. Denn diese, so Kants zentrales Argument, sind zwangsläufig Postulate des Sollens, die sich nicht aus einem Sein ableiten lassen.
An die Stelle sogenannter Realitäten einer vermeintlichen menschlichen Natur tritt eine reine Idee, deren Abstraktheit und Begründung freilich auch den Verdacht erweckt, sie leide an Realitätsverlust. Das wäre allerdings ein sehr billiger Einwand. Der kategorische Imperativ setzt vielmehr voraus, was jedes Vernunftwesen für ein vernünftiges Moralprinzip halten würde oder müsste, wenn es sich bei seinen Handlungen der Vernunft als Gebieterin seines Willens bedienen würde. Man könnte auch sagen, der kategorische Imperativ ist in Ansehung dessen, dass der „Mensch aus so krummen Holz geschnitzt ist, dass daraus nichts Gerades zu machen ist“, eine kontrafaktische regulative Idee. Er ist mit Blick auf die Verankerung in der Autonomie des Willens und der menschlichen Würde sowie dem Bezug auf die gesamte Menschheit keineswegs so inhaltsleer wie in den 1920er Jahren insbesondere von Max Scheler und Nicolai Hartmann betont wurde.
So ist Kants Begründung seiner Ethik in der Form zwar revolutionär, inhaltlich aber eher konservativ. Nur so wird plausibel, dass jeder den kategorischen Imperativ verstehen kann, denn er enthält eine durch die Tradition verbürgte Lebensmaxime. Der entscheidende Unterschied gegenüber dieser Tradition aber besteht darin, dass Kant sich nicht mehr einer der Vernunft vorgesetzten Autorität bedient. Damit erhalten die Vernunft und der zuvor gesetzte freie Wille die Funktion einer letzten Instanz. An die Stelle der letzten Autorität Gottes tritt die menschliche Vernunft und der freie Wille. Mit dieser Subjektivierung der ethischen Begründung wird freilich die Kraft der Begründung nicht nur verlagert, sie wird auch mit impliziten Annahmen problematisch. Vorausgesetzt wird, dass der freie und gute Wille sich von der Vernunft leiten lässt. Auch wenn Kant keinesfalls als Faktum unterstellt, alle Menschen würden so verfahren und durchaus konzediert, dass Vernunft empirisch eher eine knappe Ressource ist, so muss in der Konstruktion doch so verfahren werden, als ob allein die Vernunft den freien Willen leite.
Das zentrale Element ist die Pflicht, denn nur aus ihr heraus ist sittliches Handeln möglich. Nicht der äußere Schein des guten Kaufmanns, sondern die innere Überzeugung nach sittlichen Maßstäben zu handeln verleiht dem „guten Willen“ seine Kraft und Herrlichkeit. Das Begründungsproblem Kants ist, dass sich aus dem kategorischen Imperativ aber kein „inneres Gefühl der Pflicht“ begründen, geschweige denn herstellen lässt. Das ist ein Grund, dass der zuvor aus der Ethik katapultierte Religion zur autoritativen Begründung der Ethik durch die Hintertür dem Glauben an Gott wieder Zutritt gewährt wird. Dass sich die Pflicht mit Gottes Hilfe eher ins Gemüt einnistet, kann man als logische Funktionalisierung des Glaubens oder als Folge einer protestantischen Innerlichkeit des Gewissens oder Glaubens interpretieren. Aber Kants Begriff des Gewissens und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind komplexer und bedürfen einer genaueren Analyse.
Die erhalten wir an anderer Stelle, und war in der „Tugendlehre“ der Metaphysik der Sitten. Er trennt das Gewissen zunächst von einer Reihe moralischer Gefühle, die wegen ihrer reinen Subjektivität keiner Erkenntnis zugänglich sind. Das Gewissen „ist nicht etwas Erwerbliches, und es gibt keine Pflicht, sich eines anzuschaffen, sondern jeder Mensch hat ein solches ursprünglich in sich.“ (IV. 531) Es gibt deshalb auch keine „Gewissenlosigkeit“, die sei kein Mangel an Gewissen, sondern nur der Hang, „sich an dessen Urteil nicht zu kehren.“ (IV. 531).
Die Erwähnung des Urteils zeigt den Weg: „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofs im Menschen (vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen) ist das Gewissen“. (IV. 573) Jeder Mensch habe ein Gewissen und findet sich durch einen „inneren Richter“ beobachtet, der ihm folge wie ein Schatten. Aber dieser „innere Gerichtshof“ bringt die paradoxe Situation mit sich, dass sich Ankläger und Richter in einer Person vereinigen und so keinen Streit zu schlichten oder zu entscheiden vermögen. So verschafft sich die Vernunft einen „autorisierten Gewissensrichter“, der ein „Herzenskündiger“ mit „allverpflichtender“ Kompetenz sein müsse. Diese „wirkliche oder idealische Person“ als umfassendes „moralisches Wesen“ und aller Gewalt „im Himmel und auf Erden“ heiße „Gott“ und so wird „das Gewissen als subjektives Prinzip einer von Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen.“ (IV. 574) Das Gewissen als Triebfeder für die Rückkehr der Autorität Gottes für die Ethik kann man als eine logische Notlösung Kants ansehen, denn der innere Zwiespalt im Gewissen durch konkurrierende Rechte lässt sich anders kaum lösen.
Aber die Verbindung Kants zum Protestantismus Luthers liegt schon in der Nähe des „guten Willens“ Kants zum „Gewissen“ Luthers, das aus jeden einen „Pfaffen in uns“ (so Karl Marx) macht. Man braucht dafür nicht Karl Marx zu bemühen. Der Großmeister der liberalen evangelischen Theologie und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch attestierte Kant, dass er das „lutherische Prinzip der Autonomie der Gesinnungsüberzeugung, der verdienst- und lohnfreien Hingebung an Gott nur um des Gewissens willen zu einer allgemeinen Vernunftidee generalisierte und mit einer ganzen kunstvollen Erkenntnistheorie nur diese praktisch-ethische-religiöse Weltanschauung unterbauen wollte.“ (Troeltsch, 701) Diese sehr weitreichende Einordnung des Gesamtwerkes Kants in den Protestantismus kann man als zu weitgehend zurückweisen, aber für das Kernstück des Gewissens in der Moraltheorie ist es kaum zu bestreiten.
Die Sache wird jedoch noch dadurch komplizierter, dass die Kulturgeschichtsforschung das Gewissen mittlerweile als Konstrukt der protestantischen Neuzeit eindrucksvoll beschrieben, analysiert und dokumentiert hat. (Kittsteiner) Damit hat der Mensch an sich kein Gewissen in der von Kant unterstellten Form, sondern es ist eine spezielle kulturelle Errungenschaft in einer bestimmten Situation. Das sagt über ihre Güte und ihren Nutzen oder Schaden noch nichts aus. Die Frage wäre eher, kann man darauf verzichten? Oder reicht die Vernunft nur zur Begründung, aber zu ihrer Geltung letztlich doch nicht aus? Sollte dem so sein, stehen wir heute vor dem Problem, dass wir auf die Ressource Glauben und an einen autoritativen Gott für die Erfüllung dieser Funktion kaum zurückgreifen können. Was begründet und verschafft einer Ethik oder Moral dann noch Geltungskraft? Wenn „Gott tot ist“, bleibt dann nur Nihilismus? Oder gibt es eine andere Möglichkeit Kants Vernunftprinzip zu retten, ohne auf Gottes Hilfe zurückgreifen zu müssen?
Die Einfälle der Kritik und die Rezeption
Kants Ethik gehörte zum meistrezipierten Teil seiner Philosophie. Ihr universalistischer Ansatz blieb dabei bis auf die Gegenwart, wo er Applaus und Kritik zugleich erfährt, wenig beachtet. Intensiver meldete sich nach dem Ersten Weltkrieg die Kritik vor allem von Nicolai Hartmannn und Max Scheler mit ihrem Vorwurf des inhaltslosen Formalismus zu Wort. Aber noch nachhaltiger wirkte die Fundamentalkritik des erkenntnistheoretisch von Kant beeinflussten Soziologen Max Weber, der Kants Ethik des guten Willens als alleinigen Maßstab der sittlichen Beurteilung zum Problem erklärte und dieser „Gesinnungsethik“ eine „Verantwortungsethik“ entgegensetzte, die sittliches Handeln nicht am guten Willen, sondern allein an den Folgen, insbesondere den voraussehbaren misst. Sie knüpfte an die schon früh erkannte Nähe der Kantschen Pflichtethik und die Betonung des freien und guten Willens als Richtschnur zur protestantischen Lehre Luthers an, der als letzte Instanz nichts anderes als die Reinheit des Glaubens und Gewissens kannte. Luthers Primat der Glaubens gegenüber den „guten Werken“ findet in der Diskussion über Kants „Gesinnungsethik“ gegenüber der an den Folgen des eigenen Handelns orientierten „Verantwortungsethik“ ihre Ergänzung bei dem Philosophen und Soziologen Georg Simmel, der Kants Ethik in Übereinstimmung mit Troeltsch primär als eine philosophische Vertiefung der protestantischen Ethik interpretiert. (Simmel, 127)
Auch der „kategorische Imperativ“ ist als der Versuch gewertet worden, lediglich die „goldene Regel“ der Ethik philosophisch aufzuladen. „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem Andern zu“. So eingängig diese Einwände oder Kritiken auch erscheinen mögen, sie blenden wesentliche Punkte aus. Sie unterschlagen den Vernunftcharakter dieser Ethik und ihren Verzicht auf alle „empirischen Annahmen“, sei es einer vorgegebenen Sittlichkeit oder einer Natur des Menschen. Dass sie keinerlei Absicherung durch eine andere Autorität bedarf, mehr noch, dadurch an Wert verlieren würde, ist allerdings fraglich in Bezug darauf, ob die kühne Konstruktion alltagstauglich ist. Aber das ist kein Argument gegen den Primat des Sollens und die „Würde eines jeden Menschen“ als höchstem Gut lässt sich mit Vernunft mindestens genauso gut begründen wie durch das Wort Gottes glauben.
Aber nur in säkularisierter Form lässt sich eine universell geltende Ethik begründen. Wenn sie die Freiheit und Autonomie des Menschen als Ausgangspunkt und Zweck verfolgt, bleibt kein anderer Weg als der einer Vernunftethik, denn dies ist die Eigenschaft die über alle Verschiedenheiten hinweg das dem Menschen gemeinsame ist. Der Umweg über Gott setzt den Glauben daran voraus und schlimmstenfalls auch noch eine ganze Religion.
Aber gerade der Vorrang der Vernunft wurde zum Einfallstor für die grundsätzliche Kritik von der säkularen Seite. Beruht nicht Kants gesamte Konstruktion doch auf einer anthropologischen Prämisse? Was ist mit den Einwänden, die dem Primat der Vernunft die These entgegensetzen, Kant sitze einer Fiktion auf, wenn er glaube, dass der Wille der Vernunft gehorche. Es sei umgekehrt, der Wille, dieses dunkle Etwas, sei jener Antriebsfaktor, der alles bestimmt. Statt der gehorsame Knecht der Vernunft zu sein, ist der Wille vielmehr selbst der Herr im Hause und bedient sich der Vernunft lediglich zur Rationalisierung seiner Begierden.
Als das Unbewusste kommt dieser dunkle Trieb, der er bei den Philosophen des 19. Jahrhunderts blieb, dann über die Psychologie und schließlich bei Sigmund Freud als Wissenschaft zu hoher Ehre. Aber was folgt daraus für die Ethik, wenn man an die Stelle des Postulats der Möglichkeit der Vernunft den Willen als reinen Trieb setzt? Soll oder muss dieser Wille im Dienst der Allgemeinheit gebändigt werden oder soll er sich im Namen der individuellen Freiheit voll entfalten können? Mit einer solchen anthropologischen Prämisse, einer Willensmetaphysik, wird die Frage der Herrschaft der Vernunft zu einer reinen Frage nach dem Wesen des Menschen. Genau das aber wollte Kant verhindern, denn die reine praktische Vernunft sollten Gesetze des Sollens frei von aller Empirie formulieren.
Die Moralphilosophie Kants spielte bei den für die Kantrezeption im 19. Jahrhundert maßgebenden Schule der Neukantianer nicht die wichtigste Rolle, sie konzentrierten sich auf die Erkenntnistheorie und bauten diese aus. Weder seine Ethik noch seine politische Philosophie stieß auf großes Interesse, nicht einmal bei den Liberalen.
Erstaunlicherweise entdeckten ausgerechnet Sozialisten Kants praktische Philosophie als den Bezugspunkt, eine ethische Begründung für den Sozialismus zu entwickeln. Dies geschah zunächst im Umkreis der Reformisten um Eduard Bernstein, die der „wissenschaftlichen“ – und das hieß hier „deterministischen“ Begründung der Notwendigkeit des Sozialismus nicht folgen wollten. Kants dezidierte Verteidigung des Eigentums als Begründung für die „Selbständigkeit“ konnte unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus als völlig irreal ad acta gelegt werden, aber der daraus erhobenen Anspruch, dass ein jeder ein freier und selbständiger Mensch zu sein habe und vor allem die Basis des kategorischen Imperativs, einen Menschen niemals als Mittel für einen Zweck, sondern stets als Zweck seiner selbst zu sehen, war als Imperativ nur unter einer solidarischen, das heißt sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung möglich. Also jenseits einer KonkurrenzgesellschaftNeben Hermann Cohen, Conrad Schmidt und Franz Staudinger wäre hier vor allem Karl Vorländer hervorzuheben.
In diesem Sinne, aber ohne sich deshalb dem Reformismus zu- und vom Marxismus abzuwenden, wurde die Kantsche Ethik auch von den so genannten „Austromarxisten“ für die Füllung einer vermeintlich von Marx hinterlassenen Leerstelle, der Ethik, fruchtbar gemacht. Es ist hier nicht der Ort, diese produktiven Ansätze, die mit den Namen Otto Bauer und ganz besonders Max Adler verbunden sind, gebührend zu würdigen. Sie waren in der Sozialdemokratie Österreichs die bedeutendsten Theoretiker, die in Deutschland leider nie einflussreich wurden.
In der jüngsten Vergangenheit erlebt Kants Ethik auf zwei Feldern eine Renaissance. Zum einen – wie schon in den Teilen zuvor erwähnt – in der politischen Philosophie durch die philosophische Begründung des Liberalismus bei John Rawls. Aber Rawls hat Kant darüber hinaus in seiner Moralphilosophie einen zentralen Platz eingeräumt, was in seiner Geschichte der Moralphilosophie schon allein durch den Umfang, den die Kant-Rezeption dort einnimmt, deutlich wird.
Zum einem wichtigen Bezugspunkt wurde Kants Moralphilosophie auch bei Jürgen Habermas und der Entwicklung einer „Diskursethik“ im Verbund mit Karl Otto Apel, deren Kern die „wahrheitsfähige“ Begründung normativer Fragen ist.
Momentan erfährt der Rückgriff auf die Kantsche Ethik eine außerordentliche Aktualität durch die Identitätsdebatten. Der an der New School for Social Research Philosophie lehrende Omri Boehm hat mit dezidiertem Bezug auf Kants praktische Philosophie für einen „radikalen Universalismus“ geworben, der sich mit einem Plädoyer für unveräußerliche Rechte für alle Menschen gegen alle Formen eines identitären Partikularismus wendet. Sobald wir über Menschheitsfragen in der globalisierten Welt unter ethischen Aspekten sprechen, bleibt Kant mit seiner „universalen Morallehre“ von höchster Aktualität.
Es ist nicht nur der beeindruckende und manchmal auch erdrückende Ideenreichtum, die differenzierte und stringente Argumentation in allen seinen Werken und Beiträgen, die Kants Faszination bis heute ausmachen. Es ist auch der Mensch, der durch sein Werk einen Humanismus versprüht, der ansteckend wirkt. Das zeigt, dass der Mensch hinter dem Werk nicht nur einzigartig ist, sondern mit und in ihm in seiner ganzen Größe erstrahlt.
Literatur von Kant:
Kant, Immanuel: Kant Werke. Hg. Wilhelm Weischedel, Bde. I. bis VI. Frankfurt a.M. 1964, römische Ziffern ist die Bandangabe, arabische Ziffern die Seitenzahlen. Die gleiche Seitenangabe findet sich jeweils in zwei Halbbände unterteilt in der 12 Bände umfassenden Ausgabe im Suhrkamp Verlag in der „stw“ Reihe, nach der hier zitierten Ausgabe gilt dann Band I. = 1. und 2, Band II. = 3. und 4. etc.
Kritik der reinen Vernunft (1781 / 1787) III.
Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), IV. 7 – 102
Kritik der praktischen Vernunft (1788), IV. 103 – 302
Die Metaphysik der Sitten (1797), IV. 303 – 634
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), IV. 645 – 879
Kritik der Urteilskraft (1790), V. 235 – 620
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht /1798 /1800), VI. 395 – 690
Über Pädagogik (1803), VI. 691 – 761
Literatur:
Adler, Max; Kant und der Marxismus. Berlin 1925
Adorno, Theodor W.; Probleme der Moralphilosophie. (1963) Frankfurt a.M. 1996
Bentham, Jeremy; Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, in: Einführung in die utilitaristische Ethik. (Hg. Otfried Höffe), München 1975, S. 35 – 58
Boehm, Omri; Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität. Berlin 2022
Habermas, Jürgen; Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. 1991
Hartmann, Nicolai; Ethik. Berlin und Leipzig 1926
Hume, David; Über Moral. (Drittes Buch des Traktat über die menschliche Natur 1740) Frankfurt a.M. 2007
Hutcheson, Francis; Erläuterung zum moralischen Sinn. (1728) Stuttgart 1984
Kittsteiner; Heinz D.; Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a.M. 1995
MacIntyre, Alasdair; Geschichte der Ethik im Überblick. Königstein/Ts. 1984
Rawls, John; A Theory of Justice 1971, dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1975
Rawls, John; Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Hegel – Kant. Frankfurt a.M. 2002
Scheler, Max; Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Bern – München 19806
Simmel, Georg; Kant. München – Leipzig 1921, 5. Aufl.
Smith, Adam; Theorie der ethischen Gefühle. (1759) Hamburg 1994
Troeltsch, Ernst; Protestantisches Christentum und Kirch der Neuzeit, in: Die Kultur der Gegenwart, Hg. Paul Hinneberg; Teil I. Abt. IV.1: Die Geschichte der christlichen Religion. Berlin – Leipzig 1909, 2. Aufl., S. 431 – 792
Vorländer, Karl; Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. I. u. II., Hamburg 1992 (1924)
Weber, Max; Politik als Beruf, in: ders. Gesammelte politische Schriften. Tübingen 19713 S. 549 ff.