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Nachwort zur Novelle „Die Frau ohne Gesicht“ von Michael Thomsen

Nachwort zur Novelle „Die Frau ohne Gesicht“ von Autor Michael Thomsen.

Lässt sich aus den Zeugnissen der Zeit um 1930 ein Zeitgeist herauslesen, der wieder in anderer Gestalt zum Tragen kommt und unsere Debatten vergiftet? Und was ist das Destillat der zugrundeliegenden Haltungen? Ich vermeine in den politischen Entwicklungen der letzten Jahre zu erkennen, was da an seltsamen „Werthaltungen“ unsere Demokratie überdauert hat, und diese gefährdet. Es mag sein, dass ich mit der im Nachwort geäußerten Meinung den Bogen etwas zu weit spanne und den Leser mit meinen Gedanken zu sehr an die Hand nehme. Dennoch wage ich es!

„Deutschland über alles“, eine Haltung aus braunen Zeiten schwelt weiter wie ein Moorbrand in vielen Köpfen und bricht teilweise an unerwarteten Stellen los. Manchmal, kaschiert hinter liberal sich gebenden Geistern, werden die Menschen bewertet allein nach Nützlichkeitskriterien und im Sinne einer Gesellschaft, die Wohlstand, Effizienz und Wachstum zu Vokabeln ihrer Meinungsführerschaft erklären; man nennt so etwas auch Neoliberalismus.

Halbwissen und Hörensagen durchdringen die Foren, auf denen sich heute vermehrt menschliches Zusammenleben abspielt. Niemand kann etwas beweisen oder hat etwas Konkretes gesehen. Gerüchte florieren. Distanzlosigkeit bis hin zu Skrupellosigkeit, die früher in den Kneipen noch eingefangen und von Diskutanten zeitnah gemäßigt werden konnten, werden wir heute ungefiltert und distanzlos in sozialen Medien und auf der Straße gewahr.

Moralische Grundsätze scheinen beliebig und empathische Zuwendung und Aufmerksamkeit erscheinen als Ausnahme. Berichtet wird der Skandal, zugehört wird denen, die laut sind. Der Kern, den ich in solchen malignen Äußerungen zu erkennen glaube, schwelt meines Erachtens auch im gesamten konservativ, auch linksliberalen und neoliberalen Lager und findet nicht selten Eingang in eine öffentliche Meinung, die zusätzlich gespeist wird von Halbwissen, Hörensagen oder fake news.

Eine Haltung, die Schwache, (chronisch) Kranke, Alte, Behinderte, Zuwanderer, Asylanten immer nur unter dem Aspekt der Kostenverursachung betrachtet und diese Gruppen weitestgehend ignoriert oder ihnen die Solidarität verweigert, eine solche Haltung ist noch immer weit verbreitet, wurde und wird weitergegeben über Elternhaus und bestimmte politische Parteien, und sie ist nicht weit entfernt von einem Begriff, den die Nationalsozialisten „unwertes Leben“ nannten. Wer der Gemeinschaft nicht zuarbeitet oder nicht zuarbeiten kann, besonders dann, wenn er es könnte und es nicht tut, (Die Nazis nannten diese Menschen „Arbeitsscheue.“) gilt von vornherein als Schmarotzer und wird mit Sanktionen belegt oder verachtet.

Respekt gebührt in unserer Gesellschaft erst mal nur denen, die ETWAS LEISTEN oder geleistet haben. Die Bürger haben gefälligst erst mal in VORLEISTUNG zu gehen, müssen ihre Kraft beweisen und fürs Gemeinwohl erwirtschaften, um sich zum Beispiel eine Rente zu verdienen. Da macht der Staat es ihnen vor: „Schuldenbremse“, „Schwarze Null“, Begriffe wie Warnschilder gegenüber all denen, die es wagen, Forderungen zu stellen.

Bei Kindern drückt man ein Auge zu; sie haben sich aber später als Erwachsene gefälligst als Steuerzahler und nicht als reine Geldempfänger zu gebärden. Sie sollen das Abitur schon nach zwölf statt nach 13 Jahren machen, Effizienzsteigerung eben. Wer den so hart erarbeiteten Besitzstand der Bürger in Gefahr bringt, wird geächtet; erhält bestenfalls den Status eines Aussätzigen, der den Wohlstand als Gefangener, wie im Krieg, oder Hilfsarbeiter mehren, der aber in allen Dingen der gesellschaftlichen Teilhabe entzogen wird.

Aber es gibt ja immer wieder Menschen – wie Lina Gräbig – die zuerst den Menschen sehen und nicht allein den Wert, den er für die Gemeinschaft hat.

Diese abweisenden WERTHALTUNGEN sind bis heute die Basis eines gemeinsamen Nenners zwischen Faschisten, Konservativen und Neoliberalen und haben bis in die Mitte unserer Gesellschaft weite Verbreitung gefunden. Diese Werthaltungen fungieren wie ein tertium comparationis zwischen dem Nationalsozialismus und dem Neoliberalismus, der einem ungehemmten Kapitalismus das Wort redet, und sie leben im Bauch unserer Demokratien fort.

Man will, dass es die eigenen Kinder einmal besser haben und separiert sie von denen, die von schlechtem Einfluss sein können. Gnädig ist man bestenfalls noch mit jenen, die für ihre fehlende Leistungskraft nichts können, ihnen wird dann so etwas wie „christliche Nächstenliebe“ zuteil. Nun ist aber die Würde des Menschen unantastbar! Sie gilt eben auch denen, die sich dem allgemein Erwarteten (bewusst) entziehen oder die die Hürden dafür nicht überspringen können.

Wenn dann noch der scheinbar „Wertlose“ oder „Minderwertige“, entgegen allen Erwartungen, nicht nur erwartete Normen (über)erfüllt und sich erdreistet (haben sollte), einem Nachbarn das Weib auszuspannen, dann schäumt der „Wert-Erhalter“ des Status Quo über und Neid und Missgunst spritzt den Hass als Denunziation heraus. Pawel Bryk, darf noch gutaussehend, kompetent und fleißig sein, wertvoll (gewinnbringend) also, aber wie schön ist es für die Neider, wenn sie sich auf eine Ideologie berufen können, die es bis an die Spitze staatlicher (und juristischer) Macht geschafft hat, und die in dem Wort „Rassenschande“ Bestätigung findet!

Es fehlen Erinnerungen an Lina Gräbig in der Nachkriegszeit. Sie lebte in dem kleinen Dorf ohne Aufmerksamkeit zu erregen und Spuren zu hinterlassen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die handelnden Personen, die an der Gestapoaktion gegen sie beteiligt waren, auch die Denunzianten, alle ungestraft ihrer bisherigen Tätigkeit nachgingen. (Manfred Staub)

Spätestens der unselige Fototermin in Osnabrück, der ihre vermeintlichen „Liebschaften“ mit älteren Männern endgültig ans Licht brachte, dürfte ihren Ruf besiegelt haben. Allein aus datenschutzrechtlichen Gründen wäre so eine Zurschaustellung des gemeinsamen Fotos heute nicht mehr möglich und es hätte damals vielleicht eine Bahnung, wie im Fall Lina Gräbig, nie in der Ausprägung gegeben. Fortan hatte nämlich spätestens jetzt jeder im Dorf mit dieser Brille auf die eigensinnige Frau geschaut. Was heute TOLERIERT wird, war damals nicht akzeptabel.

Kirchliche Moral und nationalsozialistische Gesinnung ließen das einfach nicht zu.

Die Recherchen des Historikers Sebastian Weitkamp machen aber im Nachhinein eine Tragik deutlich, die den Geist der braunen Gesinnungen noch in der jungen Demokratie der Bundesrepublik zeigt und ihn (bis heute?) fortleben lässt.

Lina Gräbig wurde nicht allein bestraft durch die an sie herangetragene öffentliche, negative Meinung mit anschließender Denunziation, auch nicht allein durch den Tod des polnischen Zwangsarbeiters, dessen grausame Hinrichtung sie in gewisser Hinsicht als mitschuldig empfunden haben dürfte, auch nicht allein mit Gefängnis und Konzentrationslager, aus dem die Gefangene mit der Nummer 9954 lebend, aber malträtiert herauskam, auch nicht durch den frühen Tod des Sohnes und des Ehemanns, sondern mit weiterer Meidung und Ächtung im Dorf, sowie durch die Art und Weise des Umgangs staatlicher Behörden mit ihren Anträgen auf Entschädigung und deren Aberkennung und den Rückzahlungsforderungen ihrer bereits zugestandenen Entschädigungszahlungen.

Es ging also nach dem Krieg weiter. War der Corpus beschädigt, so lebte der Geist dennoch fort. Manche trugen ihre braun gefärbte Ideologie noch jahrzehntelang weiter, sie marschierten in den Institutionen noch bevor der Begriff „Marsch durch die Institutionen“ Ende der 60-er Jahre von links erfunden wurde und impften die Nachfahren mit ihrem Gift.

Und heute? Worauf berufen sich all die Hetzer aus der rechten und neoliberalen Sphäre? Nun – es sind eben andere Werte! Nicht Frieden, Solidarität, Nachhaltigkeit, Klimarettung, Naturerhalt, Empathie oder Respekt, sondern Gewinn, Vorteil, Eigeninteresse, Wohlstand, Wachstum, Effizienz und Nützlichkeit stehen vor aufklärerischer Vernunft und ethischen Grundhaltungen.

Diese aus meiner Sicht falschen Prioritätensetzungen in den Gehirnen der mehr rechten und der teilweise linksliberal-grünen Eliten, aber vor allem der (neo)liberalen und konservativen, politischen Landschaft führen zu Gegnerschaft, Respektlosigkeit und über kurz oder lang zum Krieg. Sie gefährden aber sicher langfristig die Demokratie, weil sie immer wieder ansetzen am Selbsterhaltungstrieb und instinktgetriebenen Wunsch nach Anerkennung und Besserseinwollen der meisten Menschen. Ein übertriebener und zur Schau gestellter Stolz auf die eigene Herkunft lässt keinerlei Raum für Selbstkritik und Demut.

Der Geist von 1933 kehrt sukzessive in neuem Gewand zurück. Bürgerinnen und Bürger unseres Dorfes bildeten im Sommer 2024 deswegen eine Menschenkette um das Rathaus.

Wohlstandsgefährder, wie Asylbewerber und Sozialhilfeempfänger („Asoziale“), sowie Andersdenkende und Ausländer werden in den Nachbarschaftsgesprächen, in Kneipen und in sozialen Foren des Internets angeprangert und über öffentlich getriebene Meinung und Lobbyismus bis hin zu sozialpolitischen Entscheidungen, die sogar Gesetzeskraft erlangen, abgestraft; denn sie beanspruchen schließlich, und das unverschämterweise, Geldleistungen aus den Steuergeldern der – in den Reden der PolitikerInnen angesprochenen – „hart arbeitenden“ Bevölkerung.

Der Gesang „Ausländer raus“, noch 2024 „blau“ gesungen, hat etwas, was vor hundert Jahren Menschen hervorbrachte, die jüdische Geschäftsfenster zertrümmerten.

„Die Frau ohne Gesicht“, ISBN 9783759795281

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