Mittwoch, 9. Oktober 2024

Bubi, lass uns Freunde sein

Bubi, lass uns Freunde sein
Das ungereimte (Nach-)Leben des Reimers Bruno Balz

Er ist der erfolgreichste deutsche Schlagertexter überhaupt. Als Homosexueller wurde er zweimal von den Nazis verhaftet und hat zugleich die berühmtesten Lieder des „Dritten Reichs“ geschrieben. Jeder kennt „Kann denn Liebe Sünde sein“ oder „Davon geht die Welt nicht unter“ – und Zarah Leander. Doch kaum jemand kennt ihn: Bruno Balz. Und wenn doch, dann durch eine „Erzählung“, die nicht die seine ist, denn Balz selber hat sich nur spärlich und unverfänglich über sein Leben geäußert und seine privaten Akten bis zehn Jahre nach seinem Tod sperren lassen. Hier waren es Nachgeborene, in erster Linie sein Universalerbe und Rechtsnachfolger, der die Lebensgeschichte von Balz posthum zu einem filmreifen „Drehbuch“ ausgeschmückt hat, aber auch Andere, die um die Deutungshoheit über sein Tun und Lassen in der NS-Zeit gerungen haben, oder die aus Gutgläubigkeit, Sensationslust oder per „copy & past“ so lässig mit Fakten, Daten und Fantasien umgangen sind, dass die sich wie beim Kinderspiel „Stille Post“ irgendwann verselbstständigt haben.

Aber fangen wir mit Fakten an. Bruno Hermann Gustav Balz, genannt „Bolle“, wurde am 6. Oktober 1902 als einziges Kind des Sattlermeisters Friedrich Wilhelm Hermann Balz und der Näherin Emma Eva Neumann in einer Hinterhof-Wohnung in der Schwedter Straße hinterm Berliner Alexanderplatz geboren, und schrieb später: „… Ich habe schon als Schulbub Verse gemacht, einmal sogar einen Aufsatz in Gedichtsform geschrieben, was meinen Lehrer in bewunderndes Erstaunen versetzte. Mit 17 Jahren erzählte ich dann jedem, dass ich Textdichter bin, ich wurde meistens ausgelacht, bis sich doch der junge Komponist Eduard May fand, der mir glaubte und mir eine Melodie zum textieren gab. Da erfuhr ich dann, dass es üblich ist, der fertigen Musik den Text zu unterlegen (…) Da habe ich dann alles, was ich bisher geschrieben hatte, weggeworfen und mich an dieser Art des Textierens gewöhnt. Das ging auch sehr gut, – man braucht ja nur das mit Worten nachzuempfinden, was der Komponist mit seinen Tönen ausgedrückt hat…“

Dieses „nur mit Worten nachempfinden“, war eines der großen Talente des jungen Mannes, das noch größere, dass er in seinen Liedern kleine Geschichten erzählte – mal schnulzig, mal frech, mal sentimental, mal frivol, mal subversiv. Am Ende seines Lebens würden es sagenhafte über 1000 Lieder und über 200 Kinofilme sein, die Balz mit Texten bestückt und mit denen er unbekannte Interpreten zu Stars gemacht hatte.

Abzusehen war das nicht, als er mit 15 eine Lehre als Küfer beim Weinhändler Karbach begann, ein bisschen Klavier- und Englisch-Unterricht nahm und mit 20 erste Gedichte und kleine Texte in Zeitschriften unterbringen konnte. Hauptabnehmer waren die Presseorgane der Homosexuellen-Bewegung. Denn Balz hatte schon mit 17 in einem der „Psychobiologischen Fragebogen“ des Sexualforschers Magnus Hirschfeld freimütig seine sexuelle Orientierung bekannt; er hatte dem avantgardistischen Fotografen Adolf Brand Modell gestanden und der hatte die Aktaufnahme und spätere Ergüsse des jungen Balz über die Sehnsucht nach einer heilen schwulen Welt in seiner Zeitschrift „Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur“ veröffentlicht.

1923 gründete Friedrich Radszuweit den „Bund für Menschenrecht“, der sich für die Rechte homosexueller Menschen einsetzte und in den auch Balz eintrat. Bis zu deren NS-Verbot betätigte er sich als Autor für in der Weimarer Republik noch halbwegs geduldete Publikationen wie „Das Freundschafts-Blatt“ und die „Blätter für Menschenrechte“ sowie als Redakteur der ebenfalls von Radszuweit herausgegebenen „Freundin“, der ersten lesbischen Zeitschrift, die auch Themen wie Transgeschlechtlichkeit u. ä. behandelt hat.

Ein Beispiel für die Balzsche Vers-Produktion, das 1927 bei einem Fest des „Bundes für Menschenrecht“ vorgetragen wurde, in der Zeitschrift „Die Insel“ – dem „Magazin der Einsamen“ erschien und nochmals 1934 auf dem Titel des „Freundschafts-Banner. Zentralorgan der homoerotischen Bewegung der Schweiz“, ist das Gedicht „Wir wachen“: „Wir kämpfen und streiten Jahr um Jahr / Um Freiheit und um Verstehen, / Wir kämpfen und sehen Jahr um Jahr / Das Leid vorübergehen. (…) Es sollen Spott und Unverstand / Uns nicht mehr mutlos machen, / Wir ballen trotzig jetzt die Hand / Und wachen, wachen, wachen! / Und tönt auch noch mancher Verzweiflungsschrei: / „Wir können es nicht mehr tragen!“ / Wir rufen die Arme der Götter herbei: / Noch sind wir nicht geschlagen!“

Nun klingt das alles reichlich schwülstig, aber der junge Dichter sprach mit seinen Versen die Sehnsucht der Community nach einem Ende des unwürdigen sich verstecken Müssen und nach gleichen Rechten für alle an, und hat vielleicht schon hier gelernt, verfängliches „zwischen den Zeilen“ unterzubringen.

(Haupt-)beruflich wurde Bruno Balz zwei Jahre später, 1929, mit seinem Text für den Titelschlagers des ersten abendfüllenden deutschen Tonfilms „Dich hab‘ ich geliebt“ bekannt, den der eingangs erwähnte Eduard May komponiert hatte. Das war der Start für eine Karriere, die durch Mitarbeit am Filmmusical „Viktor und Viktoria“ zur Musik von Franz Doelle 1933 so richtig Fahrt aufnahm. Zugleich aber waren inzwischen die Nazis an die Macht gekommen und kein Homosexueller konnte sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Auch nicht Balz, der 1924 mit „Bubi, laß uns Freunde sein“ den Text zu einer der allerersten „schwulen“ Schallplatten geschrieben hatte, der – mutig oder naiv? – die Publikationen der Homosexuellen-Bewegung belieferte und dessen „Psychobiologischer Fragebogen“ samt Liebesbriefen an Magnus Hirschfeld schon im Mai 33 bei der Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft gefunden worden waren. Umso weniger, nachdem der § 175 nach dem „Röhm-Putsch“ 1935 noch verschärft wurde und der Tatbestand der Homosexualität nun schon als erfüllt galt, wenn „wollüstige Absicht“ unterstell werden konnte, also begehrliche Blicke oder eine harmlose Umarmung ausreichten, um verhaftet, drangsaliert, erpresst oder in ein Lager gesteckt zu werden.

Vorerst wurde Bruno Balz jedoch in Ruhe gelassen. Er war inzwischen zu einem der Top-Autoren des deutschen Schlagers und Films aufgestiegen, lieferte Kassenschlager zu Kompositionen von Franz Doelle, Franz Grothe oder Robert Stolz wie „Auf der Heide blüh‘n die letzten Rosen“ oder „Kleine Möwe, flieg nach Helgoland“. Und er hatte den super-musikalischen, aber arbeitslosen Strawinsky-Hindemith-Schüler Maximilian Michael Andreas Jarczyk kennengelernt. Nach der hübscheren Version des Balz-Erben sind sich die Zwei 1934 zum ersten Mal im Künstler-, Nutten- und Dealertreff „Groschen Keller“ in der Kantstraße begegnet, nach der weniger hübschen der Tochter Jarys auf einer Veranstaltung der NSDAP – für beide wenig schmeichelhaft, die bald zum Dream-Team der Schlagerbranche wurden.

Doch kurz nach der Eröffnung der Olympischen Spiele wurde Bruno Balz im August 1936 bei einer Razzia im Tiergarten verhaftet und kam im Polizeipräsidium am Alexanderplatz in U-Haft. Spätestens hier beginnen die Erzählungen über ihn eine Eigendynamik anzunehmen. Sicher ist nur, dass der Top-Texter wegen eines Vergehens gegen § 175 angeklagt wurde und unter zwei Auflagen wieder freikam: nämlich zukünftig anonym zu arbeiten und zu heiraten. Tatsächlich wurden offizielle Fotos von ihm vernichtet und sein Name aus Vor- oder Abspannen der früheren Filmen getilgt bzw. in Neuproduktionen bis Kriegsende nicht mehr genannt, was wesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dass Bruno Balz vielen bis heute nichts sagt oder aber weiter „unter den Tisch fällt“, wie in den Film-Editionen zum 100. Geburtstag seiner Interpreten Heinz Rühmann 2002 und Zarah Leander 2004, auch wenn Balz offenbar nicht konsequent „unsichtbar“ wurde, denn wenn man ein bisschen gräbt, findet man Notenblätter und Platten mit seinem Namen auch aus den Jahren nach 1936.

Auf der Internetseite, die sein Erbe eingerichtet hat, ist zu lesen, dass Bruno Balz am 12. Januar 1937 von der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin unter dem Aktenzeichen (502) 70 KLS. 27/36 (276/36) zu sechs Monaten Einzelhaft verurteilt wurde und sein Verteidiger ein Dr. Walter Flügge aus Wilmersdorf war, der „nachweislich bis 1943“ zig weitere Prominente „wegen homosexueller Tatvorwürfe“ verteidigt hat. Zu Prozessakten habe ich keinen Zugang, aber diesen Rechtsanwalt und Notar in zwei ganz anderen Zusammenhängen gefunden: Flügge war schon seit November 1933 Mitglied des Präsidialrates der „Reichsfilmkammer“ und taucht Ende 1942 in einer Anzeige für ein Roman-Preisausschreiben des „Völkischen Beobachters“ auf, in der die „deutschen Volksgenossen“ aufgefordert werden, ihre Manuskripte bei ihm einzureichen. Merkwürdig, aber immerhin ist denkbar, dass die inzwischen gleichgeschaltete UFA, die nicht auf Balz verzichten wollte, den staatstreuen Anwalt beauftragt hat, ihn herauszuboxen. Doch es gibt weitere merkwürdige Momente:

Denn wann und wie ist Balz eigentlich wieder freigekommen? Woher auch immer ihre Angaben stammen mögen, wir haben bei den verschiedenen Autoren die Wahl zwischen: nach einigen Monaten, mehreren Monaten, acht Monaten, vor Prozessbeginn, nach der Verurteilung oder einfach „vorzeitig“. Was soll das heißen? Hat man ihn vor seinem Prozess entlassen und nach der Verurteilung wieder eingesperrt, um ihn dann wieder vorzeitig zu entlassen? Wie anders konnte Balz, der gesichert im August verhaftet worden ist, im September im Standesamt heiraten, obwohl er erst „nach Monaten“ aus Plötzensee entlassen wurde? Das bleibt ein Rechenwunder und (mir) unklar…

…Wie andere kleine Details: Bei bruno-balz.com ist unter anderem zu lesen: „Nach der Entlassung… ließ er sich in einer Art Befreiungsakt heimlich in der Pose des Diktators fotografieren und versteckte das Foto in Hitlers ‚Mein Kampf‘ auf Seite 175 in Anspielung auf den § 175“. Das Foto existiert, die Zeit seiner Entstehung und die Platzierung auf dieser Seite könnte aber, wie so vieles, auch der Fantasie des „Biografen“ entsprungen sein.
Oder: Balz hatte unter ein Goebbels-Porträt in einem Film-Almanach „Spottgeburt aus Dreck und Feuer!“ geschrieben; aber hat er dieses Buch, wie es beim Erben heißt, wirklich „als Akt der Provokation … mutig in seine Bibliothek“ gestellt? Konnte einer, über dem als schwuler „Volksschädling“ per se das Damoklesschwert hing – bei aller Verbitterung über Goebbels & Co, die ihn aus der Öffentlichkeit verbannt hatten –, so blöd und unvorsichtig sein? Ich weiß es nicht.

Auch bei der Frau, mit der Balz eine Ehe eingehen musste, können wir „würfeln“, welche Version der Realität am nächsten kommt. Beurkundet unter Registernummer 1116/36 ist, dass Balz am 21. September 1936 in Wilmersdorf eine fünf Jahre jüngere Krankenschwester namens Selma Marie Ernestine Pett aus Lauenburg geheiratet hat. Doch je nach Quelle war diese Selma „eine dem Führer ergebene, schlichte Bäuerin aus Pommern“, irgendeine Frau, „die ihn bespitzeln sollte“, eine „von der Partei zugeteilte, blonde blauäugige Marionette“, eine „unbekannte entfernte Verwandte“ oder, laut Jary-Tochter, „eine Cousine, der er sehr zugetan war.“

Wie nah oder fern sich die beiden gestanden haben, wird wohl nicht mehr feststellbar sein; alle Beteiligten sind tot und die Suche auf den einschlägigen Genealogie-Portalen führt nicht weiter. Diese Selma zog jedenfalls als seine Ehefrau mit in die große Wohnung in der Fasanenstraße 60 ein, in der inzwischen auch seine Eltern lebten, und genoss den Luxus und die Gesellschaft der vielen Künstler, die hier ein- und ausgingen – während Balz weiter einen Hit nach dem anderen produzierte, viele davon zusammen mit Maximilian Jarczyk, der sich nun Michael Jary nannte und bald ebenfalls in das Haus einzog, so dass sie sich ihre Einfälle nun noch direkter zuspielen konnten.

Die meisten der Dutzenden Filme, für die Balz zwischen 1935 und 1943 die Songtexte schrieb und oft auch als Drehbuchautor mitwirkte, sind vergessen, anders als die Lieder, die sämtliche Platten-Verkaufsrekorde gebrochen haben und damals oder später von bekannten Interpreten wie Leo Slezak, Adele Sandrock, Ilse Werner, Rosita Serrano, Pola Negri, Carola Neher, Rudi Schuricke, Vico Torriani, Peter Alexander, Milva, Charles Aznavour oder Marlene Dietrich gesungen wurden.

Vor allem aber waren es Lieder, die Zarah Leander zum Weltstar machten, wie „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ (1937, mit Doelle 1937) oder „Kann den Liebe Sünde sein?“ (1938, mit Jary) und die Songs, die Heinz Rühmann in den germanischen Schauspieler-Olymp hievten, wie „Ich brech‘ die Herzen der stolzesten Frau‘n“ (1938, mit Brühne) oder aber „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ (1939, mit Jary). Balz mochte Rühmann nicht und Rühmann mochte das Lied nicht, und sang es mit seinen zwei Mitdarstellern nur, weil auf die Schnelle kein anderer Song für seinen Film „Paradies der Junggesellen“ aufzutreiben war. Glück für ihn. Es wurde sein größter Hit, von dem er später behauptete, dass er ,,die Größe des Liedes sofort erkannt“ habe. Und er wurde einer der deutschen Durchhalte-Hymnen, denn exakt einen Monat nach der Uraufführung des Films begann Hitler den Zweiten Weltkrieg.

Ist die (missbräuchliche) Nutzung und Auslegung seiner Songs Bruno Balz anzulasten und nur ihm? Balz selbst sagte viel später in einem Fernseh-Interview: „Man konnte es so oder so sehen. Man konnte sagen, von den Bombenhageln geht die Welt nicht unter, oder von den Bösartigkeiten der Nazis.“ Beinahe alle seine Verse und Sehnsüchte waren so doppeldeutig formuliert, dass sie politischen Prüfungen standhielten, und zum anderen beliebig auslegbar waren: subversiv und hoffnungsvoll gegen das Regime, genauso wie zynisch optimistisch dafür. Quasi jede/r konnte sich mit ihnen identifizieren. „Kann den Liebe Sünde sein? Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst?“, haben sich auch Schwule gefragt; dass „einmal ein Wunder geschehen“ würde, haben auch Juden gehofft; mit „davon geht die Welt nicht unter“ haben sich Liebeskummerkranke wie Ausgebombte und Hardcore-Nazis getröstet…

Dass Balz „laviert“ hat, um sich nicht angreifbar zu machen, ist nachvollziehbar. Bei manchen Lesarten lässt sich auch schwer sagen, ob im Nachhinein eine „Absicht“ dazugedichtet wurde oder ob sich Interpretationen „vermischt“ haben. Im Leo-Leux-Song „Hände hoch“ von 1938 ließ Balz zum Beispiel auf einen „tristen Philister“ schießen, was bei dem norwegischen Sänger im Film „Es leuchten die Sterne“ wie „trister Minister“ geklungen haben soll, aber niemanden aufgefallen sei. Nach der Version des (Nachfolger-)Verlags, der den Song damals publiziert hat, hatte Balz aber ursprünglich tatsächlich „Minister“ geschrieben und musste die Zeile „auf höchstministerliche Verfügung“ in „Philister“ ändern.

Bei einem anderen Lied von 1940 ist der süffisante Unterton gesicherter: „Mein Ideal auf dieser Welt, das ist für mich der kühne Held, der große blonde Mann … Die Wirklichkeit sieht aber anders aus … Er heißt Waldemar und hat schwarzes Haar, er ist weder stolz noch kühn, aber ich liebe ihn…“.  Mit anderen Worten sang Zarah Leander hier also, dass sie zwar auf starke „Arier“ stehe, aber – sorry – einen dunkelhaarigen Schlappschwanz liebe. Für diesen „Waldemar“ soll Michael Jary „Modell“ gestanden haben. Die Leander hatte Affären mit Hinz & Kunz und auch eine mit ihm, der eigentlich nicht in ihr Beuteschema passte. Sie und Balz hatten den gleichen Männergeschmack: blond, groß und ein bisschen doof. Es heißt, dass sie gemeinsam auf Jagd gegangen sind und sich ihre Beute auch mal schwesterlich geteilt haben. Obwohl das Hedonisten-Trio einen Hit nach dem anderen lieferte, hat es nicht allen in Adolfs Führungsriege in den Kram gepasst. Die mannstolle Leander sah alles andere als nordisch aus. Jary, der als „Jarczyk“ im Adressbuch stand, galt vielen als Pole. Balz war schwul. Und alle drei zusammen waren für Reinhard Heydrich, den Chef des Reichssicherheitshauptamts, „ein Schlag ins Gesicht eines jeden anständigen Deutschen“.

Doch dann schlugen die anständigen Deutschen zurück. Bruno Balz wurde nochmals von der Gestapo verhaftet. Es ist nicht sicher, ob es dabei überhaupt um ihn ging oder nicht eher darum, die Leander zu demontieren, die Heydrich, Himmler & Co als Protegé von Goebbels aber nicht direkt angehen konnten. Wie schon im ersten Fall unterscheiden sich die Erzählungen darüber, wann und wie diese Verhaftung stattfand und was danach geschah. Selbst wenn das korrekte Datum vielleicht nicht mehr feststellbar ist, fragt man sich, wie all die Autor*innen, die darüber geschrieben haben, zu ihren Angaben gekommen sind. Wir haben hier die Wahl zwischen Sommer 41, November 41, Weihnachten 41 oder Februar 1942. Mal ist nur davon die Rede, dass Balz in „einer kompromittierender Situation ertappt“ worden war. Mal hat ihm die Gestapo ganz konkret eine Falle gestellt und (wahlweise) zu einer Party oder zum Empfang anlässlich des Drehbeginns zum Leander-Film „Die große Liebe“ einen attraktiven Jüngling in seine Wohnung eingeschleust, der ihn ins Schlafzimmer gelockt habe. Nach einer Version schlugen die Beamten zu, als Balz anfing, sich zu entkleiden, nach einer anderen lag das Pärchen bereits im Bett und umarmte sich, und die Gestapo-Leute steckten im Kleiderschrank, fotografierten die Szene und führten Balz halb bekleidet ab…

Im anschliessenden Szenario ist mal von „Einzelhaft im Gestapo-Hauptquartier Prinz-Albrecht-Straße“ die Rede, mal allgemein von „den Folterkellern der Gestapo“. Mal wurde Balz dort „tagelang“, mal „drei Wochen“, mal „mehrere Wochen“ festgehalten und „gefoltert“ oder „schwer misshandelt“.
Darüber, warum er nicht wie andere Homosexuelle einfach in ein Konzentrationslager gesteckt bzw. wie das verhindert wurde, sind ebenfalls verschiedene Fassungen im Umlauf: Mal hat sich Zarah Leander, mal Michael Jary, mal die UFA, mal Joseph Goebbels höchstpersönlich, für ihn eingesetzt, und mal waren es alle zusammen. Nach der gängigsten Version hatte der Ober-Propagandist Film-Komponisten zu sich beordert, die ihm einen Hit wie den vom unerschütterlichen Seemann liefern sollten. Denn an der Ostfront zeichnete sich bereits eine Niederlage der Wehrmacht ab und es sollten dringend „Stimmungsaufheller“ her. Und nachdem Michael Jary erklärt hatte, dass er das ohne seinen Texter, der leider im Knast sitze, nicht hinbekommen würde, habe Goebbels die Freilassung von Balz veranlasst…

Aber welche Variante nehmen wir in punkto Freilassung? Bei einem Autor heißt es, Balz wurde „freigelassen, um innerhalb von 24 Stunden die geforderten Liedtexte zu erfinden“. Bei den nächsten wird er „für 24 Stunden entlassen“ oder er dichtete die Texte noch „in Haft“ bzw. wurde „nach Ablieferung seiner Texte“ entlassen. Beim übernächsten, hier Florian Illies in „Liebe in Zeiten des Hasses“, ist Balz „tagelang gefoltert worden, aber die UFA hat Goebbels signalisiert, dass der neue Film von Zarah Leander nicht ohne Lieder von Balz zu Ende gedreht werden könne. (…) Balz wird im Morgengrauen nach Babelsberg gefahren. Unter den Augen der Gestapo komponiert er dort in nur 24 Stunden zwei seiner größten Songs“. Und zuletzt noch etwas „plastischer“: „Der von schwerster Folter gezeichnete Textdichter“ wurde „mit Morphium schmerzgestillt“ und „mit Pervitin hochgepeitscht“ am „frühen Morgen aus der Zelle geschleift und in eine muffige Baracke verfrachtet…“ usw.

Laut Jarys Tochter wiederum war alles ganz anders und völlig unspektakulär: Die Lieder seien nämlich in Balz‘ Wohnung in der Fasanenstraße entstanden, nachdem ihr Vater seine Freilassung erreicht habe, und Balz sei auch nicht „gedopt“ gewesen. Nun, niemand der späteren „Chronisten“ war dabei, und die Geschichte ist auch ohne Baracke, Folter und Drogen gruselig genug. Gewiss ist nur, dass in ihrem Zusammenhang zwei der bekanntesten Hits des Duos Balz-Jary und der NS-Zeit entstanden: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ und „Davon geht die Welt nicht unter“.

Ob die Texte ein „Befreiungsakt“ oder „testamentarischer Trost“ für Balz waren, wie sein Erbe es formuliert hat, sei dahingestellt; die Auftraggeber fanden offensichtlich zumindest nichts doppelbödiges an ihnen. Der Film „Die große Liebe“ mit Zarah Leander (es war ihr vorletzter UFA-Film, bevor sie Ende 1942 nach Schweden zurückging), wurde mit 28 Millionen Zuschauern der erfolgreichste deutsche Film aller Zeiten und ihre Schlager plärrten bis zum Untergang des „Tausendjährigen“ Reiches aus allen Lautsprechern – in Wohnungen, Luftschutzkellern, Unterständen, KZs und beim „Feind“.

1945, die Nazi-Herrschaft war vorbei, wurde Balz zum dritten Mal verhaftet, nun von den amerikanischen Alliierten. Er wurde wegen Propaganda für das NS-Regime angeklagt, anders als beispielsweise seine Komponisten Michael Jary, Lothar Brühne, Franz Doelle und Leo Leux, die alle vier auf Goebbels‘ handverlesener „Gottbegnadeten“-Liste der „unabkömmlichen“ NS-Kulturschaffenden gestanden hatten, und als einziger Textdichter. Da der § 175 weiter gültig war, hat sich damals kaum jemand geoutet, der das KZ als Träger des „Roten Winkels“ überlebt hatte oder anderweitig wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt worden war – zu groß war die Demütigung, die Scham, die gesellschaftliche Ächtung, und die Gefahr, erneut inhaftiert zu werden. Doch Balz blieb nun nicht anderes übrig, als sein Privatleben offen zulegen, seine Scheinehe, die Homosexualität und den Grund seiner Verhaftungen anzuführen. Er versicherte an Eides statt, dass er nie Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen und nie beauftragt worden war, Propagandalieder zu schreiben, aber seine Texte so gehalten hatte, dass sie keinen Anlass boten, ihn zu verfolgen – und wurde im Oktober 1946 freigesprochen.

Bruno Balz konnte nun wieder unter seinem eigenen Namen arbeiten. 1947, wie Jary immer noch in der Fasanenstraße 60 wohnend, schrieb er die Texte für die erfolgreiche Revue „Melodie der Straße“ im Kabarett der Komiker, war an „Zwischen Gestern und Morgen“, dem ersten im amerikanischen Sektor produzierten deutschen Kinofilm beteiligt und am Aufbau des US-Senders RIAS. In den nächsten Jahren entstanden, wieder mit Jary zusammen, Hits wie „Das machen nur die Beine von Dolores“, weitere Lieder für zig Filme wie „Pension Schoeller“ oder „Tanzende Sterne“ und 1958 verdeutschte Balz auf dessen Wunsch hin Irving Berlins „White Christmas“: „Süß singt der Glocken Ton … Und ein einziger Wunsch stellt sich ein – möchte‘s auf Erden Frieden immer sein.“

1960 schrieb Balz zur Musik von Michael Jary für das Comeback von Zarah Leanders den Titel „Wir wollen niemals auseinander geh‘n“. Doch während sie den Schlager im Studio probierte, soll Jary, der das Interesse an der alternden Diva verloren hatte, ihn ohne Wissen von Balz der jungen, unbekannten Sängerin Heid Brühl übergeben haben. Die Platte, die schließlich mit ihr und nicht mit der Leander aufgenommen wurde, war ein Riesenerfolg, und soll zum Zerwürfnis der Beiden geführt haben. Jarys Tochter führt jedoch an, dass sie viele Jahre später zusammen in einer Doku aufgetreten sind, ihr Vater Balz in seinem Haus besucht und der noch Briefe an den „lieben Maxe“ geschrieben habe. Vielleicht haben sie sich auch wieder versöhnt oder die Tantiemen waren ihnen wichtiger. Jedenfalls konnte keiner von ihnen mehr einen richtig großen Hit landen. Balz zog sich ins Privatleben zurück, bis er Ende 1967 ein unerwartetes Comeback feierte, nachdem er auf Anfrage eines Produzenten seinen Titelsong für einen gefloppten Film von 1941 recycelt hatte, aus dem nun die Schnulze „Mama“ für den elfjährigen Heintje wurde, von der nach seinem ersten TV-Auftritt innerhalb einer Woche 200000 Singles verkauft wurden.

Indes galt in der Bonner Republik der § 175 in der Fassung von 1935 weiter und Homosexuelle mussten sich für ihre Liebe nach wie vor verstecken. Noch zweimal, 1953 und 1966, wurde Bruno Balz wegen des Verdachts auf „gleichgeschlechtliche Unzucht“ angezeigt (die Verfahren wurden allerdings später eingestellt, während es in anderen Fällen bis zur Entschärfung des Paragrafen 1969, der erst 1994 endgültig aufgehoben wurde, etwa 50000 rechtskräftigen Verurteilungen gab). Balz hat vermutet, dass seine Ehefrau hinter den Anzeigen steckte und ihr die Scheidung samt einer großzügigen Abfindung angeboten. Doch Selma Balz soll gedroht haben, seine Homosexualität öffentlich an die große Glocke zu hängen und hat die Scheidung verweigert, wohl auch, weil sie nicht auf ihr Glamour-Leben verzichten wollte. Sie lebte, in dem Haus, das sich Balz in Bayern hatte bauen lassen, bis zu ihrem Tod 1985 in einer separaten Wohnung.

Bruno Balz ist 1988 gestorben. Der ursprüngliche Grabstein der Familie Balz auf dem Friedhof Wilmersdorf existiert nicht mehr. Während auf dem neuen Stein nur er steht und ein QR-Code zur Internet-Seite seines inzwischen ebenfalls verstorbenen Erben, war auf dem alten zu lesen, dass neben Balz’ Eltern sowie Paul, seinem letzten Partner, den er adoptiert hatte, um ohne Probleme mit ihm zusammenleben zu können, auch besagte Ehefrau hier beigesetzt wurde. Aber taugt dies als Beleg dafür, dass die beiden ein gutes Verhältnis zueinander hatten, wie die Tochter von Jary meint? Warum hätte der Mann, der durch Gesetze und Konventionen ein halbes Jahrhundert lang an diese Frau gebunden und gewöhnt war, sie irgendwo anders verscharren lassen sollen? Wie so vieles in Balz‘ Leben kann man es so oder so sehen.

Es ist genauso leicht, Bruno Balz auf einen Sockel zu stellen, wie ihn herunterzuholen oder sich passende Details herauszupicken, um ihn in das jeweils gewünschte Licht zu stellen. Wer fragt schon nach exakten Belegen, wenn es um jemanden geht, der von den Nazis bedroht wurde? Wer fragt schon nach Motiven, wenn Autoritäten Auskünfte geben, die Kraft Verwandtschaftsverhältnis quasi „dabei“ waren? Wer hat Heldengeschichten nicht lieber als trockene Lebensläufe? Wer macht es sich nicht gern leicht, wo doch „Weiß“ oder „Schwarz“ schneller einzusortieren ist als eine ganz bestimmte Nuance von „Grau“?

Dass die Lebensgeschichte von Bruno Balz genug dramatische Momente aufweist und daher unnötig aufgebauscht wurde, steht außer Frage. Da aber offenbar niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wie weit diese Verfälschung geht und welchen Zwangslagen er tatsächlich ausgesetzt war oder nicht, verbieten sich pauschale Schuldsprüche von selbst. Wie bei jeder anderen Person, zu der es mehr Lücken und Legenden als verifizierbare Fakten gibt, bleiben so auch im „Fall“ Bruno Balz – für die einen der geniale Textdichter oder die Schwulen-Ikone, für die anderen „Hitlers Hit-Schreiber“ – vorläufig mehr Fragen als Antworten.

Am Haus Fasanenstraße 60 in Wilmersdorf, in dem Balz und Jary auch nach dem Krieg noch gelebt haben, hängen zwei „Berliner Gedenktafeln“ – eine für den Texter, eine für den Komponisten. Worüber man in den vorhandenen Zeugnissen. und Berichten auch keine Antwort findet, ist die Frage, ob sich die beiden jemals dazu geäußert haben oder ob es ist ihnen überhaupt „aufgefallen“ ist, dass, als sie hier Noten geschrieben, getextet, geliebt, gefeiert und vielleicht auch gelitten haben, neun ihrer Nachbarn deportiert wurden und nicht zurückgekommen sind? Für Helene Konicki, Albertine Soldin, Adolf Zucker, Slata Gulko, Josef Silbermann Ludwig Baruch, Martha Lachmann, Jakob Gulko  und Gerhard Silbermann liegen heute Stolpersteine vor dem Haus; einige von ihnen hatten schon hier gewohnt, als Balz und Jary in den 30er-Jahren eingezogen sind.

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