„Philipp, hier kommt kein Masterplan“
Den Bock umstoßen, das Ruder rumreißen, den Schalter umlegen, jeden Stein umdrehen. Je mehr sich das sportliche Tiefdruckgebiet über dem Fußballstandort Osnabrück festsetzt, desto gewaltiger wird die Niederschlagsmenge an phrasenhaften Metaphern, die in die VfL-Debatten hineinprasselt. Dieses sprachliche Unwetter ist ein psychischer Indikator dafür, wie tief die Ratlosigkeit inzwischen ist, die den VfL befallen hat.
Die sportliche Not ist beim VfL groß. Letzten Sonntag verlor er durch eine desaströse Leistung mit 2:4 in Ingolstadt, obwohl die Wende wortreich beschworen wurde. Selbst „der polternde Rudi Völler“ in den Köpfen der VfL-Verantwortlichen würde mir nicht unterstellen wollen, einen objektivitätsverzerrenden Weizenbierkonsum betrieben zu haben, wenn ich an dieser Stelle konstatiere, dass der VfL gegen den FCI einen noch tieferen Tiefpunkt als den zuvor erreicht hat.
Der sportliche Horizont verdunkelt sich immer mehr. In dieser stürmischen Wetterlage fallen über der VfL-Anhängerschaft immer wieder kommunikationsförmige Hagelbrocken herab, die auf der Ebene der VfL-Verantwortlichen nach dem Schema von Durchhalteparolen gebildet wurden. Sie schlagen aufs Gemüt, weil sie mit jeder weiteren Pleite das Gefühl einer inneren Leere verschlimmern. Denn sie vermitteln den Eindruck, als wären die VfL-Entscheider damit überfordert, die Krise zu bewältigen.
Die VfL-Verantwortlichen diskreditieren ihre eigenen Lösungsvorschläge selbst, sobald sie mit ihren metaphorischen Verweisen auf das semantische Feld der Physik so tun, als wäre der Fußball eine triviale Maschine. Egal, wie viele Steine die VfL-Entscheider noch umdrehen werden – die kausalistisch-naive Suche nach dem ominösen Sieg/Niederlage-Schalter ist zum Scheitern verurteilt, ohne dass sie es vermeiden könnten. Denn: Wer diesen Schalter umlegen möchte, begibt sich auf eine Mission Impossible.
Es wäre schön, wenn es einen verborgenen Hebel gäbe, den die VfL-Protagonisten nur entdecken und betätigen müssten, damit wieder alles gut wird. Aber leider existiert er nur in der schlichten Phrasenwelt des Fußballs, deren Epizentrum der „Doppelpass“ auf „Sport1“ ist. Das, was auf dem Platz geschieht, sind vielmehr körperliche, psychische und soziale Ereignisse, die jeweils unter ihren Eigenlogiken in ihren komplexen Bezugssystemen in ihrer spezifischen Differenz zu ihren Umwelten geschehen, an die sie strukturell gekoppelt sind
Gibt es nach dieser Dekonstruktion der einfachen Physikmetaphern im Fußball noch Hoffnung auf Besserung? Diejenigen, die den VfL noch nicht ganz aufgegeben haben und ihn weiterhin in ihrem Herzen tragen, können diese Frage bejahen. Denn sie können immerhin einen leisen Gesang noch hören, der ein sportliches Happy End symbolisiert.
Nein, es ist keine Operndiva, die hier singt. Daher weicht die Situation etwas von den üblichen fankulturellen Ritualen des psychohygienischen Empowerments ab, mit denen sich die Anhänger eines Vereins den Glauben an den Erfolg selbst einzuflößen versuchen. Es handelt sich in diesem Fall um Hildegard Knef, deren lasziver Gesang gerade noch vernehmbar wohltönend über die Lippen kommt: „Für Osna soll’s lila und weiße Rosen regnen“.
Da auch ich der Knef zumindest auf der untersten Dezibel-Skala noch lauschen kann, ist in mir die Hoffnung auf den Klassenerhalt nicht gestorben. Ich weiß aber, dass ich nicht weiß, wie die Rettung konkret gelingen soll. Daher ist dieser OR-Artikel durch ein wissendes Nichtwissen gekennzeichnet, weshalb ich in Richtung des Geschäftsführers Sport tocotroniciös feststellen muss: „Philipp, hier kommt kein Masterplan“.
Damit wir im Mai – wie von Doc Welling angekündigt – eine rauschende Nichtabstiegsparty feiern können, müssen aus bisherigen Antihelden Helden werden. Auch wenn es ihm die VfL-Öffentlichkeit größtenteils nicht zutraut – Philipp Kaufmann wird in den nächsten Wochen einen abenteuerlichen Rollenwechsel zu bewältigen haben. Vom Sündenbock für die jetzige fußballerische Misere wird der Sportgeschäftsführer zu einem Retter des Vereins werden müssen.
Obwohl er mit seiner dramatisch schlechten Transferpolitik im Sommer die katastrophale Großgefahr des Absturzes in die Regionalliga maßgeblich mitverursacht hat, wird er voraussichtlich im Amt bleiben. Einerseits ist der Beirat anscheinend zu zögerlich, um Personalentscheidungen konsequent zu treffen, und andererseits fehlen ihm die fachlichen Ressourcen, weshalb er ausgerechnet in der größten sportlichen Krise seit 125 Jahren nicht über ausreichende Kompetenzen für ein rationales Problemmanagement verfügt.
Mildernde Umstände sind hierbei zumindest teilweise zu berücksichtigen, zumal das Zaudern des Gremiums einer Schockstarre geschuldet sein könnte. Eine derartige Reaktion ist fanmenschlich verständlich angesichts der überwältigenden Orientierungskrise, die der beispiellose sportliche Niedergang bedingte. Schließlich wähnen sich ja alle, die es mit dem VfL gut meinen, in einem falschen Film. Jedoch reicht es nicht aus, darauf zu warten, endlich aus diesem fürchterlichen Albtraum aufzuwachen.
Stattdessen bedürfte es eines Beirats, der – wenn er sich nach den ganzen Wirkungstreffern geschüttelt hat – aufgrund einer eigenen Expertise kreative Drehbücher für ein Happy End schreiben könnte. Hierzu würde gehören, ohne die Hilfe externer Agenturen kurzfristig machbare Alternativen zum jetzigen Sportgeschäftsführer zumindest in den Blick nehmen zu können. Da das Gremium diese Fähigkeiten nicht besitzt, bleibt ihm nur zu hoffen, dass sich Philipp Kaufmann als Transfermarktheld neu erfindet – und damit die Dämonen besiegt, die seine mangelnden Kenntnisse der bundesdeutschen dritten Liga ausnutzten, indem sie ihm falsche Transferstrategien und -ziele einflüsterten.
Die erste Etappe der erwünschten Charaktermutation des Sportgeschäftsführers zum Heroen aus dem tiefsten Tabellenkellergewölbe könnte schon erfolgreich bewältigt worden sein, denn es spricht einiges dafür, dass Philipp Kaufmann seinen eigenen Mentor eingestellt hat, indem er auf Anraten des VfL-Coaches Pit Reimers den Alt-VfLer Heiko Flottmann als Co-Trainer an die „Bremer Brücke“ lockte. Dessen Erfahrungsschatz in den Nachwuchsleistungszentren – sei es in Bremen oder in Bielefeld – könnte bei den kommenden Transferaktivitäten noch zum „Gamechanger“ werden.
Pit Reimers ist bislang ein tragischer Held beim VfL. Auf dem Fandialog hielt er eine emotionale Rede, mit der er viel Herzblut zeigte. Mit seiner authentischen Begeisterung für den VfL eroberte er die Sympathien des lila-weißen Publikums im Sturm. Allerdings ist seine sportliche Bilanz inzwischen schlechter als die seines Vorgängers, der bekanntlich wegen Erfolglosigkeit gehen musste. Ein bisschen sieht es so aus, als wäre Pit Reimers von seinem Habitus ein Trainer, der gut zum VfL passen könnte, allerdings nicht in dieser Krisensituation.
Der neue VfL-Trainer arbeitete zuletzt beim HSV: einem Verein, in dem zwischen dem Sommer 2021 und dem Februar 2024 „der Walterball“ praktiziert wurde. Dieser extravagante Ansatz eines extremen Ballbesitzfußballs war hochriskant, weil die Hamburger in ihrer Grundformation sehr hochstanden und zur Ausübung ihrer spielerischen Dominanz immer wieder auf Positionen auftauchten, die ihnen an sich fremd waren. Unter Pit Reimers war dagegen der VfL tiefer gestaffelt, aber auch unter ihm tauchten Spieler in Rollen auf, die nicht ihrem Fähigkeitsprofil am besten entsprachen: etwa Kehl auf der Doppel-Sechs, Kayo auf der Zehn oder der rechten offensiven Außenbahn, Gnaase hinten links oder Niehoff hinten rechts.
Ob dieser Flirt mit der vermeintlichen Polyvalenz seiner Spieler noch eine Nachwirkung der Walterball-Sozialisation beim HSV ist oder mehr auf den Unwuchten des Kaders beruht – in jedem Fall wäre Pit Reimers gut beraten, sich an den Trainer zu erinnern, der in seiner Anfangszeit beim HSV der Chef der ersten Mannschaft war, nämlich an Huub Stevens, denn dessen Credo von der Null, die stehen muss, sollte auch der VfL umsetzen, damit der Abstiegskampf gelingt. Und vielleicht kann auch hier Heiko Flottmann als polyvalenter Mentor wirken, der dem Jungtrainer dabei hilft, sich schnellstmöglich mit dem Rüstzeug für den Abstiegskampf auszustatten. Für Pit Reimers Heldengeschichte ist somit ein Gestaltwandel hin zu „seinem inneren Huub Stevens“ erforderlich, der anscheinend noch in ihm verborgen ist.
Unter den Spielern füllt das Ensemble der Antihelden mindestens drei Viertel des Mannschaftsbusses. Da viele von ihnen schon gezeigt haben, dass sie es besser können, gilt es, dieses „alte Fußballer-Ich“ der einzelnen Lilahemden wieder auf dem Platz hervorzuholen. Die Aktiven in Lila-Weiß müssen nicht einmal von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen werden, um die notwendigen Kräfte für den Klassenerhalt zu erhalten. Auf die übermenschlichen Fähigkeiten eines Superhelden sind die Lilahemden auf ihrer Selbstrettungsmission nicht angewiesen, vielmehr würde es reichen, wenn sie zumindest ihre Normalform wiedererlangten.
Hier kommt nun der Mentalcoach ins Spiel, mit dem der VfL seit der Länderspielpause zusammenarbeitet. Er soll die Lilahemden beim Übergang zum Heldentum helfen – wobei er sich auf seiner Homepage wie ein fernöstlicher Schamane gebärdet und weniger als ein Psychologe auftritt, der sich professionell darüber definiert, mit wissenschaftlich anerkannten Methoden die Köpfe der Spieler zu erreichen. Christoph Daum ließ seine Spieler früher über Glasscherben laufen, beim VfL werden nun bei Bedarf Samurai-Schwerter geschwungen und Raucherstäbchen angezündet. Leverkusen verfehlte damals die Meisterschaft, aber vielleicht klettert der VfL ja noch auf Platz 16 – mag die Esoterik auch eine ähnlich dürftige Erklärungskraft für die sportliche Performance haben wie der Unterschied, der darin besteht, ob die Spieler Salat oder Schnitzel essen bzw. Rad fahren oder „Nato-Panzer“.
Damit die Helden, die in der Hinrunde noch Antihelden oder tragische Helden waren, ihr Abenteuer bestehen, müssen sie an den Schleusenwärtern vorbeikommen, die Spieltag für Spieltag den Weg zu den drei Punkten freimachen. Das können Schiedsrichter sein, die keine unberechtigte rote Karte gegen den VfL zeigen, oder Formkrisen, die beim Gegner auftreten und den Lilahemden den Weg zum Erfolg eröffnen. Tritt all das ein, was hier in den letzten Absätzen beschrieben wurde, hieße es am Ende der Saison tocotroniciös: „Heute absteigen, nein danke!“
Falls jedoch die Preußen Münster-Fanszene Fußballgott spielen dürfte und sich damit die desaströse Hinrunde fortsetzen würde, käme das musikalische Begleitprogramm nicht mehr von der „Hamburger Schule“, sondern vom „Ballermann“. „Ingo ohne Flamingo“, der mit „Saufen – morgens, mittags, abends“ ein popkultureller Unfall ist, an dem nicht vorbeigesehen werden kann, hätte als Prediger eines primitiven Eskapismus dann wohl eine große Überzeugungskraft, der etliche tieffrustrierte VfL-Fans schnell erlegen wären, um den Abstieg in die Regionalliga zu verdrängen.
Sollte das schlimmstmögliche Szenario eintreten, wird es wieder etliche ideologisch motivierte Knallköpfe geben, die raunen werden, dass der VfL deshalb sportlich gescheitert wäre, weil er sich angeblich als bewegungsorientierte Vorfeldorganisation des grün-alternativen Milieus verstanden hätte. Die ganze Bullshit-Argumentation kann jedoch nicht überdecken: Der übergeordnete Organisationszweck der VfL-KGaA ist die Produktion des sportlichen Erfolgs, was auch in der lila-weißen Mission niedergeschrieben ist. Sieg/Niederlage ist trotz Salat/Schnitzel bzw. Fahrrad/Nato-Panzer-SUV immer noch die entscheidende Leitdifferenz fürs Handeln und Entscheiden. Denn: Wäre eine sozialökologische Lebensphilosophie wirklich das Maß aller Dinge beim VfL, dann wäre er nicht nach München geflogen, gelten doch Inlandsflüge als CO2-Völlerei.
Letztendlich sind die Nöte von Fußballfans jedoch nur Luxusprobleme. Die echten Katastrophen ereignen sich jenseits der großen Bühnen des Profisports, wie der bestürzende Todesfall von VfL-Fan Fuddel dramatisch vor Augen führte. Nicht nur in der „Brigade Nord“ hinterlässt er eine große Lücke. Seiner Familie sowie seinen Freundinnen und Freunden wünsche ich weiterhin viel Kraft. R.I.P.