Krisenintervention mit der Kettensäge
Die 0:2-Pleite in Köln markierte das Ende aller Illusionen. Der VfL hatte offensichtlich in seiner damaligen Konstellation keine Zukunft mehr. Um den Profifußball in Osnabrück vor dem Untergang zu bewahren, bedurfte es einer Krisenintervention mit der Kettensäge.
Das, was sich nach der XXL-Enttäuschung in Köln beim VfL ereignete, lässt sich mit dem Modebegriff der Disruption bezeichnen, jedoch nicht in einem rechtslibertären lindnerschen Verständnis, sondern in einer klassenerhaltsprogressiven Logik im Sinne Doc Wellings. So wurde – vom Beirat legitimiert – die ökonomisch-sportliche Doppelhierarchie schöpferisch zerstört, damit der VfL in seiner fußballerischen Produktionssphäre unipolar von einem Machtzentrum aus grundlegend neu geordnet werden konnte.
Weniger verschwurbelt ausgedrückt: Der Geschäftsführer Sport – Philipp Kaufmann – ist nun weg, der Geschäftsführer Finanzen – Doc Welling – dagegen noch da, jetzt ausgestattet mit einer sehr viel größeren Machtfülle, als er sie bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2021 eigentlich haben wollte. Er ist als Geschäftsführer für den gesamten KGaA-VfL der neue starke Mann, unterstützt von einem Gremium der Zuarbeiter, die ihm mit ihrem jeweiligen fußballerischen Sachverstand helfen sollen, die richtigen Entscheidungen für den Re-Start zu treffen. Zu den Ratgebern gehört auch Heiko Flottmann, der durch die Politik der kreisenden Kettensäge den Posten des Co-Trainers verlor und stattdessen in den aufgewirbelten Staubwolken des Umbruchs eine neue Mission im Rahmen der Kaderplanung bekam.
Beim VfL herrschte in den Wirren des erneuten sportlichen Absturzes in Köln der Ausnahmezustand – und souverän ist, wer Marco Antwerpen den Trainerjob geben kann. Nach dem väterlichen Uwe Koschinat und dem perfekten Schwiegersohn Pit Reimers holte Doc Welling, bekräftigt von seinen Entscheidungshelfern, einen Trainer, dessen Habitus an die größte Reizfigur der jüngeren VfL-Geschichte erinnert: an Pelé Wollitz.
Trashtalk im Kabinengang, Affektdurchbrüche an der Seitenlinie und verbale Rundumschläge gegen die Schiedsrichter: eine gerechtigkeitsgetriebene Empörung könnte sich wieder beim VfL austoben, um die lila-weißen Ballbeweger an ihr Leistungsmaximum zu bringen. Wollitz und Antwerpen teilen das Schicksal, dass sie dank ihrer Persönlichkeit als „Ghetto-Rapper“ bei „Aggro Berlin“ hätten Karriere machen können, wenn sie nicht Zu-Frühgeborene für dieses Genre gewesen wären.
Wollitz wie Antwerpen haben „die Mentalität der Straße“ in sich. Sie verfügen über ein Konzept der Selbstdurchsetzung, die sich für den Existenzkampf an den eigenen Emotionen berauscht. Nicht nur sie selbst brennen vor lauter Adrenalin und Testosteron, sondern das Feuer ihrer hormonirritierten Kommunikation greift voll auf ihre Spieler über. Wollitz war in seinen besten Momenten ein pro-VfL-sozialer Brandstifter – und Antwerpen kann es hoffentlich werden, auch wenn es vor einem Jahr noch für viele undenkbar gewesen wäre, dass ausgerechnet er das lila-weiße Gemeinwohl mehren könnte.
Eine Wirklichkeitskonstruktion im Modus der Wollitz-/Antwerpen-Affekte macht die „Bremer Brücke“ zur Hood, den VfL-Kader zur Gang und die komplexe Welt wird auf ein „Wir gegen die“ eingestampft. In dieser Logik sind die Gegner Rivalen auf dem Platz, denen fußballerisch eine harte Ansage verpasst wird: mit einem Spielstil, der auf Einsatz und Kampf in höchster Intensität beruht.
Marco Antwerpen passt unter der Bedingung des jetzigen sportlichen Ausnahmezustands perfekt zum VfL – so wie früher die maroden Stadionklos an der „Bremer Brücke“ zum „Fußball muss dreckig bleiben“-Anspruch. Wer Münster, Lautern und Mannheim gerettet hat, kann auch den VfL über den Strich bringen – zumal Antwerpen nicht nur den Charaktertrumpf wollitzartiger Affekte ausspielen kann, sondern auch noch ein Fußballseelenverwandter Magaths ist.
Unter Koschinat wirkte der VfL kommunikativ teilweise wie eine Fußballuniversität. Unser Ex-Trainer redete regelmäßig wie ein junger moderner Laptop-Trainer, der jedoch im Körper eines 53-Jährigen steckte. Antwerpen ist ein Gegenentwurf zu Koschinat, nämlich insofern, als unser neuer Coach nicht das Charisma eines Hochschuldozenten verbreitet, sondern die Autorität eines Oberfeldwebels. Da Antwerpen laut „treffpunkt-betze.de“ für einen straffen Führungsstil steht, werden die Spieler die Illoshöhe und den Schinkelberg vermehrt als einen Kasernenhof erleben, auf dem das Prinzip von Befehl und Gehorsam gilt – während Koschinat seine Ansprachen eher in einer verständigungsorientierten Einstellung gehalten hat.
Mit Magath-Vibes werden die VfL-Spieler nicht nur dann konfrontiert, wenn Antwerpen Disziplin einfordert. Wer denkt, dass der VfL als Arbeitgeber eine Art von Freizeitpark mit lockeren Trainingszeiten ist, wird sich im falschen Film vorkommen – sofern Antwerpen sein „altes Lauterer Trainer-Ich“ scharf schaltet. „Ihr seid nicht nach Kaiserslautern gekommen, um euch hier wohlzufühlen, sondern um den Verein nach vorne zu bringen“, soll er seiner damaligen Truppe gesagt haben. Konkret bedeutete dies: Sonderschichten, teilweise dreimal Training am Tag und einmal sogar eine Laufeinheit um Mitternacht, nachdem zuvor der kämpferische Einsatz bei einem Auswärtsspiel in Magdeburg nicht gestimmt hatte. Mich würde nicht wundern, wenn beim wahren VfL wie früher beim falschen in Wolfsburg unter Magath auch an der Illoshöhe ein Antwerpen-Bootcamphügel aufgeschüttet würde.
Frei nach dem ehemaligen Frankfurter Fjorthof: Ob Antwerpen die Titanic gerettet hätte, weiß ich nicht. Aber die Überlebenden wären topfit gewesen. Anders als das nur scheinbar unsinkbare Kreuzfahrtschiff kentert der VfL noch nicht. Einiges spricht sogar dafür, dass die Mannschaft im Mai nicht nur konditionell gestählt ist, sondern den sicheren Hafen des Klassenerhalts erreichen kann. Denn: Antwerpen ist habituell nicht nur ein „Ghetto Rapper“ und „Oberfeldwebel“, vielmehr ist er auch ein Fußballfachmann, der einerseits laut „treffpunkt-betze.de“ taktisch flexibel sein soll und andererseits seine Mannschaft mit dem von ihm bevorzugten 3-5-2-System kompakter und defensiv stabiler machen kann.
In seiner Neujahrsansprache prognostizierte der VfL-Präsident, dass die Lilahemden den sportlichen Existenzkampf erfolgreich bestreiten werden. Dadurch würde der Massenkader der VfL-Fans eine Kadermutation zu louisvangaalschen Feierbiestern erleben, die auf dem Rathausmarkt völlig enthemmt die Sau rausließen – ganz nach dem Motto: „Der Fahrstuhl auf Platz 16 ist maximal mit Lila-Weiß gefüllt, weil Antwerpen das Ding am Ende noch reinbrüllt“.
Sollte das obige Szenario wirklich so eintreten, würde dem Doc ein großer Dank gebühren: für seine mutige Entscheidung, Marco Antwerpen unter Vertrag zu nehmen, einen Trainer, der wegen seines polarisierenden Verhaltens und seiner Preußen-Vergangenheit für nicht wenige VfL-Fans ein „schwarz-weiß-grünes Tuch“ ist. Diese Personalie widerlegt nebenbei alle geifernden Kritiker*innen einer vermeintlich woken Organisationskultur beim VfL – seien die jeweiligen Wutfans rechtslibertär, rechtskonservativ, rechtspopulistisch, rechtsradikal oder sogar rechtsextrem. Wer Marco Antwerpen als Coach verpflichtet, wird wohl kaum ideologisch getrieben eine „links-grün versiffte Agenda“ verfolgen. Stattdessen ist ein Pragmatismus handlungswirksam, der voll und ganz auf den sportlichen Erfolg ausgerichtet ist.