Sonntag, 5. Mai 2024

Wortmann wortwörtlich: Heute vor 80 Jahren begann der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion

Erinnerung an ein grausames Ereignis

Vor achtzig Jahren, am 22. Juni 1941 eröffnete Hitler mit dem Angriff auf die Sowjetunion die wegweisende Eskalation im Zweiten Weltkrieg. Das „Unternehmen Barbarossa“, so der Deckname, war bereits 1940 erwogen worden, am 18. Dezember 1940 als „Fall Barbarossa“ zur Planung gebracht, im Frühjahr wegen der Serbienkrise verschoben und dann im Juni realisiert worden. Was Reichspropagandaminister Joseph Goebbels als „tiefe Genugtuung“ in seinem Tagebuch vermerkte, das war für die betroffenen Menschen in der Sowjetunion der Einstieg in die Hölle. Denn, wie Goebbels weiter notierte, wogegen man sein ganzes Leben gekämpft habe, „das vernichten wir nun auch.“

Der  „Weltanschauungskrieg“ zur Ausrottung des „jüdischen Bolschewismus“ eröffnete auf dem Boden der Sowjetunion ein neues Kapitel der Kriegsgeschichte. Hier wurden die Regeln des „Kriegsvölkerrechts“ per Befehl des Führers als Oberbefehlshaber der Wehrmacht für die deutschen Truppen außer Kraft gesetzt und eine als „rassisch minderwertig“ disqualifizierte Bevölkerung teilweise zur Vernichtung freigegeben. Der Hakenkreuzzug hatte aber noch einen weiteren Zweck: die Eroberung des erforderlichen Lebensraumes für die „germanische Herrenrasse“ als Basis für den „Kampf um die Weltherrschaft“.

Das Ausmaß an Leid und Grausamkeiten dieses Krieges, der zugleich einen Zivilisationsbruch darstellt, ist mit dem Verweis auf geschätzte über 27 Millionen Kriegstote auf sowjetischer Seite, davon 14 Millionen Zivilisten, ca. 6 Millionen im Kampf gefallene Soldaten, 5,7 Millionen Kriegsgefangene, 2,4 Millionen ermordete Juden zwar quantitativ einigermaßen zu erfassen, aber nicht zu begreifen. Allein die unvorstellbare Aushungerung Leningrads vom 8. September 1941 bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1944 kostete nach Schätzungen über eine Millionen Menschen das Leben unter Umständen, die sich nicht in Worte fassen lassen.

Wer hier geneigt ist, diesen Krieg und seine Zielsetzung als größenwahnsinnigen Unfug abzustempeln, dem sei gesagt: „Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Um die „Methode“ zu verstehen, bedarf es eines Einblicks in die „Weltanschauung“ und die politischen Ziele Hitlers und der Nazis, die das alles mit offener oder duldender Unterstützung der deutschen Bevölkerung angerichtet haben. Und vielleicht erklärt sich daraus auch, warum diese brutalste Seite des Zweiten Weltkrieges in der westdeutschen Erinnerungskultur einen so geringen Stellenwert hat.

Der „Weltanschauungskrieg“ und der Kampf um Lebensraum

Man weiß heute, dass der Herrschaftsapparat des „Dritten Reichs“ kein monolithischer Block war, der einheitlich von oben durchstrukturiert geführt wurde. Aber im Bereich der Außenpolitik und ab 1938 in der Kriegführung lag die politische Ausrichtung fest in der Hand des Führers. Es war das Politikfeld, das Hitler allein wirklich interessierte, denn hier vollzog sich das, was er als seine Bestimmung ansah. Uns berechtigt es, die Suche nach den Zielen und Motiven der deutschen, genauer der nationalsozialistischen Außen- und Kriegspolitik zu personalisieren.

In der Anfangsphase seiner Kanzlerschaft schien Hitlers Außenpolitik sich noch in den Pfaden einer bei den deutschen Eliten unbestrittenen Politik der Revision des Versailler Vertrags zu bewegen, die auch in weiten Kreisen der Bevölkerung Zustimmung fand. Ein Plan war kaum erkennbar, Hitler nutzte jedes „Fenster der Gelegenheit“, um die „Fesseln des Schandvertrages von 1919“ auch durch kalkulierte Brüche des Völkerrechts zu lockern oder gar abzustreifen. Was er da ohne eine einzige Kriegshandlung an Ernte einfuhr, verdankte er zwar der Duldsamkeit der anderen, vor allem der westlichen Mächte, steigerte aber sein Ansehen als Tatmensch enorm. Mit der Eröffnung des nicht sehr populären Krieges gegen Polen am 1. September 1939 wurde erkennbar, dass es nun um mehr als „nur“ eine Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges ging.

Hitlers Ziele waren eigentlich kein Geheimnis. Man konnte sie in seinem Bekenntniswerk von 1925 Mein Kampf lesen, was man aber nicht tat, oder man nahm sie nicht ernst. Er setzte sich dort im vorletzten Kapitel des 2. Bandes „Ostorientierung oder Ostpolitik“ von den „Revisionisten“ und den klassischen Konservativen, aber auch von jenen völkischen Kreisen ab, die mit einer Ostallianz liebäugelten. Sie alle orientierten sich an der Wiederherstellung der Grenzen von 1914 und der Wiedererlangung der verlorenen Kolonialgebiete.

Das hielt Hitler für „politischen Unsinn“. Weder könne die notwendige Raumerweiterung durch Kolonien in Afrika noch in den Gefilden alter Germanenzüge nach Westen oder Süden, sondern nur gen Osten erfolgen. Der Drang nach Osten war nicht neu, er gehörte schon zum Gemeingut der herrschenden Eliten im Kaiserreich. Neu war auch nicht die viel weiter reichende Zielausrichtung zur „Weltherrschaft“, neu waren die durchgängig „rassenbiologische“ Begründung und die damit verbundenen Konsequenzen.

Hitlers Ausgangspunkt war in dem angesiedelt, was man in völkischen Kreisen und bei den Nazis „Weltanschauung“ nannte. Das war keine wissenschaftliche Erkenntnis, auch keine rational strukturierte Ideologie, die sich immerhin einer inneren Logik unterwerfen muss. Weltanschauung war die Metapher für ein irrational gesetztes Willensbekenntnis, das man teilt oder nicht. Es beruht nicht auf diskursiver Überzeugung durch Argumente, weshalb Diskussionen diesen Tatmenschen bis heute ein Gräuel sind. Es sind gemeinschaftsbildende Überzeugungen sui generis, die man teilt oder nicht, und dadurch gehört man entweder zur „Volksgemeinschaft“ oder steht außerhalb. Eine rassisch homogene Volksgemeinschaft, gesäubert von allen abweichenden Krebsgeschwüren, war denn auch die innere Voraussetzung für den kommenden „totalen Krieg“.

Aber auch das Irrationale hat noch eine gewisse Systematik. Für Hitler beginnt alles mit einer biologischen „Tatsache“, dass das Leben  Kampf ist. Ein ewiger Kampf ums Dasein, um knappe Güter und knappen Raum. Die Akteure sind aber bei ihm nicht wie im liberalen Sozialdarwinismus konkurrierende Individuen, sondern in Rassen getrennte Völker. Sie müssen um ihren Platz kämpfen. Und nur wer diesen Kampf führt und besteht, wird überleben. Aufgabe der Politik des völkischen Staates ist es, das dynamische organische Wachstum des Volkes durch ausreichenden Lebensraum zu sichern. Aber während das Leben und das Volk  dynamisch sind, wachsen wollen und müssen, ist der Raum statisch. Hier entspringt ein Konflikt mit der modernen Staatenwelt und ihrer abstrakten juristischen (und deshalb „jüdischen“) Völkerrechtskonstruktion der formellen Gleichberechtigung aller souveränen Staaten sowie dessen Identität mit einem Territorium. Um dieser Sperre zu entkommen, wird der Bezug auf den Staat ersetzt durch das „Reich“. Der Staat spielt in Hitlers Weltanschauung als formales Rechtssubjekt keine Rolle. „Staatsgrenzen werden durch Menschen geschaffen und durch Menschen geändert.“ Die neue Einheits- und Herrschaftsformel lautet deshalb: Ein Volk, ein Reich, ein Führer!

Mit der raumorientierten, auch „geopolitisch“ genannten, Sichtweise wäre Hitler noch anschlussfähig an die altkonservative Denkweise. Der Bruch damit erfolgt an zwei Stellen. Ein Fehler lag in der „Bündnispolitik“ vor dem Weltkrieg, denn statt zu „einer gesunden Bodenpolitik“ griff man zur „Kolonial- und Handelspolitik“, die im Weltkrieg endete. Der richtige Weg wäre die „Stärkung der Kontinentalmacht durch Gewinnung neuen Bodens in Europa“ gewesen, wo im „Bunde mit England“ Kolonien nur eine Rolle zugewiesen wird. Hitlers Hoffnung und Glaube, sich mit England auf eine Machtaufteilung einigen zu können, findet sich noch im Hoßbach-Protokoll vom 5. November 1937. Dort mahnt er die Kriegsfähigkeit bis spätestens 1943/45 an, als Ziel nennt er die Schaffung eines großen Kolonialreiches in Europa, während Großbritannien sein Imperium in Übersee behalten möge.

Die Raumeroberung als politischer Imperativ erhält bei Hitler eine ganz andere Dimension. Es sei das Recht und die Pflicht des Nationalsozialismus, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern.“ Kriterium ist dafür die eigenständige Sicherung der Ernährung, erweiterbar um lebens- und kriegswichtige Rohstoffe. „Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichert einem Volk die Freiheit des Daseins.“ Was Länder wie die USA und auch Russland schon haben und die Briten sich weltweit mit ihrer Seemacht erbeuten, das muss das deutsche Volk noch für sich erwerben. Nicht zuletzt die Erfahrungen im Weltkrieg zeigten die große Bedeutung einer gesicherten Selbstversorgung des Volkes. Die „Autarkiepolitik“, also die möglichst vollständige Unabhängigkeit von anderen, insbesondere von solch abstrakten und nicht beherrschbaren Gesellen wie dem „Weltmarkt“, ist als strategische Voraussetzung für die Selbstbehauptung und damit auch die Kampffähigkeit zu sehen.

Nun orientiert sich der Bodenbedarf für den „Lebensraum“ bei Hitler aber nicht an einer gegenwärtigen Größe, sondern an der potenziellen und notwendigen, und die bemisst sich an der Befähigung zur Weltmacht, gemäß dem Credo: „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein“. Die dafür erforderliche Größe kann im Unterschied zu früher weder im üblichen Germanenzug nach Süden und Westen Europas noch in den überseeischen Kolonialgebieten liegen, sondern allein in „dem Land im Osten“, und dabei könne man „in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken“. Hier vor „unserer Haustür“, nicht in Afrika, liegt „Deutschlands Indien“, und zwar räumlich integriert in ein gesamteuropäisches, germanisches Kolonialgebiet als Reichseinheit.

Im Krieg nimmt das im „Generalplan Ost“ konkrete Formen an. Das Zentrum lag in den besonders fruchtbaren Gebieten des östlichen Teil Polens, in Weißrussland, in der Ukraine und in westlichen Teilen der Sowjetunion. Niederländer sollten beispielsweise weiter östlich wegen ihrer historisch erwiesenen Fähigkeiten bei der Trockenlegung von Sümpfen zum Einsatz kommen. Die zur Umsiedlung vorgesehenen Bevölkerungsgruppen variierten je nach Radikalität der Planungen zwischen 30 bis 50 Millionen Menschen.

Wer glaubt, es handle sich bei der Gier nach Ostland um eine Marotte der Nazis, liegt falsch. Das Staatsgebiet des weltgrößten Flächenlandes Russland erkannte der britische Geopolitiker Halford J. Mackinder schon 1904 als das Herzstück der zukünftigen Machtverteilung in der Welt. Sein Diktum lautete: Wer diese unermessliche Landmasse beherrscht, beherrscht im „postkolumbianischen Zeitalter“ der Ablösung der Vorherrschaft der Seemächte durch die Landmächte die Welt. Die Nazis liefen hier keinem Phantom hinterher.

Angesichts solch großer Ziele war eine dauerhafte Kooperation mit dem Osten zwar ausgeschlossen, aber taktische „Allianzen“ wie Rapallo oder später der „Hitler-Stalin-Pakt“ keinesfalls. Da kannte man keine Skrupel. Die Freunde von heute wurden die Beute von morgen.  Die Ostgebiete waren zwar räumlich das Objekt nazistischer Begierde, aber das Endziel war seine Eroberung und Besiedlung nicht. Der Ausbau einer kontinentalen Hegemonie durch Eroberungen im Osten war, weiter gedacht, lediglich die erforderliche Basis für die absehbare Entscheidungsschlacht um die Weltherrschaft. Und dazu, glaubte Hitler, sei die germanische Rasse mit ihm als Führer nicht nur auserkoren, sondern schicksalhaft gezwungen.

Die ebenso rassistische wie mystische Aufladung dieser Mission des „Dritten Reichs“ fand ihre Fortsetzung in der Diskriminierung der potenziellen Opfer. So wird die Minderwertigkeit der „slawischen Rasse“ mit ihrer angeblich generellen Unfähigkeit zur eigenen Staatsbildung belegt. Die Degradierung dieses Volkes zu „Untermenschen“ war für die  enthemmte Kriegsführung psychologisch von enormer Bedeutung. Als trügerisch erwies sich dagegen die rassistisch gesicherte Erkenntnis, die Eroberung der Ostgebiete werde durch die Machtübernahme des destruktiven Judentums in Gestalt des Bolschewismus in Moskau zur  leichten Beute, weil der „jüdische Bolschewismus“ dem russsichen Volk die Intelligenz geraubt habe. Hitler orakelte schon in Mein Kampf, mit der Vernichtung des Weltjudentum und seiner Ableger, allem voran dem Bolschewismus, wird „das Ende der Judenherrschaft in Russland (wird) das Ende Russlands als Staat sein.“ Wir seien so Zeugen einer Katastrophe, die eine „Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“ Das Projekt der Eroberung des Lebensraumes ergänzte sich optimal mit dem „Weltanschauungskrieg“ gegen den „jüdischen Bolschewismus“ und fand seine praktische Ausformung in der daraus folgenden Kriegsführung.

In ihrer inneren Logik litt diese „Weltanschauung“ an ihrer Ziel- und Maßlosigkeit. Ihr bewegendes Element ist allein der Kampf. Der aber ist nicht mehr Mittel zur Erlangung eines definierten Zweckes. Der Kampf wird zum Selbstzweck, weil nur im Kampf jene Dynamik erhalten bleibt, die das Volk zum Wachsen bringt. Nichts ist unvorstellbarer als die Idee, Hitler und seine Bewegung hätten sich am Ziel erklärt und zur Ruhe gesetzt. Der Führer pflegte zu verbreiten, er kenne das Wort „Kapitulation“ nicht, er hätte hinzusetzen müssen: „Saturiertheit“ auch nicht.

Die situative Ausgangslage – Kriegszwang

Nimmt man diese Generallinie der „weltanschaulich“ begründeten Mission zur Grundlage, liegt die Vermutung nahe, dieses sei ein langfristig angelegter Plan. Das ist nicht der Fall. Erstens lag es in der Führerlogik, dass sich das noch innerhalb der Lebenszeit des „Auserwählten“ selbst vollziehen musste. Zweitens verschärften Rahmenbedingungen die Eile, denn man wähnte sich in einer militärisch komfortablen, aber nicht allzu lange anhaltenden Situation. Außerdem erforderten unerwünschte Umstände zeitraubende taktische Wendungen.

Es begann mit der Verschiebung des Kriegseintritts vom Frühjahr auf den Sommer, weil im Frühjahr 1941 die Serbienkrise dazwischen kam. Nach deren Erledigung, es war der letzte erfolgreiche „Blitzkrieg“, erhielt der Angriff auf die Sowjetunion, neben der Lebensraumeroberung und der Vernichtung des „jüdischen Bolchewismus“, noch einen weiteren Aspekt.

Der durch die Kriegserklärungen Frankreichs und Großbritanniens als Reaktion auf den Überfall auf Polen erzwungene Krieg gen Westen ergab ein zwiespältiges Bild. Da sich  England nicht als gleich schwacher Gegner wie Frankreich herausstellte (Sitzkrieg), der Luftkrieg kein „Blitzkrieg“ war und keine Entscheidung brachte und das Unternehmen „Seelöwe“, der Versuch einer direkten Eroberung der Insel als nicht durchführbar storniert wurde, blieb die Herausforderung im Westen durch Großbritannien nicht nur bestehen, sie wurde gestärkt durch die Befürchtung Hitlers, dass England auf eine Allianz mit der  Sowjetunion, aber vor allem auf die baldige Unterstützung der USA setze. Da die USA ab 1942 als kriegsfähig eingeschätzt wurde, war nun Eile geboten.

Zunächst erfolgte eine Umkehrung der kurzfristigen Kriegsziele. Der Sieg über England war nicht mehr die Basis für den Ostfeldzug, sondern der Sieg über den „Festlanddegen“ Sowjetunion nun  die Voraussetzung für den Sieg über England. So entstand die Idee, die Sowjetunion sei für Großbritannien so etwas wie der „Festlanddegen“ mit dem man Deutschland in die Zange nehmen könnte. Der musste nun zerschlagen werden, danach könne man sich den Briten widmen, bevor die USA ihre Kraft in die Waagschale werfen könnte.

Alle Hoffnungen stützen sich auf die bis dahin großartigen Erfolge der Blitzkriegstrategie. Das gesamte Eroberungsprogramm für die Sowjetunion musste nun in einem Zeitraum bis Jahresende 1941 erledigt werden. Alle für die kommende Herausforderung des Kampfes mit den USA, also um die Weltherrschaft, erforderlichen Ressourcen mussten nun in einer unglaublichen Geschwindigkeit erobert und nutzbar gemacht werden. Eine Strategie, für die man eher in Jahren oder Jahrzehnten rechnen würde, verkürzte sich nun auf Monate.

Die Knappheit der Zeit verlangte für die Eroberung des Raumes Schnelligkeit um jeden Preis. Da war ein ideologisch ohnehin unproblematischer Vernichtungsfeldzug kosten- und zeitsparender als eine reguläre Kriegsführung. Das momentan Nützliche und Erforderliche verband sich mit der ideologischen Grundeinstellung und gab der neuen Form des Krieges  zusätzliches Gewicht und Dynamik. Insofern ist die Formel von der „Befreiung Europas von der jüdisch-bolschewistischen Pest“ eine Camouflage, die in der allgemeinen Feindschaft bestimmter Kreise gegen die Sowjetunion dem Vernichtungskrieg den Charakter eines Allgemeininteresses und einen Defensivtouch beimischte. Ein öffentlich erklärtes Kriegsziel der Raumeroberung und Vernichtung minderwertiger Völker im Namen des notwendigen und berechtigten Lebensraumes für eine selbsternannte Herrenrasse hätte selbst für den Reichspropagandaminister Goebbels eine Herausforderung dargestellt. Antibolschewismus war dagegen erweitert konsensfähig. Ein „Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus“  fand als „gerechter Krieg“ sogar den Beifall der Kirchen. Die freiwillige Unterstützung für den Russlandfeldzug von Sympathisanten außerhalb des Reiches war enorm. Aus nahezu allen europäischen Ländern stellten die Freiwilligen-Formationen schon zu Beginn des Feldzuges 600.000 Mann und wuchsen auf 2 Millionen. Jeder Dritte war im Russlandkrieg auf deutscher Seite ein Nichtdeutscher.

Allein einige „weltanschauliche“ Einschätzungen erwiesen sich als fehlerhaft. Der „Blitzkrieg“ hielt sich nicht an die Erinnerung von 1918, als deutsche Truppen in kürzester Zeit bis zu 1000 km ins Innere des russischen Reiches eindringen konnten, um den Friedensbedingungen von Brest-Litowsk Nachdruck zu verleihen. Schon im Juli 1941 drohte Deutschland der Verlust der strategischen Initiative. Die erwartete Einkreisung sowjetischer Truppen gelang nur unzureichend, die Rote Armee blieb kampffähig. Stalins Regime war kein „Koloss auf tönernen Füßen“. Die „Untermenschen“ waren nicht die erwartete leichte Beute. Einen Plan B gab es nicht. Und die Situation verschärfte sich, denn das schnelle Springen von Angriff zu Angriff, die ewige Offensive geriet ins Stocken. Man kannte nur den Vorwärtsgang, keinen Leerlauf und schon gar keinen Rückwärtsgang. Stillstand war schon Untergang.

Dabei häuften sich die Probleme an allen Fronten. Die Realisierung der Umsiedlungspläne des „Generalplan Ost“ stand unter einem immer größeren Zeitdruck und konnte nur gelingen, wenn die Umsiedlung auszugliedernder Menschenmassen in menschenleere Räume vollzogen werden konnte. Das betraf achtzig Prozent der polnischen, zwei Drittel der ukrainischen und drei Viertel der belorussischen Bevölkerung, die in weiter östlich gelegene und weit geringer fruchtbare Gebiete transferiert werden sollten. Dafür fehlten jetzt schon die Ressourcen, und der Nachschub gestaltete sich umso schwerer, je näher der Winter rückte.

Die Kriegsnotwendigkeiten ergaben sich nicht mehr aus der Strategie, sondern zunehmend aus Nöten knapper werdender Ressourcen wie Rohstoffe, Ernährung, Sicherheit und Arbeit. Das war weder versorgungstechnisch realisierbar noch reichte die faktische Armut auf dem sowjetischen Lande, um die deutschen Massenarmeen daraus ernähren zu können. Von Juni bis Dezember 1941wurden jenseits von Kampfhandlungen mehr als 1,5 Millionen Menschen von deutschen Einsatzgruppen umgebracht oder dem Hungertod übergeben. Es entstand ein Konflikt zwischen Hungertod und nötigen Arbeitskräften, die fatalerweise die Zahl der Hungrigen erhöhten.

Probleme bereitete zudem die forciert betriebene „Entjudung“ der eroberten Landstriche. Alle Deportationen, nicht nur die Überseepläne (Madagaskar), stießen auf logistische Probleme und gerieten in Konkurrenz zu anderen militärischen Erfordernissen. Selbst Massenerschießungen waren kein Mittel mehr, sie kosteten Munition und schufen Probleme mit den „einfachen Soldaten“, die solchen Gewaltexzessen nicht alle gewachsen waren. Diese situativen Umstände erklären, warum sich der ganz große Teil der über 14 Millionen außerhalb von Kampfhandlungen getöteten Menschen während des Zeitraumes seit 1933 auf die Zeit von 1941 bis 1945 konzentriert. Der „Weltanschauungskrieg“, eigentlich eher ein Deckmantel für Vernichtungskrieg, fand hier seine aus der Kriegslogik sich ergebenden zusätzlichen Sachzwänge, die den Wahnsinn zur scheinbar rationalen Methode werden lassen. Mit Rückgriff auf die rassenmäßige Gewichtung wurde eine kostensenkende Vernichtung in speziellen Lagern mit Gas als eine bessere und angemessenere Liquidierungsmethode entwickelt. Und damit fand der Zivilisationsbruch noch eine weitere Steigerung. Die systematische Umsetzung beschloss die „Wannseekonferenz“ am 20. Januar 1942.

Eigentlich war Ende 1941 für Nazi-Deutschland im Osten die Messe gelesen. Aber eine drohende Wiederholung des „ehrlosen 1918“ musste verhindert werden. Abbruch der Kampfhandlungen, Friedensschluss, das wäre Kapitulation, und das war das Unwort schlechthin. Wenn schon Rückzüge, dann um den Preis verbrannter Erde. Und je mehr Rückzüge auf den Offensivdrang folgten, desto intensiver wurde in der Propaganda aus dem Krieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ ein „gesamteuropäischer Freiheitskrieg“, der das „Abendland“ gegen den Bolschewismus stellte. Aber diese Attitüden, mit denen später etliche Nazis die letzte Hoffnung verbanden, die Front der Alliierten könnte brechen und man könne zu guter Letzt wenigstens noch an der Seite des Westens gegen den Bolschewismus ziehen und damit auch günstiger aus dem Krieg herauskommen, scheiterten an der dann geforderten „bedingungslosen Kapitulation“. Sie verhinderte auch eine Wiederauflage der „Dolchstoßlegende“ von 1918. Es gab keinen Hagen, der dem Siegfried den Speer in den Rücken stieß. Siegfried wurde besiegt. Nach der eigenen Logik war mit dem Einmarsch der „Untermenschen“ in Berlin das „Gottesurteil“ gefällt. Das deutsche Volk hatte im Rassenkampf ums Dasein versagt und musste sich als Herrenrasse verabschieden, wer immer da folgen würde.

Die neue Kriegsführung – der „Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg“

Anders als im Westen galten im Osten explizit andere Regeln im Krieg. Dieses Kapitel soll nur kurz dokumentiert werden, indem es für sich selbst spricht. Wer immer Zweifel daran äußert, was und auf wessen Befehl „da im Osten“ passierte, ist – wenn überhaupt – vielleicht durch ein paar signifikante Fakten zu belehren.

Am 30. März 1941 unterrichtete Hitler die Wehrmachtsgeneralität über den sich neu darstellenden Charakter des nächsten Krieges als „Weltanschauungskrieg“, Widerspruch erntete er dort für seine außergewöhnlichen Ausführungen nicht. Ausgehend von der Einschätzung, dass England den Fehler begehe, einen möglichen Frieden auszuschlagen und seine Hoffnungen in USA setze, müsse für die dann erforderliche weltweite Kriegsfähigkeit zuvor die Landfrage, die Sowjetunion, gründlich gelöst werden. Aufgabe gegenüber Russland sei es, die „Wehrmacht zerschlagen, Staat auflösen.“ Dieser Krieg sei  der „Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander.“ Der Bolschewismus sei „asoziales Verbrechertum, der Kommunismus eine ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf.“ Andernfalls würde der Kommunismus wieder auferstehen. „Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren.“ Das impliziere: „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz.“ „Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft.“

Konkretisiert wurden diese Ausführungen durch den „Kommissarbefehl“ vom 6. Juni 1941: „Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen.“ Das gelte v.a. für politische Kommissare aller Art, deshalb seien sie zu vernichten. Bis Sommer 1943 fielen diesem Befehl über 10.000 „bolschewistische Kommissare“ durch Aktivitäten von Sondereinheiten der SS, des Sicherheitsdienstes (SD) und auch Wehrmachtseinsätzen zum Opfer. Der „Kommissarbefehl“ machte jeden politischen Funktionsträger, oder wen man dafür hielt, vogelfrei. Die Ausrottung der „Intelligenz“ oder „Eliten“ konzedierte immerhin das Paradox, dass es auch unter „Minderwertigen“ Übermenschen gab. Der Bolschewismus mutierte von einem weltanschaulichen zu einem physischen Problem.

Eine „Geheime Kommandosache vom 2. Mai 1941, Befehl des Befehlshabers der Panzergruppe 4, Generaloberst Hoepner zur bevorstehenden Kriegsführung“ fasst die kommende Mission mustergültig zusammen:

„Der Krieg gegen Russland ist ein Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russland zum Ziel haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muss in Anlage und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen, völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein. Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems.“

Die verdrängte Erinnerung an die großen Verbrechen

Die Nachbereitung des Trauerspiels ist seine Verlängerung. Was immer man an „Aufarbeitung der Vergangenheit“ oder als „Vergangenheitsbewältigung“ geleistet haben mag, im Westen Deutschlands kam das schlimmste Kapitel des Zweiten Weltkrieges offiziell nicht vor. Wenn es jetzt überhaupt in Erinnerung gerufen wird, was sicherlich ein Verdienst unseres gegenwärtigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ist, dann muss er allerdings konstatieren, der Krieg gegen die und in der Sowjetunion habe „sich in unser Gedächtnis nicht sehr tief eingegraben“.

Das hat zwei Gründe: Der Kalte Krieg führte im westdeutschen Frontstaat zu einer antikommunistischen Grundhaltung, die mit einer semantisch abgespeckten Form des Kreuzzuges gegen den Bolschewismus, das Adjektiv „jüdisch“ entfiel jetzt natürlich, fast lückenlos an das alte Feindbild anknüpfte. Zur Zeit Adenauers wurde – auch von ihm befeuert – das „christliche Abendland“ gegen den „Sowjetkommunismus“ mobilisiert. Das nahm in der Entspannungszeit dann  zwar ab, aber für die ältere, die Kriegsgeneration blieb der „Russe“ nach wie vor der „Iwan“, dem auffällig viele Attribute des vorherigen „Untermenschen“ anhafteten. Unsere „Befreier“ vom Nazismus waren jedenfalls nicht die Sowjets und die Rote Armee, die dagegen einseitig in der DDR gefeiert wurden sondern eigentlich die Amerikaner mit Unterstützung der Briten. Über Antiamerikansimus wird hierzulande häufiger mal geredet, über „Antirussismus“ nicht.

Aber der Kalte Krieg verdeckte eine Wunde, die man zunächst nur im Verborgenen und aus der Nähe beobachten konnte. Es waren die bekannten und verwandten Männer, die an der Ostfront waren, deren „posttraumatischen Belastungsstörungen“ zwar massenhaft vorlagen, aber nicht so hießen und der männlichen Selbstzucht unterlagen. Aber zuweilen kamen sie dann doch zum Durchbruch, weil das Erlebte tiefer ging, als es die harte Schale der Männlichkeit ertragen konnte.

Solche Eruptionen wurden eingebettet und aufgefangen in einem beispiellosen Narrativ, dass die Nachkriegsära dominierte. Ganz allgemein wurde das Bild einer unpolitischen, professionellen und „anständigen“ Armee bemüht, deren Angehörige nur ihre soldatischen Pflichten erfüllt hätten und die im Grunde selbst Opfer, oder zumindest Verführte, des NS-Regimes waren. Erst die Hamburger „Wehrmachtsaustellung“ im Jahre 1995 und in ihrer überarbeiteten Form von 2001 brach mit dem Tabu, die unmittelbare Beteiligung und Integration der Wehrmacht in die besondere Kriegsführung zu thematisieren, wo alle „nur“ ihre Pflicht getan hatten. Von den 5,7 Millionen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion kamen zwischen 1941 bis 1945 ca. 3 Millionen um. Nur zum Vergleich: Von den französischen Kriegsgefangenen starben bis 1945 ca. 3 Prozent. Die Kriegsgefangenen unterlagen der Wehrmacht. In der Sowjetunion, so der Historiker Johannes Hürter, wurden „Kriegsverbrechen zum Alltag, Massenmord zum Völkermord.“

„Gleichwohl ist die Rezeptionsgeschichte der Wehrmacht bis heute durchzogen von positiven Narrativen, vermittelt etwa über Trivialromane (wie etwa die „Landserhefte“), pseudowissenschaftliche Sachbücher, Spielfilme, Dokumentationen, aber mittlerweile auch im Internet und in Computerspielen.“ So lautet der Befund eines Sammelbandes der Bundeszentrale für politische Bildung.  Die Mär von einer „sauberen“ Wehrmacht ist zwar wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar, aber in vielfältigen anderen Erzählungen lebt sie weiter.

Es ist noch nachvollziehbar, dass die Beteiligten aus Scham- oder aus Schuldgefühl, vielleicht auch aus beidem, über ihre Erlebnisse an der Ostfront nicht reden mochten. Aber dass wir es heute immer noch nicht so tun, wie es erforderlich wäre, ist das zweite Verbrechen gegenüber den Opfern.

spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
spot_img
Follow by Email
Facebook
Youtube
Youtube
Instagram
Spotify