Eine persönliche Einschätzung aus gegebenem Anlass
Am Montag vergangener Woche demonstrierte eine Handvoll Friedensbewegter vor dem Osnabrücker Theater für ein Ende des Krieges in der Ukraine. Aber nicht an Russland, den Aggressor, richteten sich ihre Forderungen, sondern an Europa und Deutschland, den Unterstützer*innen der Ukraine bei ihrem Abwehrkampf. Vor allem Menschen jenseits der 60 beteiligten sich an der Kundgebung.
Weshalb fanden sich kaum mehr als 30 Menschen an dem Ort ein, wo wenige Wochen zuvor noch Tausende gegen einen Rechtsruck in Gesellschaft und Parteienlandschaft demonstriert hatten? Weshalb waren dem Aufruf der OFRI (Osnabrücker Friedensinitiative) kaum Menschen unter 50 Jahren gefolgt? Müsste das Thema „Frieden“ nicht auch jüngere Menschen ansprechen?
Nicht nur die Transparente erinnerten an die Zeit des Kalten Krieges, auch viele der Teilnehmer*innen selbst könnten altersmäßig bereits 1981 im Bonner Hofgarten mitdemonstriert haben. Das mutmaßliche Durchschnittsalter lag bei 70 Jahren. Von den Menschen dieser Jahrgänge – so die Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke – glauben einige, dass sich eine „globale Konstellation wiederhergestellt hat, die an die Verhältnisse des Kalten Krieges erinnert“.
Es scheinen vor allem Menschen aus einem (ehemals) linken Generationsteil zu sein, die dazu neigen, ihren eigenen in den 1970er und 1980er Jahren gebildeten Erfahrungshorizont als Blaupause für verbindlich zu erklären. Julian Nida-Rümelin, der ehemalige Kulturstaatsminister (unter Gerhard Schröder) zum Beispiel spricht „den nach 1990 Geborenen“ das nötige Hintergrundwissen ab, die derzeitige Situation angemessen einschätzen zu können. Man könnte hier mit gutem Recht von einem „Generationskonflikt“ sprechen, wie es Julian Nida-Rümelin in einer Gesprächsrunde bei Maybrit Illner tat.
Damit mag der Philosophie-Professor und SPD-Politiker einigen seiner Generationsgenoss*innen aus der Seele gesprochen zu haben. Für viele von ihnen gehörte die Entspannungspolitik Willy Brandts Anfang der 1970er Jahre wohl zu den wichtigsten politischen Sozialisationserlebnisssen. Durch Anerkennung und vertrauensbildende Maßnahmen sollte das Konfrontationspotential der beiden weltanschaulichen Blöcke abgemildert werden. Dieses Paradigma scheint bei einigen Friedensbewegten noch immer die maßgeblichen Kriterien für die Analyse des Weltgeschehens bereitzustellen. Immer wieder beschworen die Initiator*innen der Kundgebung vor dem Osnabrücker Theater einem „neuen Kalten Krieg“.
Aber ist die Diagnose von einer Wiederkehr des Kalten Krieges wirklich angemessen? Böten sich für die Analyse der aktuellen Lage nicht vielmehr die 1930er-Jahre als historischer Referenzrahmen an?
In dem Jahrzehnt vor dem Zweiten Weltkrieg erschien vielen Menschen in Europa die liberalen Demokratien als Auslaufmodell. Ähnliches sehen wir heute: Autoritäre und faschistische Regime setzen sich weltweit immer stärker durch und erwecken vielerorts den Eindruck, effizienter zu sein als das behäbig und fragil scheinende Modell einer liberalen Demokratie. Auch die internationalen Bündnissysteme jener Zeit ähneln mehr der heutigen Tendenz schwindender Hegemonien als die bipolare Blockbildung in der Nachkriegszeit.
Aktuell zeichnet sich vielmehr die Herausbildung multipler konkurrierender Machtzentren ab, die sich darum bemühen, auch die militärische Durchsetzung ihrer divergierenden Interessen zu legitimieren. Wie in der Zwischenkriegszeit zeigt sich auch heute weltweit eine zunehmende Erosion rechtlicher Standards für Konfliktlösungen, welche nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges etabliert wurden.
Gerade Vertreter der These von der Wiederkehr des Kalten Krieges sprechen neuerdings von legitimer Interessenpolitik einzelner Länder oder Nationen, die berücksichtigt gehörten. Dieselben also, die die „Hinterhofpolitik“ der USA einst als imperial verurteilten, entschuldigen heute Russlands Überfall mit einem Eindringen der NATO in eine russische Einflusssphäre – statt Völkerrecht gilt in dieser Vorstellung das Recht des Stärkeren bzw. des Gewaltbereiteren.
Die Initiator*innen der Kundgebung vor dem Theater kamen nicht umhin, einen russischen Bruch des Völkerrechts einzuräumen, nur um ihn im selben Satz zu relativieren: Russland habe den Krieg „völkerrechtswidrig, aber nicht unprovoziert begonnen“. Wenige Zeilen später wird in dem Aufruf der OFRI klargestellt, dass der Krieg „von Amerika bestellt“ sei. Weitere Hilfeleistungen Europas, die den Krieg verlängern könnten, seien „noch unverzeihlicher als der Völkerrechtsbruch durch Russland“.
Um es nochmal klar zu sagen: Nicht alle Angehörigen dieser Generation vertreten einen solchen Standpunkt. Aber wer einen solchen Standpunkt vertritt, ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Angehöriger dieser Generation.
Albrecht Koschorke, Jahrgang 1958, sieht aktuell (ähnlich der Situation in der Zwischenkriegszeit) die Werte und Verheißungen der liberalen Demokratie am Schwinden: „Die Leitidee eines Gleichlaufs von Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Modernisierung und Mehrung des Wohlstands, die ihm eine starke Suggestivkraft verlieh, löst sich auf.“
Das mögen die vielen Menschen, die ihr Leben riskieren, um in die EU zu gelangen, anders sehen. Beim genaueren Hinsehen sind es vor allem kleptokratische und autoritäre Systeme, die sich sehr anstrengen müssen, andere Werte und Gegenerzählungen, meist völkisch-heroischer Natur, in Stellung zu bringen. Wo immer es ihren Bevölkerungen möglich scheint, sich dem Griff der Imperien zu entziehen, tauchen Demokratie und Menschenrechte als ermutigende Ziele auf. Ob in Hongkong oder in Weißrussland (Taiwan, Ukraine, Iran, Georgien, …): Die Imperien können auf die subkutane Kraft des Demokratie-Versprechens nur mit Gewalt, Androhung von Gewalt und Zersetzung reagieren, was ihre Attraktivität auf lange Sicht nicht fördert.
Wir erinnern uns: 2014 entglitt Moskau die Kontrolle über die Ukraine. Die OFRI spricht hier von dem „Maidan-Putsch“. Den Menschen, die sich nicht über RT informieren, muss erklärt werden, was damit gemeint ist: Die Vertreibung des russlandhörigen Präsidenten Janukowytsch, nachdem dieser auf Moskaus Wunsch hin eine Annäherung der Ukraine an die EU verhindert hat, wird in der Ukraine „Revolution der Würde“ genannt. Zentraler Ort dieser Willensbekundungen war der Platz Maidan im Zentrum Kiews. Hier versammelten sich über Wochen Hunderttausende von Ukrainer*innen, die nach der russischen Erzählung alle vom „Westen“ bezahlt und orchestriert wurden.
Was die Veteran*innen von der OFRI (gegründet 1981) mit den auf der Kundgebung gesichteten Figuren aus der Querdenkerszene verbindet, ist also ein latenter Antiamerikanismus/Antiliberalismus als Fixpunkt, von dem aus sie die politische Weltlage bewerten. Ihr konserviertes politisches Koordinatensystem wird jedoch einer gewandelten Weltlage nach dem Mauerfall nicht mehr gerecht und führt mitunter zu kuriosen Schlussfolgerungen.
Diese Bequemlichkeit, an einem eingeübten Feind-Freund-Schema festzuhalten, hat vielen (ehemals) linken Boomern die Augen vor dem verschlossen, was im postsowjetischen Russland seit Anfang der 2000er Jahre heranwuchs. Für sie scheint das chauvinistische Russland noch immer ein legitimer Erbverwalter der UdSSR zu sein, welche man in den 1970er und 80er Jahren als willkommenes Gegengewicht zum kapitalistischen Westen goutierte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der eingeübte Antiamerikanismus die Friedensfreunde von der OFRI dazu brachte, zunächst die Narrative Putins von der (Mit-)Schuld des „Westens“ zu übernehmen, um schließlich argumentativ bei den Positionen des US-amerikanischen Präsidenten zu landen. Als folge Trump den Forderungen der OFRI, stellt er die militärischen, humanitären und logistischen Hilfen für die Ukraine in Frage, bringt das NATO-Bündnis ins Wanken und erkennt Putin als Autokraten nach seinem Geschmack an, mit dem sich gut verhandeln lässt: Das neue Amerika liefert!
Der erste Redner an jenem Abend vor dem Osnabrücker Theater verglich den brutalen Überfall Russlands auf seinen Nachbarn mit einem „Familienstreit“, bei dem „schon mal Geschirr fliegen“ könne. Solche Wahrnehmungsverzerrungen sind es wohl, die eine Mehrzahl der Menschen, die sich nach Frieden sehen – und wer tut das nicht!? – davon abhält, mit der OFRI für „Frieden“ zu demonstrieren.
Persönlicher Hinweis zum Schluss: Der Autor ist Jahrgang 1969, also ein „Boomer“.