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Von einer Stätte des Drills und Gehorsams zum Ort der Lehre und des Lernens
Erbaut in den Jahren 1897 bis 1899, bildete der heutige Caprivi-Campus der Hochschule gut 100 Jahre lang eine Stätte militärischen Drills. Dokumentiert ist dies zeitlos im Remarque-Welterfolg „Im Westen nichts Neues“. 1920, kaum bekannt, war die Kaserne Sitz eines blutgierigen Freikorps, dessen Kämpfer im Zuge des rechten Kapp-Putsches zum Kampf gegen Menschen gerüstet waren. Spätestens seit 2002 aber ist der imposante Gebäudetrakt eine Heimstatt der Lehre und des Lernens.
Es dürfte in Osnabrück keinen vergleichbaren Gebäudestandort geben, der derartig vielfältige Nutzungen erfahren hat – und jenen klassischen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft dokumentiert, den nun auch der letzte Teil der OR-Serie beleuchtet.
Fassaden ehrfürchtiger Betrachtung
Ausgerechnet die heutige Friedensstadt Osnabrück besitzt eine Stationierungs- und Kasernentradition, die ihresgleichen sucht. Spätestens während des 30jährigen Krieges hatte die Stadt Besetzungen, um 1630 herum die der schwedischen Truppen erlebt. Im frühen 19. Jahrhundert wechselten sich Hannoveraner, Preußen oder Franzosen ab. Seit die Stadt anno 1813 Garnisonsstandort geworden war, waren für die Unterbringung der Kämpfer zunächst alte leerstehende Klöster wie die „Klosterkaserne“ am Dominikanerkloster und das Kloster Marienstätte am Ledenhof genutzt worden.
Unmut unter der Bevölkerung kam häufig auf, sobald die zentralen Unterbringungsorte nicht mehr ausreichten und das Militär zunehmend auch bei Bürgern einquartiert werden musste – wie dies Jahrzehnte zuvor sogar noch die Regel gewesen war – was, wie beim Gesellenaufstand von 1801, sogar zu blutigen Revolten führte.
Um den Bedarf an Soldatenquartieren zu stillen, wurden später die Winkelhausen-Kaserne im Stadtteil Hafen, die Metzer- und der Scharnhorst-Kaserne an der Sedanstraße und die Infanteriekaserne an der Natruper Straße errichtet. Zuvor stachen aber bereits die Caprivi- wie Artilleriekaserne, beide Gründerzeit-Bauten auf dem Westerberg, als architektonische Merkposten des Stadtpanoramas hervor – was von Ferne betrachtet durchaus Respekt und Ehrfurcht vor militärischer Größe erzeugen sollte.
Die für die OR-Serie thematisierte Caprivi-Kaserne zwischen Caprivi- und Blumenthalstraße sollte ein besonderer Ort werden. Erbaut wurde sie in den Jahren 1897 bis 1899 als Ersatz für die unzureichende Unterbringung des Infanterieregiments Nr. 78, das seine Standorte in Aurich, Emden und Osnabrück besaß. Zum Namenspatron der Kaserne wie auch der Caprivistraße wurde General Georg Leo Graf von Caprivi (1831-1899).
Letzterer war von 1890 bis 1894 als Nachfolger Bismarcks Reichskanzler gewesen. Demonstrativ im Todesjahr des Namensgebers rückte das 1. Bataillon des Infanterieregiments 78 mit 570 Mann in die Caprivi-Kaserne ein. Später trat die architektonisch verwandte Artilleriekaserne (später Von-Stein-Kaserne) hinzu. Beide Großbauten bilden somit Zeitzeugen aus der Kaiserzeit.
Architektonische Sprache
Um Eindruck zu erzielen, wurden im kaisertreuen Deutschland keine Kosten und Mühen gescheut. Aufrüstung und protzige Bauten waren wichtiger als Sozial- oder Bildungsprojekte. Zugleich wurde aber bewusst eine Anleihe an den Standort zugestanden: Produkte des Westerberger Steinbruchs in Gestalt des Muschelkalksteins („Bruchstein“), mit dem bereits mittelalterliche Gebäude in der Stadt errichtet worden waren, durften die Außenfassade bilden. Zumal Osnabrücker Bruchstein für Fenstereinfassungen und Fassadengliederungen eher ungünstig war, wählte man Bauelemente aus rotem Sandstein, die vermutlich von der Weser stammte und dort die „Weser-Renessaince“ prägte.
Entstanden ist damit eine langgestreckte Gebäudegruppe mit zwei symmetrisch angeordneten, viereinhalbstöckigen Mannschaftshäusern. Dazwischen lagen Latrinen und ein Wirtschaftsgebäude. Eine eigene Wohnstätte erhielten die Offiziere, denen mehr Achtung galt als einfachen Rekruten. Abgerundet wurde alles durch ein Exerzierhaus, ein Wach- und Arrestgebäude sowie später ein Patronenhaus und eine Wagenremise, die naturgemäß besonders breite Eingänge benötigte.
Viel einfallen ließen sich die Architekten für die Rückseite der Unterkunftsgebäude. Hier staunt man noch heute über Fassadenvor- und Rücksprünge und über zwiebelturmartige Treppenhäuser. Getreppte Giebel als künstlerisch verbindenden Elemente der Einzelgebäude stellen Bezüge zur Stilrichtung der Neorenaissance her.
Inmitten des Gebäudekomplexes war seitens der Planer natürlich kein architektonisches Highlight zu entdecken. Hier enstand ein imposanter Drill- und Exerzierplatz, dessen Gebrauch niemand treffender beschrieben hat als der Osnabrücker Weltliterat Erich Maria Remarque. Im Folgenden sollen deshalb Originaltöne des Autors nachzulesen sein.
Drillstätte Remarques
In Remarques Welterfolg „Im Westen nichts Neues“ ist exemplarisch nachzulesen, in welcher Weise die so schmuck anmutende Caprivikaserne für ihn und seine Kameraden zum Vorhof der Hölle wurde.
Nachdem Erich Paul Remark, so sein früherer Name, beeinflusst von seinen Seminar-Oberlehrern in den Ersten Weltkrieg zog, musste er sich als Angehöriger des 78er-Regiments ab November 1916 auf dem Westerberg einer militärischen Grundausbildung unterziehen. Im Originalton des literarischen Welterfolgs heißt es:
„Wir wurden zehn Wochen militärisch ausgebildet und in dieser Zeit entscheidender umgestaltet als in zehn Jahren Schulzeit. Wir lernten, dass ein geputzter Knopf wichtiger ist als vier Bände Schopenhauer. Zuerst erstaunt, dann erbittert und schließlich gleichgültig erkannten wir, dass nicht der Geist ausschlaggebend zu sein schien, sondern die Wichsbürste, nicht der Gedanke, sondern das System, nicht die Freiheit, sondern der Drill. Mit Begeisterung und gutem Willen waren wir Soldaten geworden; aber man tat alles, um uns das auszutreiben. nach drei Wochen war es uns nicht mehr unfasslich, dass ein betresster Briefträger mehr Macht über uns besaß als früher unsere Eltern, unsere Erzieher und sämtliche Kulturkreise von Platon bis Goethe zusammen.“
Zu Details der Ausbildung bemerkt Remarque:
„Grüßen, strammstehen, Parademarsch, Gewehrpräsentieren, rechtsum, Linksum, Hackenzusammenschlagen, Schimpfereien und tausend Schikanen: Wir hatten uns unsere Aufgabe anders gedacht und fanden, dass wir auf das Heldentum wie Zirkuspferde vorbereitet wurden.“
Protagonist für einen brutalen Schleifer ist der legendäre Unteroffizier Himmelstoß, vormals ein eher belächelter Briefträger. Bei Remarque heißt es über ihn:
„Er galt als der schärfste Schinder des Kasernenhofes, und das war sein stolz. ein kleiner, untersetzter Kerl, der zwölf Jahre gedient hatte, mit fuchsigem, aufgewirbeltem Schnurrbart, im Zivilberuf Briefträger. Auf Kropp, Tjaden, Westhus und mich hatte er es besonders abgesehen, weil er unsern stillen Trotz spürte. Ich habe an einem Morgen vierzehnmal sein Bett gebaut. Immer wieder fand er etwas daran auszusetzen und riss es herunter. ich habe in zwanzigstündiger Arbeit – mit Pausen natürlich – ein paar uralte, steinharte Stiefel so butterweich geschmiert, dass selbst Himmelstoß nichts mehr da ran auszusetzen fand; ich habe auf seinen Befehl mit einer Zahnbürste die Korporalschaftsstube sauber geschrubbt; Kropp und ich haben uns mit einer Handbürste und einem Fegeblech an den Auftrag gemacht, den Kasernenhof vom Schnee reinzufegen, und wir hätten durchgehalten bis zum Erfrieren, wenn nicht zufällig ein Leutnant aufgetaucht wäre, der uns fortschickte und Himmelstoß mächtig anschnauzte. (…)
Ich habe vier Wochen hintereinander jeden Sonntag Wache geschoben und ebensolange Stubendienst gemacht; ich habe in vollem Gepäck mit Gewehr auf losem, nassem Sturzacker `Sprung auf, marsch, marsch‘ und ‚hinlegen‘ geübt, bis ich ein Dreckklumpen war und zusammenbrach; ich habe vier Stunden später Himmelstoß mein tadellos gereinigtes Zeug vorgezeigt, allerdings mit blutig geriebenen Händen; ich habe mit Kropp, Westhus und Tjaden ohne Handschuhe bei scharfem Frost eine Viertelstunde ’stillgestanden‘ geübt, die bloßen Finger am eisigen Gewehrlauf, lauernd umschlichen von Himmelstoß, der auf die geringste Bewegung wartete, um ein Vergehen festzustellen; – ich bin nachts um zwei Uhr achtmal im Hemd vom obersten Stock der Kaserne heruntergerannt bis auf den Hof, weil meine Unterhose einige Zentimeter über den Rand des Schemels hinausragte, auf dem jeder seine Sachen aufschichten musste. Neben mir lief der Unteroffizier vom Dienst, Himmelstoß, und trat mir auf die Zehen; – ich habe beim Bajonettieren ständig mit Himmelstoß fechten müssen, wobei ich ein schweres Eisengestell und er ein handliches Holzgewehr hatte, so dass er mir bequem die Arme braun und blau schlagen konnte; (…) Ich habe mich zu einem perfekten Kletterer auf die Spinde entwickelt; – ich suchte allmählich auch im Kniebeugen meinen Meister; – wir haben gezittert, wenn wir nur seine Stimme hörten, aber kleingekriegt hat uns dieses wildgewordene Postpferd nicht.“
Am Ende zieht Remarque für seinen Protagonisten und Ich-Erzähler Paul Bäumer ein fast schon makaber anmutendes Resümee über seine Zeit in der Caprivikaserne:
„Uns ist dabei wohl jeder Kasernenhofschliff zuteil geworden, der möglich war, und oft haben wir vor Wut geheult. Manche von uns sind auch krank dadurch geworden, Wolf ist sogar an Lungenentzündung gestorben. Aber wir wären uns lächerlich vorgekommen, wenn wir klein beigegeben hätten. Wir wurden hart, misstrauisch, mitleidlos, rachsüchtig, roh, – und das war gut; denn diese Eigenschaften fehlten uns gerade. hätte man uns ohne diese Ausbildungszeit in den Schützen graben geschickt, dann wären wohl die meisten von uns verrückt geworden. so aber waren wir vorbereitet für das, was uns erwartete. Wir zerbrachen nicht, wir passten uns an; unsere zwanzig Jahre, die uns manches andere so schwer machten, halfen uns dabei. Das Wichtigste aber war, dass in uns ein festes, praktisches Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kameradschaft!“
Standort für das Freikorps „Totschlag“
Bevor die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 ihre terroristische Herrschaft begannen, gab es zwei rechtsextreme Putschversuche. Jenen am 9. November 1923 verantwortete Hitler in Kooperation mit General Ludendorff mit ihrem gescheiterten „Sturm auf die Münchner Feldherrnhalle“ selbst – „bestraft“ mit wenigen Monaten privilegierter Haft. Im März 1920, gut zweieinhalb zuvor, hatte die Osnabrücker Caprivikaserne allerdings eine Rolle beim später gescheiterten Kapp-Putsch gespielt.
Reaktionäre Kräfte sammeln sich
Den Anlass des Generalstreiks boten im Reich Ereignisse, die sich in der Hauptstadt Berlin zutrugen. Die Informationen verbreiteten sich auch in den Osnabrücker Tageszeitungen blitzschnell und bestimmen das Thema unzähliger Diskussionen auf Straßen und Plätzen.
Die nationalliberale Osnabrücker Zeitung wartete sogar mit einer Sonder-Ausgabe auf. Neugierige lasen unter der Überschrift „Die neue Regierung“, worum es ging: Die legale Regierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Gustav Bauer war, folgte man der Sonderausgabe, für abgesetzt erklärt worden. An ihre Stelle habe sich als neuer Kanzler ein gewisser Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp gesetzt, der fortan zum Namensgeber des Umsturzversuches wurde. Fest an seiner Seite stand, so die Meldungen des Blatts, ein Freiherr von Lüttwitz, seines Zeichens kommandierender General in Berlin.
In der Tat: In den frühen Morgenstunden des 13. März 1920 waren große Formationen rechts ausgerichtete Freikorps-Truppen durch das Brandenburger Tor in Berlin marschiert. Systematisch hatten sie das gesamte Regierungsviertel besetzt. Reichswehr und Polizei verweigerten der gewählten Koalitionsregierung aus Mehrheits-Sozialdemokraten (MSPD), katholischer Zentrumspartei und linksliberalen Demokraten brüsk ihren Schutz. „Truppe schießt nicht auf Truppe“ soll Generaloberst Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, die verweigerte Hilfeleistung mit zackigen Worten begründet haben. Gänzlich ohne militärischen oder polizeilichen Schutz, flohen die sozialdemokratischen Minister zuerst nach Dresden, dann nach Stuttgart.
Die Beweggründe der Putschisten besaßenen nicht nur einen machtpolitischen, sondern auch einen materiellen Grund: Der dem Reich nach der Kriegsniederlage 1918 aufgezwungene, am 10. Januar 1920 in Kraft getretene Versailler Friedensvertrag erlaubte Deutschland nur ein 100.000 Mann starkes Heer. Die aktive Zahl der Soldaten jener Nachkriegszeit, von denen viele Freikorpsangehörige im Osten noch lange Zeit in Kämpfe verstrickt waren und ihren Lebenssinn im Waffenrock sahen, betrug die vierfache Zahl an Kämpfern.
Diese Soldaten sahen sich vor dem Nichts, glaubten zusehends der „Dolchstoßlegende“ vom hinterrücks von Revolutionären gemeuchelten, angeblich unbesiegten „Helden“ des Weltkrieges und wurden immer empfänglicher für antidemokratische Bewegungen und Ideologien. Großzügige finanzielle Zuwendungen finanzkräftiger Teile von Großindustrie und Banken, abgewickelt über örtliche Fonds der „Antibolschewistischen Liga“, bildeten ein finanzielles Polster, auf dem sich viele Freikorpskämpfer und rechte Parteien deutschlandweit ausruhen konnten.
Erste Hakenkreuze werden zum Thema. „Wehe dir, du Arbeiterschwein!“
Berliner Beobachtern sprang auf dem Stahlhelmen etlicher Putsch-Soldaten ein eigentümliches Symbol ins Auge: Es handelte sich um ein weiß gepinseltes Hakenkreuz. Den Hintergrund dieser altgermanisch anmutenden Bemalung kannten zunächst nur Insider: Es waren antisemitische, antidemokratische und im Baltikum kampferprobte Mitglieder der Freikorps-Brigade Erhardt, die sich stolz mit dem späteren Erkennungszeichen der Nationalsozialisten schmückten.
Überaus gern grölten sie ihr Erkennungslied: „Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, die Brigade Ehrhardt werden wir genannt. Die Brigade Ehrhardt schlägt alles kurz und klein, wehe Dir, wehe Dir, du Arbeiterschwein“.
Der Todfeind der Hakenkreuzler stand links: Bereits im Vorjahr hatte die Soldateska mit Duldung der Reichsregierung blutige Gemetzel unter streikenden Arbeitern im Ruhrgebiet angerichtet. Arbeiter, so meinten die Söhne meist betuchter Eltern, hätten gefälligst demütig zu gehorchen, aber niemals zu streiken. In den Folgetagen sollten sie das exakte Gegenteil erleben.
Linke wird zusammengeschweißt – und handelt
Die Meldung vom Berliner Putsch schweißte Gewerkschafter und Sozialisten aller Strömungen landauf, landab fest zusammen. Selbstverständlich war das nicht. Denn seit der Kriegsfrage 1914, der Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) anno 1917 und der blutigen Geschehnisse während der Novemberevolution 1918 bestanden tiefe Gräben unter ehemals vereinten Sozialisten.
Kapp und Lüttwitz aber bewirkten beinahe ein Wunder: Sie schweißten die Arbeiterbewegung kurzzeitig wieder eng zusammen. Die Rufe nach Einheit wuchsen nach dem rechten Putschversuch verstärkt in allen Linksparteien. Mitte März gelang sie: Angesichts des Kapp-Putsches bildete die Einheit der Arbeiterbewegung die eigentliche Voraussetzung dafür, dass der rasant verbreitete Aufruf zum Generalstreik reichsweit seine Früchte trug: Auf dem Höhepunkt waren 12 Millionen Menschen im Streik – Osnabrück eingeschlossen.
Generalstreik in Osnabrück
Es dauerte nicht lange, ehe sich auch Osnabrücker Gewerkschafter, Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten zur Bildung einer Abwehrfront zusammenfanden. Auch die Demokratische Partei und die Deutsch-Hannoversche Partei traten der Aktionseinheit bei. Am 15. März tagte auch das Ortskartell des Deutschen Beamtenbundes. Einstimmig stellte sich dieses ebenfalls hinter die demokratisch gewählte Reichsregierung, solidarisierte sich mit dem Generalstreik und fordert „alle Beamten und Lehrer auf, jede Handlung und Tätigkeit für die Umsturzregierung abzulehnen.“
Die zu Jahresbeginn in Berlin gegründete Kommunistische Partei (KPD) spielte an der Hase zu jener Zeit noch keine Rolle. Komplett wurde das breite Bündnis mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) sowie mit der Arbeitsgemeinschaft für Angestellte (AfA). In Osnabrück kam dem Bündnis zugute, dass es hier infolge der Revolution von 1918 niemals zu tiefen Spaltungen der Arbeiterbewegung oder gar zur Gewalt untereinander gekommen war. In Berlin und in anderen Industriezentren war dies meist völlig anders: Hier hatten Spaltung und Bruderkampf tiefe Risse produziert, die Familien und Freundschaften zerriss.
Ein Osnabrücker Aktionsausschuss, der den offiziell von sozialdemokratischen Reichsministern ausgerufenen Generalstreik koordinieren sollte, tagte im Lokal Vennemann in der Meller Straße. Der Kreis setzte sich aus den beiden MSPD-lern Otto Vesper (Mitglied der als Parlament fungierenden verfassungsgebenden Nationalversammlung) und Heinrich Groos sowie zwei USPD-Sprechern, dem Sekretär des Metallarbeiterverbandes Gustav Haas und seinem Genossen Ludwig Landwehr, zusammen.
Der flächendeckend verteilte Aufruf des Aktionsausschusses zum Streik sprach sich unter den Beschäftigten der Stadt wie ein Lauffeuer herum – und er wurde prompt befolgt: Die städtischen Ämter, das Kupfer- und Drahtwerk, das Eisen- und Stahlwerk, auch kleinere Betriebe, die Post, die Straßenbahn und die Eisenbahnwerkstätten, selbst Theater und Kinos waren im Nu lahmgelegt. Aufrechterhalten wurde nur der Betrieb im Krankenhaus, im Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk.
Drohendes aus der Caprivi-Kaserne
Doch nicht alles zeigte sich einig im Streik für die Republik. Die größte Gefahr drohte vom Westerberg. In der Caprivi-Kaserne salutierten kampfbereite Angehörige des Freikorps Lichtschlag unter ihrem Kommandeur, dem kriegserfahrenen Osnabrücker Hauptmann Otto Hasenclever. Über dem Kasernenhof flatterte bereits demonstrativ die schwarz-weiß-rote Fahne des kaiserlichen Reiches, was als offene Kampfansage an das Schwarzrotgold der offiziellen Flagge galt.
Die Truppe war nicht nur mit Sturmgewehren, sondern auch mit etlichen MG und Geschützen bis an die Zähne bewaffnet. Postwendend wäre damit ein Blutbad in vielen Wohnvierteln Osnabrücks angerichtet worden. Die Angst der Menschen hatte ihre Ursachen: Wie ihre Gesinnungsgenossen von der Hakenkreuz tragenden Brigade Erhardt rühmten sich die Lichtschlag-Kämpfer auf dem Westerberg damit, im Vorjahr etliche für ihre Rechte kämpfende Bergleute und Stahlarbeiter im Ruhrgebiet unter Befehl ihres Generalleutnants Oskar Freiherr von Watter blutig niedergemetzelt zu haben. Die an all ihren Standorten 2.500 Kämpfer zählende Lichtschlag-Truppe war auch deswegen auch in Osnabrück als „Freikorps Totschlag“ gefürchtet.
Die Putschisten, das wusste man, pflegten ohne Vorwarnung scharf zu schießen. Drohte nun auch in Osnabrück ein Blutbad, das nach Putschbeginn bereits zur tragischen Realität vieler anderer Städte gehörte?
Tage ohne Zeitung, eine Großkundgebung und Abzug der Truppe aus der Caprivi-Kaserne
Osnabrückerinnen und Osnabrücker waren gierig nach jeder Information. Seit die örtlichen Tageszeitungen über den ersten Putsch-Tag berichtet hatten, fehlte es weit und breit an seriösen Informationsblättern: Die Drucker des Osnabrücker Tageblatts, der nationalliberalen Osnabrücker Zeitung und der katholischen Osnabrücker Volkszeitung streikten. Ganze Tonnagen von Papier blieben unbedruckt. Erst am Samstag, dem 20. März, konnten alle gewohnten örtlichen Blätter wieder an ihre Leser gelangen.
Vor allem in den Straßen der Innenstadt und in engen Wohngebieten trieb es die Menschen immer wieder nach draußen, um mehr zu erfahren. Viele Tausende zog es am Montag zum Ledenhof auf eine Kundgebung. Dort sprachen für die MSPD der Gewerkschaftssekretär Walter Bubert, für die USPD der Metallgewerkschafter Gustav Haas und für die Demokraten deren Parteisekretär Körber. Alle Redner forderten immer wieder unter großem Beifall den sofortigen Rücktritt der Putsch-Regierung und deren harte Bestrafung. Im Vordergrund standen vor allem organisatorische Fragen, um die Ziele des Generalstreiks flächendeckend zu erreichen.
Flugs fanden auch Verhandlungen mit der Stadt- und Regierungsspitze statt. Von Oberbürgermeister Rißmüller, von Regierungspräsident Tilman und von Vertretern der örtlichen Einwohnerwehr erhielten die Streiksprecher dabei die feste Zusicherung, dass alle gemeinsam für Republik, Verfassung und legale Regierung einstehen wollten.
Ein weiteres, weitaus schwierigeres Gespräch führten die Streikvertreter, begleitet von Oberbürgermeister Rißmüller, mit Verantwortlichen des Bataillons Lichtschlag, das in der Caprivi-Kaserne unter dem Oberbefehl Hauptmann Hasenclevers rund 200 Bewaffnete zählte. Die geballte Stärke der Arbeiterschaft verschaffte sich aber Eindruck.
Die Runde einigte sich schließlich darauf, dass die Truppe die Stadt Osnabrück zeitnah verlassen sollte. Bis zum Bahnhof sollte sie freies Geleit haben. Bei vielen Beteiligten dürfte die Hoffnung mitgespielt haben, dass das „Freikorps Totschlag“ am Ankunftsort endgültig entwaffnet werden sollte. Am 15. März setzten sich tatsächlich bewaffnete Arbeiterformationen bei Wetter im Ruhrgebiet gegen eine Vorhut des Freikorps unter Hasenclevers Führung zur Wehr. Die Truppe war unter schwarz-weiß-roten Fahnen angerückt und hatte sich inzwischen offen zum Putschkanzler Kapp bekannt.
Die Batterie wurde nahezu aufgerieben. Der 32-jährige Hasenclever und zehn seiner Soldaten wurden getötet. Eine pompös zu Hasenclevers Ehren hergerichtete Grabstätte auf dem Johannisfriedhof erinnert bis heute an den antidemokratischen Freikorps-Hauptmann aus Osnabrück.
Gewaltlos in Osnabrück
Die Gewaltaktionen der Kapp-Putschisten forderten in etlichen Städten sehr viele Todesopfer. Speziell im Ruhrgebiet versuchten revolutionäre Arbeiter der „Roten Ruhrarmee“ in der Folgezeit, die Sozialisierung des Bergbaus und eine Stärkung ihrer gewählten Interessenvertretungen zu erreichen. Der Einsatz der Reichswehr, insbesondere die von Reichswehrminister Noske zu diesem Zweck rehabilitierten, vormals putschenden Freikorps-Soldaten wie solche der Brigade Erhardt, richteten in der Arbeiterschaft daraufhin erneut blutige Gemetzel an.
Dass in Osnabrück, der heutigen Friedensstadt, manches friedlicher und verlief als andernorts in Deutschland, konnte bereits unmittelbar nach dem Scheitern des Kapp-Putsches festgestellt werden.
„Die aufregenden Tage der letzten Woche sind in unserer Stadt, wie wir erfreulicherweise feststellen können, ohne jeden Zwischenfall verlaufen“, fasste ein Redakteur der Osnabrücker Zeitung am 21. März zusammen. „Nicht ein einziger Schuss ist gefallen“, hieß es.
Wehrmacht bewahrt alte Tradition – und drillt erneut zum Weltkrieg
Spätestens mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht durch die NS-Regierung sollte die alte Caprivi-Kaserne wieder Armeestandort werden.
Die Wehrmacht brachte hier im Jahr 1938 die II. Abteilung des 6. Artillerieregimentes unter. Als am 1. September der Überfall auf Polen den Weltenbrand auslöste, bildete der heutige Hochschulcampus folglich eine von zahllosen Rekrutierungsstätten für Hitlers verbrecherischen Krieg.
Kriegsende und Beginn der britischen Ära: Scarborough Barracks
Als britische und kanadische Truppen am 4. April 1945 in Osnabrück einzogen, fanden sie für ihre Verwaltung der besetzten Stadt nicht nur das vormalige „Braune Haus“ relativ unversehrt vor.
Auch die Caprivikaserne war, Wehrmachtsstandort hin und her, weitgehend von wuchtigen Bombentreffern verschont worden. Wo vorher NS-Drill und NS-Ideologie den Alltag von Wehrpflichtigen bestimmt hatte, herrschten plötzlich britische Kommandotöne. Unter britischer Nutzung wurde der Name nach der Stadt Scarborough in der Grafschaft North Yorkshire für den neuen britischen Armeestandort verwendet. Mehr als 40 Jahre lang herrschte der gewohnte Drillbetrieb – nur in einer anderen Sprache.
Der Standort wurde schließlich bereits vor dem Abzug der Briten, im August 1987 aufgegeben. Die inmitten von Wohngebieten liegende Kasernenanlage war nur schwierig mit Lkw und Kettenfahrzeugen zu erreichen.
Zwischennutzungen – erstmals jenseits des Militärs
Russlanddeutsche und Menschen aus dem früheren Jugoslawien belegten zahllose Räumlichkeiten. Am 8. September 1988 hatte die Niedersächsische Landesregierung bekannt gegeben, dass in der ehemaligen Kaserne ein Grenzdurchgangslager für Russlanddeutsche Aussiedler eingerichtet werden sollte. Später wurden hier auch bosnische und jugoslawische Flüchtlinge untergebracht.
Teile der Räumlichkeiten wurden für vorbildliche, mit Auszeichnungen versehene Integrationskurse genutzt. Einen Namen machte sich hierbei unter anderem die Osnabrücker Pädagogin Anke Fedrowitz.
Doch bereits 1995 wurde das Grenzdurchgangslager wieder aufgegeben. Ab Herbst 1996 konnte die Hochschule Osnabrück das Gelände und die Gebäude für ihre Zwecke beplanen und mit Ausbaumaßnahmen starten. Seither wird das Gelände als Caprivi–Campus der Hochschule Osnabrück bezeichnet.
Vom Gestern blieb allenfalls Architektur: Wie sich die Osnabrücker Hochschule friedlich der Zukunft zuwendet
Die heutzutage auf dem alten Kasernengelände angesiedelte Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (WiSo) hat mit der militärischen Tradition früherer Baten nichts mehr zu tun. Dort, wo Rekruten einst durch den Schlamm robben mussten, unterhalten sich junge Menschen heute über ihren Studienalltag.
Dort, wo der junge Remarque per Zahnbürste die Schlafkammern säubern durfte, wird heute gelehrt und gelernt. Und wo „Deutschland, Deutschland über alles!“ geschmettert wurden, prägen heute Studierende aus aller Welt und internationale Studiengänge, Öffentliches Management bis hin zu Wirtschaftsrecht den Studienalltag.
Und e geht unverdrossen weiter: Die Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bereitet derzeit ihre internationale Akkreditierung vor. Sie ist Mitglied der European Foundation of Management Development (EFMD Global). Die EFMD ist ein führendes internationales Netzwerk von Wirtschaftshochschulen und Firmen, welches Exzellenz in der Management-Ausbildung und in der Entwicklung von Business Schools weltweit fördert.
Kein Rekrutenquäler gibt mehr an, wohin gerobbt oder marschiert werden soll. 24 Bachelorstudiengänge und 15 Masterstudiengänge stehen in der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zur Auswahl. Das immense Spektrum reicht von betriebs- und volkswirtschaftlichen Studiengängen über Programme mit integriertem Auslandsaufenthalt bis hin zu speziellen Studiengängen für den Gesundheitsbereich oder den öffentlichen Sektor. Auch die Aufenthaltsdauer ist frei wählbar: Neben Vollzeitstudiengängen gibt es Studiengänge, die berufsbegleitend studiert werden können, sowie duale Studiengänge in Kombination mit einer Berufsausbildung bei Verwaltungen bis hin zu privaten Unternehmen.
Sehr bewusst stellt man sich Herausforderungen der Globalisierung: Forschende und Studierende entwickeln an der Fakultät interdisziplinäre Lösungen für damit verbundene Herausforderungen der Bereiche Gesundheitsinformatik, Data Science, Psychologie, Pflege-, Hebammen-, Therapie-, Ernährungs- und Sozialwissenschaften, Politik- und Rechtswissenschaft sowie Wirtschaftswissenschaften.
Probleme werden, ganz anders als früher auf dem Kasernenhof, offen benannt und leidenschaftlich debattiert: Themen wie Fachkräftemangel, prekäre Arbeitsbedingungen, Diskriminierung, getrennte medizinische Versorgungssysteme oder geringe Anerkennung von Care- und Sorgearbeit werden benannt, um sie zumindest zu lindern. Dabei verbinden sie Grundlagenforschung für den akademisch jungen Bereich Gesundheit und Soziales mit angewandter Forschung.
Zukunftsfähige Versorgungssysteme und nachhaltige Geschäftsmodelle, die mit der Praxis entwickelt werden und direkt in der Praxis umsetzbar sind, sind das exakte Gegenteil von jenen Eroberungszielen, die einstmals in die Köpfe von Soldaten gepflanzt wurden.
Bilanzen einer friedlichen Zeitenwende
Mittlerweile können sich Leistungsbilanzen mit stolzen Zahlen schmücken: Es gibt 20 Forschungsprojekte, mindestens 60 Promotionen, zahlreiche Publikationen und Auftragsforschungen von über 150 Forschenden.
Feindbilder der Kasernenzeit sind heute ein Fremdwort: Die internationale Ausrichtung des Studienalltags ermöglicht allen Studierenden, Auslandserfahrungen zu sammeln. Dazu dienen verschiedene internationale Bachelor- und Masterstudiengänge mit integriertem Auslandsstudiensemester und Vorlesungen in englischer Sprache – Sprachkurse in Spanisch, Französisch, Russisch, Chinesisch oder Deutsch als Fremdsprache eingeschlossen.
Von wegen Feindesland: Studierende können in einem Auslandssemester oder -praktikum andere Kulturen und Sprachen kennen lernen und sich auf Ihr Studium anrechnen lassen. Die Fakultät verfügt weltweit über ein breites Netzwerk an Partnerhochschulen. Spanien, Italien, Südkorea, Kolumbien, die USA bis hin nach Südafrika, damit junge Studis „Auslandsluft“ schnuppern können. Umgekehrt werden ausländische Studierende herzlich eingeladen, die deutsche Kultur und die deutsche Sprache kennenzulernen. Statt Abschottung herrscht weltweite Kooperation: Die Fakultät ist Mitglied der European Foundation of Management Development (EFMD Global), einem führenden internationalen Netzwerk von Wirtschaftshochschulen und Unternehmen.
Studierende erwartet von Beginn an eine echte Entwicklungsqualität in Studium und Lehre. Das Studienangebot ist das Herzstück der Fakultät. Studieninteressierte orientieren sich daran und treffen Entscheidungen über die Wahl ihres Studienfaches und Hochschulortes – und damit auch über eine besondere persönliche Bildungsphase in ihrem Lebenslauf. Internationale Studieninhalte und -orte finden genauso Berücksichtigung wie eine stets anwendungsorientierte Konzipierung der Studiengänge sowie ihre sinnvolle Ergänzung durch digitale Lehr- und Lernformate. Das Studienangebot wird entlang fachlicher, arbeitsweltbezogener und gesellschaftlicher Entwicklungen stetig weiterentwickelt, um niemals stehen zu bleiben.
Bildung wird als Fach- und Gesellschaftsbildung verstanden, die sich an einer Arbeitsstruktur und -Kultur ausrichtet, die alle gleichermaßen einbezieht. Eine lebendige Campuskultur als Lehr- und Lerngemeinschaft in persönlicher Begegnung und als gemeinsam gestalteter Bildungsort ist dabei leitender Gedanke unserer Fakultät. Um alles auf den Punkt zu bringen, soll abschließend aus dem Originalton des Fakultäts-Selbstverständnisses zitiert werden: „Als Fakultät betreiben wir interdisziplinäre Forschung und Lehre mit dem doppelten Ziel, die GEGENWART zu verstehen und die ZUKUNFT zu beeinflussen“, heißt es dort. An dem Dargelegten lässt sich leicht erkennen: Außer der nackten Architektur hat haben die heute auf dem früheren Kasernengelände Aktiven nichts mehr mit der nationalistisch-militaristischen Tradition zu tun.
In dieser Folge unserer Serie „Brückenschläge“ vom Heute zur Befreiung Osnabrücks 1945 beschäftigen wir uns mit dem Caprivi Campus der Hochschule Osnabrück am Westerberg, der sich auf einem ehemaligen Kasernengelände befindet. Architektonisch sind die Kasernen noch immer prägend für den ansonsten mittlerweile modernen und internationalen Wissenschaftsstandort.
Sören Hage hat die Dekanin vom Fachbereich WISO (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften) Frau Prof. Dr. Andrea Braun von Reinersdorff sowie Lena Lotte Peters aus der Kommunikationsabteilung des Fachbereichs zum gemeinsamen Interview auf dem Campus getroffen.
Es ist ein Gespräch unter anderem über die bewegte Vergangenheit dieses Ortes, den örtlichen Bezug zum Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, Wissenschaftsfreiheit in angespannten Zeiten, Mut zur Veränderung, vielfältige auch internationale Projekte der Hochschule, den Schutz der Demokratie und den Blick nach vorne.