Politisches Denken in der Nachkriegszeit. Neutralität als die neue Zukunft?
Wer in der Nachkriegszeit nach mehr oder weniger originelle politische Ideen sucht, wird am ehesten in einem Bereich fündig, der quantitativ als eine zu vernachlässigende Größe zu bezeichnen ist. Es ist ein Spektrum, das sich ganz am Rande dessen bewegt, was scheinbar wie selbstverständlich die Nachkriegsentwicklung bestimmte. Aber was als alternativlos erscheint, war ideell so alternativlos denn doch nicht.
Unter dem Label Neutralismus sammelt sich eine Vielzahl von Personen, die als Einzelkämpfer wie der Historiker Ulrich Noack oder der als kämpferischer Pazifist bekannte evangelische Pastor Martin Niemöller vielen Organisationen beiwohnten und sie wieder verließen. Alfred Weber, der seine Idee eines „freien Sozialismus“ mit einer block- und machtpolitische Neutralität Deutschlands verband, war eine anerkannte Persönlichkeit, aber von einer „Mehrheitsfähigkeit“ weit entfernt. Das gilt auch für einen der prominentesten Streiter für die deutsche Einheit, den späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Dessen Kampf gegen die Remilitarisierung trieb den Innenminister im ersten Kabinett Adenauer zum Austritt aus dem Kabinett und aus der CDU. Er wurde Adenauers schärfster Kritiker, er gründete sogar eine eigene Partei. Seine „Gesamtdeutsche Volkspartei“ (GVP) kam aber 1953 bei der Bundestagswahl gerade mal auf 1,2 Prozent der Wählerstimmen. 1957 löste sich die Partei auf.
Daraus folgt jedoch nicht, dass die Gesamtheit jener zur Strömung der Neutralisten zählenden Gruppen und Grüppchen völlig im Abseits stehende Realitätsverweigerer waren. Mindestens bis Anfang der fünfziger Jahre war diese Strömung in der Bevölkerung sogar noch nach der „Berlin-Blockade“ und der doppelten Staatsgründung in Deutschland keine kleine Minderheit. Das belegen Umfragen im März 1951. Da votierten noch 36 % für Neutralität und nur 39 % für einen prowestlichen Kurs, der Rest war unentschieden.
Die Frage nach der Zukunft Deutschlands erscheint im Nachhinein vorgegeben durch die machtpolitischen Realitäten und Fakten, die die Alliierten als Besatzungsmächte setzten. Was im Nachhinein so klar erscheint, war es von vorn aus gesehen nicht. Im Anfang schien sogar fast alles möglich. Auch von den Rahmenbedingungen her. Vor der Potsdamer Konferenz im Juni 1945 gab es auf die deutsche Frage von den obersten Autoritäten keine eindeutige Antwort, nur Gerüchte und Mutmaßungen.
Es gab aber einen wesentlichen Unterschied zu der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Mit der „bedingungslosen Kapitulation“ Nazi-Deutschlands existierte Deutschland als Staat nicht mehr. Es war kein völkerrechtliches Subjekt mehr, mit Deutschland wurde nicht verhandelt, es wurde von den Siegermächten über Deutschland verhandelt. Deutschlands Glück – zumindest im Westen – bestand eigentlich gerade darin, dass sich die Sieger über diese Verhandlungsmasse nicht einigen konnten und es somit faktisch aufteilten.
Die im Zentrum stehende Frage, was aus Deutschland werden solle, beantwortete jedes der sich herausbildenden Lager für sich. Die Handlungsspielräume einer Selbstgestaltung, die den Deutschen blieb, war in Ost und West sicherlich unterschiedlich, aber sie war auf beiden Seiten begrenzt. Das zeigt beispielhaft die Annullierung des „Sozialisierungsartikels“ in der Hessischen Landesverfassung durch die amerikanische Besatzungsmacht. Insofern waren alle Pläne, die Zukunft Deutschlands betreffend, die im Westen in die Welt gesetzt wurden, nicht frei von Sandkastenspielchen. Das begann schon mit dem Ausgangsproblem: was ist denn jetzt Deutschland?
Alle Pläne ähnelten mehr oder weniger einem „Wünsch dir was“. Die Ausgangsposition war die Annahme, es gäbe noch territorial ein Deutschland in den Grenzen von 1937, eine juristische Fiktion, die der Staat BRD sich später mit dem „Alleinvertretungsanspruch“ zu eigen machte. Sie widersprach zwar allen realpolitischen Gegebenheiten, aber wer sollte den Mut aufbringen, 4,5 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen etwas als Faktum zu verkünden, was völkerrechtlich noch gar nicht sicher war.
Die Teilung Deutschlands und die Konstituierung dessen, was die BRD werden sollte, vollzog sich ganz pragmatisch in der Form einer normativen Kraft des Faktischen: es entstanden Länderverfassungen entlang der Besatzungszonen, Zusammenschluss zu „Trizonesien“, Wirtschaftsrat für alle Westzonen, Versammlung für die Erarbeitung eines Grundgesetzes, Währungsreform, Berliner Luftbrücke und 1949 die Gründung der BRD und DDR. Als Plan konnte man das nirgends zuvor lesen. Es gab jene, die diese Entwicklung aufgrund der Mächtekonstellation erahnten und darin für einen Teil Deutschlands eine Chance sahen und sie willig ergriffen. Adenauer gehört sicherlich in diese Kategorie.
Mit jedem dieser Etappenschritte lösten sich Blaupausen von Zukunftsprogrammen, die die innen- mit der außenpolitischen Optionen verbanden, in Luft auf. Beliebt waren „Dritte Wege“ in der politischen und wirtschaftlichen Ordnung, gedacht als Brücken zwischen den Welten mit einem sowohl als auch oder als Insel eines „weder noch“.
Das traf die alten Nazis mit ihren Neutralitätsträumen im wiederherzustellenden Großreich genauso wie Alfred Webers „freier Sozialismus“ im geeinten Deutschland innerhalb der bei ihm schon akzeptierten Oder-Neiße-Grenze und Jakob Kaiser, dem bedeutendsten Gegenspieler Adenauers innerhalb der CDU. Mit seiner Idee eines „christlichen Sozialismus“ war er in der Gründungsphase als Vorsitzender der Ost-CDU auch der mächtigste Vertreter einer „Brückenfunktion“ Deutschlands als neutraler Staat zwischen Ost und West. Er widersprach Adenauer gleich doppelt: in der inneren, gesellschaftspolitischen Ausrichtung und in der Priorität der Einheit Deutschlands gegenüber einer Westintegration. Bekanntlich hielt weder das eine noch das andere den realen Entwicklungen stand.
Als die Teilung 1949 mit der doppelten Staatsgründung vollzogen war, rückte die Frage der inneren Ordnung ins zweite Glied. Die Befürchtungen richteten sich einerseits auf die Vertiefung der Teilung bis zur Irreversibilität. Die Sorge war, dass das „Provisorium“ BRD (wie auch die DDR) zur Ewigkeit würde. Zugleich wuchs die akute Sorge, dass mit dem Koreakrieg die sich bedrohlich entfaltende Globalisierung des Kalten Kriegs negative Folgen für Europa und für Deutschland mit sich bringt. Europa sah sich zunehmend als Objekt der Weltmächte und die beiden deutschen Staaten wurden zu den jeweiligen Frontstaaten der mächtigen Blöcke der Weltpolitik. Die Teilung Deutschlands deckte sich nicht nur mit der Teilung Europas, sondern der Welt.
Gab es hier noch einen Ausweg? Konnte man der Gefahr eines „Bruderkrieges“ wider Willen entkommen? Diese Frage wurde immer drängender. Der nächste Akt des bis dahin Unvorstellbaren war die von Adenauer erfolgreich inszenierte Debatte über die „Wiederbewaffnung“ der BRD. Dabei war sein Credo, nur ein Staat mit eigenem Militär sei ein souveräner Staat, nicht der zentrale Streitpunkt.
Alle Neutralisten, von Rechtsradikalen einmal abgesehen, konzedierten bei ihren Vereinigungsplänen eine militärische Abstinenz. Wer den Krieg an der Front erlebt hatte, träumte in der Regel nicht von seiner Wiederholung oder einer Verlängerung seiner Militärzeit. Das galt auch für die Daheimgebliebenen mit dem Erlebnis der Bombardierung der Städte. Hinzu kam die aufleuchtende neue Waffe, die Atombombe, über die seit 1949 auch „Sowjetrussland“ verfügte und die den ganzen Irrsinn eines künftigen Krieges dramatisch erhöhte. Sie bremste die letzte Begeisterung fürs Militärische aus. Kriegsmüdigkeit und erfahrungsgesättigte Kriegsernüchterung war die neue Normalität und das Fundament eines betonten Pazifismus., der in einem „Nie wieder!“ und einem „Ohne mich“ kulminierte.
Da war es kein Wunder, dass Adenauers Vorpreschen, eine deutsche Beteiligung an der Verteidigung des Westens anzubieten, die dann als Kompensation für die US-Truppen im fernen Osten, die dort den weltweiten Erzfeind Kommunismus bekämpften, noch zusätzliche Nahrung erhielt, auf heftigen Widerstand stieß. Eine stattliche Zahl von Organisationen suchte in der veränderten Situation nach gemeinsamen Wegen. Höhepunkt des Protestes gegen Adenauers Kurs war der „Deutsche Kongress“ am 17. und 18. März 1951 in Frankfurt, dessen Erfolg allerdings darin bestand, dass der lockere Zusammenhalt bis in den Herbst 1952 hielt.
Zuvor zog Adenauers Innenminister Gustav Heinemann die Notbremse und verließ nach einer kurzen und harten Auseinandersetzung mit dem Kanzler am 10. Oktober 1950 das Kabinett. Seine Sorge war, dass Adenauers stringenter Kurs gen Westen mit der Bereitschaft eines Wehrbeitrages Deutschlands die Teilung irreversibel zu vertiefen drohte. Die pazifistische Grundeinstellung gegenüber der Remilitarisierung glaubte er nutzen zu können, um die weiteren Schritte einer Beteiligung an der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) zu stoppen.
Als Heinemann dann im November 1952 eine neue Partei, die GVP gründete, von der SPD trennte ihn als Anhänger einer freien Marktwirtschaft damals deren Planwirtschaftsnähe, lag dazwischen ein Ereignis, das die Opposition gegen Adenauers Westbindung grundlegend veränderte. Alle „neutralistischen Gruppen“, die nun weniger Gewicht auf die innenpolitische Ausrichtung einer gesellschaftspolitischen Brückenfunktion zwischen den Blöcken und Ideologien legten, sondern die „Einheit der Nation“ ins Zentrum stellten, akzeptierten oder bestanden gar auf einer waffenlosen Neutralität. Dazu bedurfte es aber einer plausiblen Begründung, dass anders als Adenauer behauptete, aus Moskau keine akute Gefahr drohe. Das war Adenauers Trumpfkarte, die er mit der Behauptung erweiterte, der „Schlüssel“ zur deutschen Einheit – und damit zur Lösung der deutschen Frage – liege allein in Moskaus Händen. Damit blieb die andere Frage, ob es auf die deutsche Frage bei den potenziellen Verbündeten im Westen die gewünschte Antwort gäbe, vorerst offen, weil sie nicht gestellt wurde.
Die Stalin-Note oder die Stunde der Wahrheit
Die Lage änderte sich grundlegend, als am 10. März 1952, kurz vor dem bevorstehenden Abschluss der Verhandlungen über die EVG, eine Note des „roten Zaren“ die Westalliierten erreichte. (Görtemaker 2004, 307)
Sie enthielt den Vorschlag für eine sofortige Friedenskonferenz mit dem Ziel der Ausarbeitung eines Friedensvertrages. Ein beigefügter Vertragsentwurf enthielt einige als sensationell erscheinende Regelungen. Er sah eine Einheit mit Gewährleistung „demokratischer Freiheiten“ unter der Bedingung bündnispolitischer Neutralität (analog Österreich) vor. Deutschlands Sicherheit sollte mit eigenen militärischen Verbänden und eigener Rüstungswirtschaft in voller Souveränität gewährleistet werden. Diese Note schien zwar auf dem ersten Blick Adenauers Warnungen vor den bolschewistischen Herrschaftsplänen zu widersprechen, aber sie war zu allererst Schlag gegen den politischen Pazifismus.
An ihn war die Note dezidiert nicht adressiert, sondern an jenen nationalen Flügel der Neutralisten, der sich nicht zuletzt in der CDU, aber viel mehr noch in der FDP verstärkt zu Worte meldete. Mit dem von der Sowjetunion zugestandenen Recht auf ein eigenes Militär ohne Bündniszugehörigkeit war der Zusammenhang von Waffenlosigkeit und Neutralität ausgerechnet von dem ausgehebelt worden, von dem man es am wenigsten erwartete. Für die Organisationen des Deutschen Kongresses war es das Ende.
Ganz unabhängig davon setzte Adenauer alles in Bewegung, um die Stalin-Note als reines Täuschungs- und Ablenkungsmanöver gegen die Gründung der EVG zu werten und sie ohne weitere Prüfung zurückzuweisen. Die Verbündeten folgten seinem Rat, auch aus Eigeninteresse, denn es ist mehr als fraglich, dass sie bei allen Bedenken gegenüber einer Wiederbewaffnung ihres noch nicht in Vergessenheit geratenen Feindes, begeistert waren von dem Gedanken, diese Kameraden in voller Souveränität wieder aufgerüstet in ihrer Nähe zu haben.
Wenn schon Wiederbewaffnung, dann unter Kontrolle durch Einbindung in supranationale Strukturen. Die Weigerung der französischen Nationalversammlung, dem Beitritt der BRD zur EVG zuzustimmen, belegt diese Vorbehalte hinreichend. Dass die Amerikaner da weniger Befürchtungen artikulierten, hat sicherlich etwas mit der Entfernung und den weniger intensiven historischen Erfahrungen zu tun.
Vermieden wurde mit einem Test der Stalin-Note auch, das Interesse der künftigen „Verbündeten“ an einer deutschen Vereinigung einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen und damit auch die Festlegung der künftigen Ostgrenzen. Die Eintracht der „freien Welt“ hätte erhebliche Risse erhalten, wenn deutlich geworden wäre, dass es zur deutschen Frage nicht einen, sondern mehrere Schlüssel gab und dass es da einige gab, die schwerer zu erhalten waren, als der in den Händen „Sowjetrusslands“. In Frankreich zirkulierte das Zitat eines Schriftstellers, er liebe Deutschland so sehr, dass er davon am liebsten zwei hätte.
In Westen Deutschlands sahen einige die „Stalin-Note“ dagegen als eine einzigartige Chance, denn mehr Zugeständnisse seitens der Sowjetunion an Souveränität um den Preis der Blockfreiheit, war nicht zu erwarten. Die daraus vor allem von dem FAZ-Mitherausgeber Paul Sethe publikumswirksam vertretende These über die „verpasste Chance“, die man nicht einmal getestet habe, um den Weg in den Westen der gemeinsamen Verteidigung nicht zu gefährden, machte ihn zu einem ewigen Gegner Adenauers und zur Ikone der Neutralisten.
Wie Görtemaker mit Verweis auf Akteneinsicht in Moskauer Archiven mitteilt, war die „Stalin-Note“ durchaus als taktisches Störmanöver gedacht. (Görtemaker 2004, 309 f.) Eine Prüfung hätte jedoch offenbaren können, zu welchen Zugeständnissen Stalin wirklich bereit gewesen wäre, wenn die genannten Bedingungen durch Verhandlungen getestet worden wären.
In dem Projekt einer „Wiedervereinigung“ lag eine viel tiefer greifende Lebenslüge vergraben. Mit der westlichen Forderung, der Ausgang müssten „Gesamtdeutsche Wahlen“ sein, wurde eigentlich unterstellt, dass „wiedervereinte Deutschland“ bestünde als Ganzes aus der BRD und der SBZ, die von Moskau kontrolliert werde, deshalb nicht anerkannt und auch nicht mit ihrem Eigennamen DDR tituliert wurde. Verkürzt hieß das „Ulbricht-Regime“ einfach die „Zone“. Diese Bezeichnung stand aber schon im Widerspruch zu einer anderen für das „Gebilde“ da drüben. Wie sich Ältere erinnern, stand bis Anfang der siebziger Jahre an jeder Dorfeinfahrt ein Schild, dass uns daran erinnerte und mahnte: „Dreigeteilt? Niemals!“
In dieser auch geografisch verdeutlichten Sichtweise wurde klar, dass es sich bei der SBZ lediglich um „Mitteldeutschland“ und nicht etwa um „Ostdeutschland“ handelte, denn das waren die „verlorenen“ Ostgebiete unter „polnischer Verwaltung“, die mangels eines Friedensvertrages dem Deutschland in den „Grenzen von 1937“ „vorenthalten“ wurden. Von diesen Gebieten war in der Stalin-Note natürlich nur insofern die Rede, als ein vereintes Deutschland an der von der DDR schon anerkannten Oder-Neiße-Grenze enden würde und mit dem anvisierten Friedensvertrag dann besiegelt würde. Unausgesprochen lauerte in dieser kritischen Frage also ein noch tieferes Problem, denn es war kaum vorstellbar, dass sich die westlichen Verbündeten der BRD im Falle von Verhandlungen mit der Sowjetunion für eine Revision der faktischen Ostgrenze eingesetzt hätten. Die rein hypothetisch möglichen Folgen für die Wiedervereinigungspolitik (nicht nur Adenauers) sind offensichtlich.
Die anderen unmittelbaren Befürchtungen seitens des Westens waren dagegen vertraut. Ein neutrales Deutschland weckte alte „Rapallo-Ängste“, eine Wiederauflage einer deutschen Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Für eine Macht wie die BRD plus DDR kam eine Lösung wie für Österreich machtpolitisch nicht in Frage. Mit der Mitgliedschaft der BRD in der Nato hingegen erfüllte sich deren Funktion, die der erste Nato-Generalsekretär, der Brite Lord Ismay auf die knappe Formel brachte: Russland draußen, Amerika drin und Deutschland unter Kontrolle. Eine Einschätzung, die bei der Wiedervereinigung Deutschlands erneut eine Rolle spielte und vermutlich sogar Gorbatschow davon überzeugte, dass eine kontrollierte Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in und damit auch unter der Kontrolle der Nato für die europäische und sowjetische Sicherheit besser sei als ein neutrales Deutschland.
Die Stalin-Note hatte – wie schon erwähnt – noch eine weitere Konsequenz: mit ihr war der politische Pazifismus am Ende. Der Kampf gegen die Wiederbewaffnung als Bedingung für den Erhalt der deutschen Einheit erübrigte sich durch Stalins Zugeständnis einer bewaffneten Neutralität eines vereinten Deutschlands. Fortan wurde der Pazifismus als „Ohne mich“-Bewegung zu einer weniger politisch wirksamen Angelegenheit und die Frage der deutschen Einheit erledigte sich dann 1955 fürs erste, als die BRD auf Betreiben der USA statt in die gescheiterte EVG als gleichberechtigtes Mitglied zum Schrecken Frankreichs direkt in die Nato aufgenommen wurde. Mit dem zeitgleichen Beitritt der DDR zum Warschauer Pakt war die Frage der politischen Einheit der deutschen Nation vorerst beantwortet. Adenauer aber hatte sein außenpolitisches Ziel erreicht. „Nicht die Wiedervereinigung war sein erstes Ziel, sondern die Konsolidierung der Bundesrepublik durch ihre Einbeziehung in das westliche Lager.“ (Besson 1970, 152)
Ein letztes Relikt des politischen Pazifismus folgte dann im „Kampf gegen den Atomtod“, als das Nato-Mitglied BRD durch seinen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß eine Bewaffnung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen forderte und Adenauer diese Waffensysteme zur „erweiterten Artillerie“ herabstufte. Ihr Irrsinn bestand und besteht noch immer darin, dass sie einer Abschreckung durch Drohung mit Selbstmord gleichkommen.
Den vorläufigen Endpunkt dieses Geschichtsabschnittes bildete die „Zementierung“ der Teilung Deutschlands und Europas mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961.
Eine skeptische Zwischenbilanz
Eine kritische Bestandsaufnahme der „Erfolgsgeschichte“ des westlichen Teils Nachkriegsdeutschlands legte der Philosoph Karl Jaspers in seiner Rolle als „politischer Schriftsteller“ und kritischer Zeitzeuge der westdeutschen Entwicklung 1966 in seinem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik“ vor. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe erhob Hannah Arendt dieses Buch eines „deutschen Philosophen“ zum „politisch wichtigsten Buch, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erschienen ist.“ (Arendt 1967, 64) Mit seiner liberal-konservativen Grundeinstellung bewahrte er sich einen relativ nüchternen Blick auf die BRD, die er seit 1948 aus der Schweiz beobachtete.
In diesem zehn Jahre nach Allemanns „Bonn ist nicht Weimar“ und zwanzig nach seiner „Schuldfrage“ 1966 erschienen, vieldiskutierten Buch, das in weiten Teilen der Frage nach der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen gewidmet war, hielt er aus seiner Sicht Wahrheiten über die BRD fest, die viel Skepsis in die Gloriengeschichte der BRD streuten und als eine kritische Kontrastgeschichte zur Erfolgsstory des BRD-Provisoriums zu lesen ist:
Wie Dolf Sternberger 1946 stellt er fest: „Unsere Demokratie ist nicht geboren aus der hochgemuten Gesinnung eines Befreiungskampfes, sondern verordnet, als wir ein Haufen überlebender Deutscher waren.“ „Wir haben unsere Freiheit nicht durch einen eigenen, sich seiner bewußten, opfervollen, kämpfenden Akt der Selbstbegründung erworben, sondern durch ein Geschenk erhalten, das wir so wenig verdient haben wie die Ostdeutschen das gegenteilige Schicksal.“
Die BRD bestehe „durch den Willen der westlichen Alliierten“ und „beide Staaten sind nicht durch sich, sondern durch anderen Willen begründet.“ (Jasper 1966, 175) Selbst das Personal war das alte, denn „nach dem Willen der Alliierten wurden die alten Politiker, die dafür verantwortlich waren, dass die Deutschen sich dem Hitlerregime unterwarfen, maßgebend.“ (Jaspers 1966, 175) Nicht einmal der Stolz dieser Politiker, das Bonner Grundgesetz, ist berechtigt. „Das Grundgesetz wurde vom Volk, das es nicht kannte und nicht begreifen konnte, weder diskutiert noch beschlossen, sondern nur vom Parlament bestätigt.“ (Jaspers 1966, 176)
Die Deutschen waren ohnmächtig, in großer Not, man wollte fast nichts von dem, was dann kam. „Nie wieder“ lautete anfangs auch das Gebot der Alliierten, dann kam der Koreakrieg und das Gegenteil wurde als Beitrag zum Kampf der freien Welt ausgerufen. Anders als die Wiedergewinnung der Freiheit des Denkens und des politischen Willens gelang die Wiederherstellung der materiellen Lebensgrundlagen in atemberaubender Schnelle.
Aber das Vakuum des politischen Bewusstseins wurde dadurch nicht überwunden. Es gibt „noch kein in den Herzen gegründetes politisches Ziel“ (Jaspers 1966, 177) und dieses Vakuum werde nicht einmal mit einem Nationalbewusstsein gefüllt. Es sei zudem eine Illusion zu glauben, der Wohlstand könne auf Dauer die politischen Defizite kompensieren. (Jaspers 1966, 192)
Das Buch brachte ihn nicht viele Freunde ein, im Gegenteil. Nicht einmal die kurz darauf sich bildende außerparlamentarische Protestbewegung berief sich auf Jaspers‘ Analyse der Demokratiedefizite. Wie schon 1960 wurde er zum „ungeliebten Warner und Mahner, als er die Deutschen dazu aufforderte, auf die Wiedervereinigung zu Gunsten der Freiheit zu verzichten. Denn das sei die wahre Konsequenz der erfolgten Integration in den Westen, weil sich die Möglichkeit einer friedlichen Vereinigung auf freiheitlicher Basis nach Lage der weltpolitischen Machtverhältnisse nicht abzeichne. (Jaspers 1960) Heute wissen wir, dass auch Realismus zeitliche Grenzen hat.
Versuch eines Fazits
Gemessen an dem, was zu befürchten war, war die Entwicklung der BRD vielleicht ein Glücksfall. Gemessen an den Hoffnungen auf einen grundlegenden Bruch mit der bisherigen Geschichte, einer Veränderung der alten Herrschaftsverhältnisse bleiben unerfüllte Erwartungen, die sich auch als Illusionen über die realen Handlungsmöglichkeiten entpuppen. Nimmt man die Zwischenbilanz von Jaspers, dann erschien seine realistische Bestandsaufnahme für das Selbstverständnis der herrschenden Träger der BRD-Geschichte wie eine Missachtung ihrer Aufbauleistung. Aber sie ist nicht weit entfernt von der Einschätzung, die sich in einer neuen, jungen Generation gerade zu der Zeit seiner Kritik zu artikulieren beginnt und die Vätergeneration dann mit Veränderungsforderungen konfrontiert, die auch weit über das hinausreichen, was Jaspers für geboten hielt.
Gefordert wurde hier zumindest eine „gelebte“ Demokratie, die dem Geist Sternbergers näherstand als den herrschenden Autoritäten, deren „Aufbauleistungen“ nun ihre Unterlassungen entgegengehalten wurden, insbesondere jene einer angemessenen Aufarbeitung der Vergangenheit und daraus sich ergebender Konsequenzen. Die sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entwickelnde „Außerparlamentarische Opposition“, verbunden mit der Studenten- und Jugendrevolte, war entgegen den Prognosen und Hoffnungen der „Etablierten“ kein „üblicher Generationenkonflikt“, sondern eine kulturelle und politische Zäsur. Zwar gilt für sie, dass sie weniger erreicht als bewirkt hat, aber die sich etablierende „Kulturrevolution“, die eine Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft als aktive Bürgergesellschaft nach sich zog, veränderte die BRD nachhaltiger, als es den Zeitgenossen erschien. Ein Indiz dafür ist, dass die von Helmut Kohl propagierte „geistig-moralische Wende“, gemessen an ihren Ansprüchen und Erwartungen, scheiterte.
Wir verlassen hier die Nachkriegsgeschichte, die entgegen allen Befürchtungen keine Vorkriegsgeschichte wurde. Es ist verführerisch angesichts der gegenwärtigen Weltkrise, des Wandels der internationalen Beziehungen und des Endes der „liberalen Weltordnung“ unter amerikanischer Führung einen lehrreichen Blick auf die vergessene Geschichte des Neutralismus zu werfen. Lösen sich die „Blöcke“ nicht dadurch auf, dass der Westen durch Trump nicht mehr das ist, was er einst war und Europa vor der Herausforderung steht, sich ohne USA gegen ein wieder imperiales Russland behaupten zu müssen? Kann man von den Neutralisten der Nachkriegszeit nicht lernen?
Hier ist Vorsicht geboten. „Rapallo“ als Symbolwort für eine „Schaukelpolitik“ zwischen Ost und West ist für Deutschland weiterhin keine Lösung. Schon deshalb, weil nationale Alleingänge in Europa, wie sie die neue Rechte in der Summe fordert, sich nicht nur mit Rücksicht auf die EU verbieten. Die geopolitische und sicherheitspolitische Lage Deutschlands gebietet auch als Schatz aus der geschichtlichen Erfahrung die Erkenntnis, dass Deutschland nicht wegen des Binnenmarktes Europa braucht. Sicherheit kann es für Deutschlands nur mit und in Europa geben. Wie sich das erweiterte Europa in eine sich wandelnde Weltordnung einordnet, ist keine Frage mehr der nationalen Neutralität, sondern die entscheidende Zukunftsaufgabe: was ist Europas Rolle in einer neuen Weltordnung, die es noch nicht gibt, die es aber mit zu gestalten gilt. Kann Europa jenseits der Weltmächte USA, China und Russland eine auf Regeln des Völkerrechts basierende Weltordnung als System kollektiver Sicherheit im Verbund mit anderen Weltteilen errichten oder wird es zum Objekt anderer Mächte. Europa als Ganzes könnte das verhindern, keine der europäischen Nationen könnte das für sich allein. Das zumindest ist eine unbestreitbare Lehre, auch aus der Geschichte.
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