Politik, Konsum, Kultur, Sport und Erziehung: Das vergessene sozialdemokratische Alltagsleben vergangener Jahrzehnte
150 Jahre sollten auch in der Osnabrücker SPD Anlass genug sein, als älteste Partei der Stadt mit Stolz, aber auch selbstkritisch auf ihre Tradition zu schauen. Vorab ein Hinweis in eigener Sache: Am kommenden Mittwoch, 19 Uhr, Gaststätte Adlerhorst Lerchenstraße, gibt es einen Vortrag zum Jubiläum (siehe unten).
Aus der Geschichte lernen? Wer unvoreingenommen auf historische Ereignisse blickt, findet schon Anhaltspunkte, die Antworten geben. Zum Beispiel jenes starke Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Sozialdemokratie im Osnabrück der Weimarer Republik geprägt hat – und das auf einem breiten Umfeld weiterer Organisationen beruhte, die Menschen mit unterschiedlichen Interessen eine rote Heimat boten.
Wer sich mit der Geschichte der Osnabrücker SPD befassen will, gerät schnell auf eine Schmalspur, wenn er Sozialdemokratie nur als bloße Parteiorganisation darstellen will. Vor allem die Weimarer Republik von 1918 bis 1933 erlebt die SPD als „Parteibewegung“, die nahezu alle Lebensbereiche umfasst.
Der Ortsverein der SPD ist im modernen Sinne eine Art Holdinggesellschaft, die die politische Richtung bestimmt und dabei von mehreren Stadtteilorganisationen unterstützt wird. Die „freien Gewerkschaften“, also die sozialdemokratischen Richtungsgewerkschaften, gliedern sich vornehmlich nach Berufszweigen auf. Vor allem Betriebsräte und Vertrauensleute aus Osnabrücker Betrieben finden sich hier im Gewerkschaftshaus am Kollegienwall zum regelmäßigen Austausch.
Das Reichsbanner „Schwarzrotgold“ ist sowohl militärähnliche Organisation zum Schutz der Republik wie auch eine Ordnertruppe für Parteiveranstaltungen. Das Reichsbanner, das sich 1931 mit gewerkschaftlichen „Hammerschaften“ und Arbeitersportlern zur „Eisernen Front“ zusammenschließt, ist nicht nur, aber vor allem SPD-orientiert. Reichsweit zählen bis 1933 drei Millionen Mitglieder dazu.
Die Jüngsten der Partei sind in einer Vielzahl von Jugendorganisationen aktiv: Kinderfreunde-Rote Falken, Sozialistische Arbeiterjugend, Jungsozialisten. Jugendorganisationen haben darüber hinaus natürlich auch das Reichsbanner, die Einzelgewerkschaften, Arbeitersportvereine, besonderen Stellenwert besitzen auch die Naturfreunde mitsamt ihres – mit eigenen Händen geschaffenen – Hauses in Vehrte.
Da der „bürgerliche“ Sport aufgrund seiner Ausgrenzung gegenüber Arbeitern, vor allem aber auch seiner ausschließlich leistungssorientierten und zudem militärisch ausgerichteten Struktur verpönt ist, organisieren sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im „Arbeiterturn- und Sportbund“. Der wiederum bietet ein Angebot für fast alle Turn- und Sportarten wie Leichtathletik, Kanusport, Fußball, Handball, Schwimmen, Rad- und Kraftradsport. Angeschlossen ist außerdem der Arbeitersamariterbund, nicht zuletzt bietet man noch Schach für die „Denkakrobaten“.
Im Bild unten sind Mitglieder des Osnabrücker Arbeiterturn- und Sportbundes in den frühen 30er-Jahren bei einem gemeinsamen Auftritt in Bramsche zu sehen. Darunter befindet sich eine fotografische Momenaufnahme aus dem alten Pottgrabenbad (heute Alando): Osnabrücks Freie Schwimmer üben sich vor Publikum im Wasserball.
Nicht nur die Arbeitskraft, sondern auch die „Kaufkraft“ wird organisiert, indem man dem kapitalistischen Wirtschaftsleben über den „Konsum- und Sparverein“ die Stirn bieten will. Hier kann man per Mitgliedschaft günstiger einkaufen, ist an Gewinnausschüttungen beteiligt und kann sich darüber hinaus mit Stimmrecht an der Selbstverwaltung des Wirtschaftsbereichs beteiligen.
Aktiv besetzte Felder der Sozialpolitik bietet auch in Osnabrück die 1919 gegründete Arbeiterwohlfahrt. Verschiedenste Versicherungsleistungen bietet die Volksfürsorge. Lesehungrigen steht eine eigene Parteibücherei und das große Repertoire der Büchergilde Gutenberg zur Verfügung.
Volksbühne, Volkschor (oben ein Foto aus 1932 mit dem Chorleiter Dr. Hans Glenewinkel) und Arbeitergesangvereine, seit 1931 auch ein Sprech- und Bewegungschor, bereichern das Organisationsleben der Sozialdemokratie insbesondere hinsichtlich seiner ausgeprägten Festkultur: Die Märzfeier eingedenk der 1848er-Revolution, der 1. Mai, der internationale Genossenschaftstag am 4. Juli, die Verfassungsfeier am 11. August, letztendlich die Revolutionsfeier am 9. November werden bewusst als Alternativen zu konfessionellen oder anderweitigen Feiertagen begriffen und gestaltet. Letztendlich unterstreicht ein eigener „Verein der Freidenker für Feuerbestattung“, daß man dem Leitspruch „von der Wiege bis zur Bahre“ tatsächlich sogar über alle Lebensphasen hinaus nachkommen will.
Diese Vielzahl an Organisationen, welche allesamt versuchen, Solidarität und Sozialismus vorzuleben, findet sich schließlich in einer Tageszeitung wieder, die in vorwiegend sozialdemokratischen Haushalten gelesen wird: Die Freie Presse berichtet über alle Geschehnisse und Termine der großen Osnabrücker SPD-Familie. Die heutige SPD-Mitgliederzeitung trägt noch heute diesen Namen.
Vor allem in bestimmten Stadtteilen besitzt die Osnabrücker Partei insbesondere innerhalb der Arbeiterschaft bereits vor Beginn der Weimarer Zeit eine zentrale Position. Dafür garantieren allein schon die großen Werke wie das Stahlwerk sowie das Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk. Eine erste Industriegewerkschaft innerhalb der mehrheitlich Berufszweig-ausgerichteten freien Gewerkschaften ist der Deutsche Metallarbeiterverband, der in fast allen Großbetrieben eine starke Stellung besitzt und vorwiegend bei Betriebsratswahlen einen breiten Rückhalt hat. Speziell der Beschäftigteneinbruch auf dem Stahlwerk, das von 1923 bis 1931 von rund 2600 Arbeitsplätzen auf 660 heruntergefahren wird, wirkt sich natürlich sehr nachdrücklich auf das Partei- wie Gewerkschaftsleben aus.
Zahlreich und über das ganze Stadtgebiet verstreut sind die Treffpunkte der Sozialdemokratie. Zahlreiche Mitglieder haben hier beispielsweise die Sozialistische Arbeiterjugend und die Kinderfreunde/Rote Falken, die eine eigene Ortsgruppe neben der Stadtgruppe bilden, welche sich regelmäßig in Volksschulräumen, zuweilen auch in einem Jugendheim an der Hackländer Straße trifft. Bei entsprechendem Wetter führt es SAJler und Falken aus ganz Osnabrück auch häufig zum Sportplatz Klushügel, um Diskussionen, Liederabende, Volkstänze oder Bewegungsspiele zu veranstalten.
Ganz großgeschrieben wird vor allem der Arbeitersport. In keinem anderen Stadtteil gibt es so viele Quadratmeter selbthergerichteter Sportplätze wie beispielsweise in Schinkel. Auf dem „Fichteplatz“ am sogenannten Koksberg an der Schellenbergbrücke spielt und trainiert der „Sportverein Fichte“, der sich seine Bezeichnung vom gleichnamigen Philosophen herleitet. Der Freie Sportverein Schinkel wiederum besitzt sein Spielfeld am Schinkelturm, während der Sportclub von 1921 mit immerhin vier Herren- und zwei Jugendmannschaften auf dem Klushügel, die Spielleutevereinigung von 1928 im OFV-Stadion an der Buerschen Straße aufspielt. Letzteres wird auch von anderen Vereinen stets gern in Anspruch genommen, wenn größere oder gar internationale Begegnungen angesetzt werden. Ein „Spitzenteam“ im Arbeiterfußball, das bis zum Ende in der sogenannten „A-Klasse“ spielen darf, ist darüber hinaus der „Sportklub Ost“.
Zumeist etwas älter an Jahren, dafür umso stimmgewaltiger sind im gleichen Stadtteil die Schinkeler Arbeitersänger. Bereits 1912 „unterwanderte“ man erfolgreich den ehemaligen Schinkeler „Männergesangverein“ und erreichte schon damals, das sich dieser dem deutschen Arbeitersängerbund anschloss. Um Frauen und gleichsam auch Sopran- und Altstimmen zu gewinnen, schließt sich dieser Verein nach 1918 mit dem Schinkeler Mäd¬chen- und Frauenchor „Lyra“ zum „Volkschor Ost“ zusammen.
Der Leitspruch „Im Konsum kaufen kluge Leute“ wurde in ganz Osnabrück recht nachhaltig verfolgt. Im Jahre 1927 kündet eine Festschrift stolz über 15 sogenannte „Verteilungsstellen“ des „Konsum- und Sparvereins Osnabrück und Umgebung“. Den Ausdruck „Laden“ vermeiden die Konsumgenossenschafter bewusst, denn bei Läden geht es um kommerzielle Werbung und Gewinnspannen. Bei den Verteilungsstellen wird der Gewinn am Jahresende an die Mitglieder ausgeschüttet. Die Weihnachtsgans dürfte dabei immer drin sein.
Ansonsten führen die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in allen Stadtteilen kein dörflerisches Eigenleben, sondern sind aktiver Bestandteil der Sozialdemokratie in der Gesamtstadt. Zentraler Treffpunkt ist das Gewerkschaftshaus am Kollegienwall, das nicht nur Büros und Versammlungsräume beherbergt, sondern auch ein Jugendheim und eine Gaststätte, worin man sich täglich treffen und austauschen kann.
Wie die gesamte Arbeiterbewegung im Reich wird auch das reichhaltige Organisationsleben der Osnabrücker Sozialdemokratie nach dem 30. Januar 1933 auf brutalste Weise zerschlagen. Als das Bürgervorsteherkolleg Osnabrücks am 20. April unter der Nazifahne tagt, wird in Abwesenheit der schon „illegalen“ SPD-Ratsmitglieder beschlossen, dass sämtlichen „marxistischen Vereinen, Sportvereinen, Jugendorganisationen, Gesangvereinen u.s.w.“ die Benutzung städtischer Grundstücke zu sperren wäre. Im Gleichklang folgte die Konfiszierung des unmittelbaren Eigentums, schließlich Misshandlungen und Verhaftungen zahlreicher Aktiver.
Dass Osnabrücker Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach 1945 allerdings ganz vorneweg dabei sind, ein demokratisches Osnabrück aufzubauen, das verdanken sie nicht zuletzt ihrer Erziehung in einem sozialdemokratischen Organisationsnetz. Wie diskutiert man und lässt alle zu Wort kommen? Wie stimmt man ab? Wie setzt man einen Antrag durch? In diesen vielen Inseln sozialistischer Demokratie wurde vor 1933 jenes demokratische Handwerkszeug erprobt, das für die Fundamente des Gemeinwesens so unverzichtbar ist.
Interesse an einem Vortrag?
Der Autor dieses Artikels referiert am kommenden Mittwoch, ab 19 Uhr in der Gaststätte Adlerhorst an der Lerchenstraße zum Thema „150 Jahre SPD Osnabrück“. Interessierte sind herzlich willkommen.