Donnerstag, 2. Mai 2024

Judith Kessler erinnert an Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau, die heute vor 81 Jahren Gefangene aus einem Deportationszug befreit haben …

Ehre dem Andenken von Youra Livchitz (25), Jean Franklemon (25) und Robert Maistriau (22), die heute vor 81 Jahren in einer waghalsigen Aktion Gefangene aus einem Deportationstransport nach Auschwitz befreit haben …

Die Idee stammte vom „Comité de Défense des Juifs“ (CDJ). Nachdem alle kontaktierten Partisanengruppen abgelehnt hatten (logistisch nicht zu bewältigen, zu riskant, zu wenig Waffen, wohin mit den Befreiten …?), beschlossen die drei jungen Belgier, es allein zu versuchen. vermutlich war es ihrer Jugend geschuldet, dass sie dieses wahnwitzige Unternehmen „durchzogen“, das auch die einzige derartige Aktion des Widerstands in der Geschichte der Deportationszüge blieb.

Youra, Jean und Robert waren mit nichts weiter als einem kleinkalibrigen Revolver, einer Taschenlampe, einer mit rotem Seidenpapier beklebten Sturmleuchte der deutschen Marke „Feuerhand“ und drei Kneifzangen bewaffnet, als sie am 19. April 1943 kurz vor 22 Uhr mit ihren Fahrrädern an der Bahnstrecke zwischen Mechelen und Boortmeerbeek ankamen. Sie stellten ihre Laterne auf die Gleise, gingen in Deckung und warteten auf den Güterzug nr. 801, den 20. Transport aus der zentralen belgischen Deportationssammelstelle Mechelen nach Auschwitz: 1.636 gefangene – vor allem deutsche und staatenlose Juden, aber auch französische Sinti und Roma, eingepfercht in 40 verriegelte und vergitterte Güterwaggons.

Tatsächlich bremste der Lokführer scharf, als er plötzlich hinter einer Kurve das Licht erblickte, das wie ein Warnsignal aussah. Robert Maistriau sprang aus seinem Versteck und versuchte fieberhaft, die Tür des letzten Waggons zu öffnen. Während die beiden anderen vom Begleitkommando entdeckt worden waren, Livchitz ein paar Schüsse abfeuerte und Franklemon einen Verfolger niederschlagen konnte, gelang es Maistriau, die erste Tür aufzubrechen: „Blasse und verängstigte Gesichter starrten mich an. ‚Raus‘, rief ich, ‚schnell, schnell, schnell raus!‘. Dann versuchte ich, den zweiten Waggon zu öffnen … aber die Zeit lief uns davon und der Zug fuhr wieder an“.

Das Ganze hatte keine 20 Minuten gedauert. 17 Männer und Frauen, darunter Hena Wasyng und Henda und Mendelis Goldsteinas, hatten sich getraut, Maistriaus Aufforderung zu folgen, waren aus dem Zug gesprungen und in den Wald gerannt. Hier verteilte Maistriau die 50-Franc-Scheine, die ihnen das CDJ für die weitere Flucht der befreiten mitgegeben hatte. Die meisten trafen sich am nächsten Morgen auf dem Bahnhof Haacht wieder. Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht umringten die schmutzigen Gestalten und schützten sie davor, von etwaigen Denunzianten entdeckt zu werden…

Neben diesen 17 konnten sich später weitere 215 Menschen aus dem Zug befreien, mit Hilfe aus dem Lager eingeschmuggelter Sägen und dank der beiden Lokführer Albert Simon und Albert Dumon, die vom CDJ gebeten worden waren, die Geschwindigkeit des Zuges auf einigen Streckenabschnitten so weit zu drosseln, dass man abspringen konnte. Manche verletzten sich dabei so schwer, dass sie es nicht überlebten, andere wurden erschossen oder wieder eingefangen, aber 115 Menschen gelang die Flucht aus dem 20. Transport.

Youra Livchitz, Kampfname „George“, der einzige Jude der Gruppe, der in Kiew geboren wurde und in Brüssel Medizin studiert hatte, hatte vor der Aktion Flugblätter hergestellt und BBC-sendungen für Radio Moskau übersetzt. Er wollte nun nach England fliehen, wurde jedoch verraten, von der Gestapo verhaftet und am 17. Februar 1944 als „Chef einer Terroristenbande“ und Initiator des Zugüberfalls hingerichtet.

Jean Franklemon, genannt „Pamplemousse“, war Kommunist und Mitglied einer Straßentheatergruppe, hatte in den spanischen Brigaden gekämpft, wurde im August nach dem Zugüberfall gefasst, überlebte die Haft im KZ Sachsenhausen, siedelte 1968 in die DDR über und lebte bis zu seinem Tod 1977 in Kleinmachnow bei Berlin.

Robert Maistriau, der zum Zeitpunkt des Zugüberfalls noch Medizinstudent war und der Groupe G („Groupe général de Sabotage de Belgique“) angehörte, wurde 1944 gefasst und in Buchenwald, Mittelbau Dora und Bergen Belsen inhaftiert. Bei seiner Befreiung wog er noch 39 kilo. Er ging als Viehzüchter nach Belgisch-Kongo und starb 2008 mit 87 Jahren in Belgien.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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