Ein Psychogramm in drei Lebensabschnitten
Hermann Wilhelm Berning (geb. März 1877 in Lingen (Ems); gest. 23. November 1955 in Osnabrück) war von 1914 bis 1955 Bischof von Osnabrück. Im Juli 1933 wurde er von Hermann Göring zum Preußischen Staatsrat ernannt.
„Du sollst nicht ehebrechen;
du sollst nicht töten;
du sollst nicht falsch Zeugnis geben;
dich soll nichts gelüsten;“
und so ein anderes Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst:
„Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“
(Paulus, Brief an die Römer, Kap. 13/9)
Und Jesus sprach: Wahrlich, ich sage dir, drei Mal wirst du mich verraten haben und drei Mal wird der Hahn krähen.[1]
(In Anlehnung an Matthäus 26.34)
„Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffe gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so sagen wir nein: ‚Nein, das tun wir nicht!‘“ (Rosa Luxemburg, Rede vom 25.09.1913 im Gasthaus „Zum Himmel“ in Fechenheim).
Von Seiten der Kirche gab es einen solchen Protest im Vorfeld des Ersten Weltkrieges nicht.
Als im November 1918 das bis dahin gewaltigste Menschenschlachten mit 17.000.000 Todesopfern, davon über 7.000.000 Zivilpersonen, – fast ausschließlich in den vom Deutschen Reich und seinen Verbündeten angegriffenen Staaten – zu Ende ging, hätte Dr. Berning die folgende persönliche Bilanz ziehen können:
Als Christ war ich nicht wachsam, als ich schon vor Beginn meines Episkopats zu maßloser Aufrüstung und Kriegspropaganda, zur Kriegsbegeisterung gerade auch bei der akademischen Jugend schwieg. Auch habe ich nicht erkannt, dass es Gotteslästerung ist, wenn auf den Koppelschlössern unserer Soldaten „Gott mit uns“ eingeprägt wurde. Ich habe nicht versucht, über den Vatikan die Einheit der katholischen Kirche bei uns und in den Nachbarstaaten unter Besinnung auf die Erfüllung der Friedensbotschaft Jesu – Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen – zu drängen.
In den Kriegserklärungen des Deutschen Reiches nach Westen und nach Ostern und dem Überfall auf Belgien und Luxemburg habe ich nicht den Beginn endloser Mordtaten gesehen.
Als am frühen Morgen des 6. August 1914 die Zivilbevölkerung von Lüttich, der Heimat des gerade in unserer Nachbarstadt Münster hoch verehrten Lambertus, aus einem Luftschiff bombardiert wurde, kam es mir nicht in den Sinn, dass das als Verstoß gegen die Haager Konventionen ein Verbrechen war. Mein Herz war nicht bei den im Schlaf überfallenen Opfern.[2]
Als ich von deutschen Gräueltaten in Belgien hörte, den tausendfachen Geiselnahmen, die für die Opfer fast immer mit dem Tod endeten, als ich von der Feuersbrunst in Leuwen, von der Vernichtung der historischen Bibliothek, hörte, vom Beschuss der Kathedrale von Reims, habe ich leichtfertig dem Manifest der 93er[3] Glauben geschenkt, anstatt die deutschen Todsünden anzuklagen.
Als ich vom „Uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ las, habe ich nicht für die vielen tausend Ertrinkenden gebetet, und auch nicht für die grässlich verbrannten Opfer, als ich vom Einsatz der in Deutschland erfundenen Flammenwerfer erfuhr.
Als ich von Angriffen mit von deutschen Chemikern erfundenem Giftgas hörte, habe ich nicht an die zahllosen Opfer und ihre verätzten Lungen gedacht, und auch nicht an die Haager Konventionen, die das Vergiften von Kriegsgegnern verbieten. Und ich habe auch nicht an unsere eigenen Opfer gedacht, die infolge von Angriffen bei Gegenwind jämmerlich ersticken mussten.
Als ich über die Gräuel des Grabenkrieges informiert wurde, von der Vernichtung ganzer Dörfer mit den darin wohnenden Menschen, insbesondere Frauen und Kinder, im Rahmen der Schlacht von Verdun, blieb mein Herz kalt. (dazu ausführlich: Horn, John & Kramer, Alan: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2004)
Für die Gräueltaten unserer Armee an der Ostfront habe ich mich gar nicht erst interessiert.
Ich hätte mich schämen müssen, als es insbesondere in der zweiten Kriegshälfte in Deutschland zu mehreren hunderttausend Hungertoten kam, – ich selber hatte ja immer genug zu essen. An das Bibelwort, „ein jeder trage des anderen Last“, habe ich nicht gedacht. (Galater Brief 6.2)
Hätten wir uns nicht angesichts der Blutströme von Millionen Menschen bemühen müssen, uns auf die Gebote Jesu zu besinnen?
Aber: Die Bilanz des großen Krieges sah bei Dr. Berning anders aus:
Zu dem unglücklichen Ausgang des Krieges kam die Revolution mit ihren furchtbaren Folgen. Die Throne der Fürsten sind in unserem Vaterland gestürzt. Der ganze bisherige Aufbau unserer Staatslebens ist zerstört. Die Grundlagen des Rechtes und der Gesetze sind erschüttert. … Die Bande der Sittlichkeit scheinen gelöst zu sein.
(Recker, S. 23)
Das war es, was Dr. Berning bewegte. Die Menschen hätten keinen Halt mehr, weil die traditionelle Ordnung infolge des verlorenen Krieges beseitigt worden sei, – für die Kirchen ein schmerzlicher Verlust an Macht und Einfluss.
Kein Gedanke an die Millionen Toten, an die Verkrüppelten, die Traumatisierten, also an die Opfer des Krieges. Er erwähnt sie nicht.
Da krähte der Hahn zum ersten Mal.
Imperialismus – oder die Welt, in der Wilhelm Berning aufwuchs
Was da in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, nennen nicht nur marxistische Historiker die Epoche des Imperialismus im Sinne der Zuspitzung konkurrierender Machtansprüche, insbesondere der zentraleuropäischen Staaten.
Als im Ergebnis des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 das Deutsche Reich (im Ausland!) gegründet wurde, führten die dem Nachbarn Frankreich auferlegten Reparationen gigantisches Kapital nach Deutschland, – die materielle Basis für die „Gründerjahre“, aber auch der Beginn einer maßlosen Aufrüstung, – natürlich verbunden mit neuen Kriegs- und Kolonialisierungsplänen.

Im deutschen Generalstab hatte man schon um die 1880er Jahre Gedanken entwickelt, die Machtverhältnisse in Europa militärisch zu verändern, wie der spätere Chef des Generalstabes Alfred von Waldersee[4] in seinen Tagebüchern festhielt.
Ich sehe ein Herauskommen für uns nur in einem großen Kriege, in welchem wir einen Gegner Frankreich oder Russland wirklich dauernd lahmlegen – …
1873 oder 1874 war für die Abrechnung mit Frankreich der richtige Augenblick, da wir sahen, dass das Land sich erholte und mit Revanchegedanken trug, und ebenso im Falle Russland gegen Ende des Russisch-Türkischen Krieges, wo wir England zunächst auf Russland loslassen konnten.
(v. Waldersee am 15. Oktober 1885, zitiert nach Meissner, S. 263)
Schon drei Jahre zuvor, im November 1882, hatte von Waldersee seinem Tagebuch anvertraut:
Unser Verhältnis zu Russland ist äußerlich leidlich, eigentlich aber doch sehr unbehaglich. Sie rüsten fortwährend, bereiten den Krieg vor, und wir verhalten uns demgegenüber recht schüchtern. (Meissner, S. 222)
Damit war der Refrain eines Liedes in die Welt gesetzt, das immer mal wieder neu komponiert, im textlichen Kern starr und unverändert bleibt, ein Lied, das auf jeden Fall die Herzen der Rüstungsproduzenten und ihre Aktionäre erfreut.

Um gegnerische Festungsanlagen zu „knacken“, wurde bei Krupp die „Dicke Bertha“ entwickelt, ein 420mm Steilgeschütz, das in der Lage war, Granaten mit 1.000 Kilo Sprengstoff mehr als 10 Kilometer weit ins gegnerische Lager zu verschießen.
Den grollenden Donner der Probeschüsse auf dem Meppener Schießplatz dürfte man bis nach Lingen, der Heimatstadt Wilhelm Bernings, gehört haben.
Wilhelm Bernings Kindheit
Wilhelm Berning hatte nur vier gemeinsame Jahre mit seinem Vater. Als der 1881 unerwartet starb, verblieb die gesamte Erziehungsarbeit bei der Mutter. Sie habe ihn, so der Biograf Recker, im katholischen Glauben geprägt, habe jedes Angebot einer neuen Heirat abgelehnt, um sich nur den Kindern zu widmen. Sie habe ihnen den Vater ersetzt und es sei ihr gelungen, in der Erziehung mütterliche Liebe mit väterlicher Autorität in glücklicher Weise zu verbinden. Frau Berning habe ihrem Sohn den Haushalt bis zu ihrem Tode 1926 geführt.
Schule und Studium
Im eigenen biografischen Rückblick, so Recker, habe sich Berning als „Primus der Klasse“ dargestellt. Im Rahmen seines vierjährigen Theologiestudiums habe er fünf Sprachen studiert, – über das Hebräische hinaus Arabisch, Syrisch, Armenisch und Koptisch, und auch noch den Beidhawi, den wichtigsten muslimischen Kommentar zum Koran.
Im Studium wurde Wilhelm Berning insbesondere durch den Münsteraner Professor Franz Hitze beeinflusst. Der hatte sich in seiner Partei, dem Zentrum, als „Sozialethiker“ profiliert und war auch Mitbegründer der Bewegung der katholischen Arbeitervereine. Diese sollten Grundrechte der arbeitenden Bevölkerung wahren, aber – um Gottes Willen – nicht streiken.
Franz Hitze war ein glühender Antisemit, der den Kapitalismus als Ausgeburt der entgrenzten Gier der Juden deutete. Seinen Lehrer verehrte Wilhelm Berning in gleichem Maße, wie er den Kaiser und später wohl auch Adolf Hitler als absolute weltliche Autorität anerkannte.
Erster Weltkrieg und Amtsantritt von Dr. Wilhelm Berning
Die sich zuspitzenden Widersprüche zwischen den Staaten führten auch zur nationalen Orientierung der Kirchen in den jeweiligen Landeskirchen. Das wurde vom Vatikan mit Sorge zur Kenntnis genommen, – letztlich entschied man sich aber für eine Linie der Unparteilichkeit.
Im August 1914 erklärte das Deutsche Reich Frankreich wie auch Russland den Krieg, unter Bruch völkerrechtlich verbindlicher Verträge – Neutralität einerseits und Nichtangriffsversprechen andererseits – wurden zunächst Luxemburg und Belgien überfallen.

Am 6. August 1914 wurde die Zivilbevölkerung der Stadt Lüttich aus einem deutschen Luftschiff bombardiert, – ein Bruch der erst 1907 vereinbarten Haager Konventionen und ein folgenreiches Präjudiz für die weiteren Luftkriege. In den nachfolgenden Kriegsjahren kam es zu weiteren Bombardierungen gegen die Zivilbevölkerung in Städten wie London oder Antwerpen.
Die kaiserlich-preußische Armee stieß mit terroristischer Brutalität in das neutrale Belgien vor. Geiselerschießungen, Benutzung von Zivilisten als menschliche Schutzschilde beim Vormarsch, standrechtliche Urteile wegen „Rebellion“, – insgesamt kamen in Belgien beim Vormarsch der deutschen Armee mehrere 10.000 Zivilisten zu Tode. Diese Art der Kriegsführung setzte sich dann in Frankreich fort. Das Arsenal der grausamen Kriegswaffen wurde durch zwei deutsche Erfindungen erweitert, die Flammenwerfer und das Giftgas (erstmals 1916 im Antrittsjahr des Bischofs eingesetzt).
Die Zeit- und Erfolgsrechnungen des Schlieffen-Plans gingen jedoch nicht auf, – der Krieg an der Westfront erstarrte in den Schützengräben. Noch die abrückende deutsche Armee ab dem Sommer 1918 hinterließ im Nordosten Frankreichs einen breiten Streifen der totalen Zerstörung von Gebäuden, der Vergiftung von Brunnen und anderen Gräueltaten. Gleichermaßen brutal hatte die kaiserliche Armee den Krieg an der Ostfront geführt.
Zweiter Weltkrieg
Als am 8. Mai 1945 das Hitler´sche Mordregime bedingungslos kapitulieren musste, als damit – mit 55.000.000 Toten, ungezählten Verkrüppelten, ungezählten Seelengeschädigten und zerstörten Existenzen, nach unsäglichen Kriegsverwüstungen in allen angegriffenen Ländern, insbesondere im Osten, und einem nunmehr in Schutt und Asche liegenden Deutschland eine weltweite Menschheitskatastrophe zu Ende ging, da hätte Dr. Berning die folgenden Einsichten haben können:
Ich war naiv als ich die Mörderbande Mussolinis nicht als Gefahr für die Menschen in Italien und als bedrohlichen Vorboten für nationalistischen Machtwillen in unserem Land erkannte. Mit meinen Bischofsbrüdern hätte ich, hätten wir unsere tiefe Besorgnis zum Ausdruck bringen müssen.
Ich war unbesorgt, als ich von der aufsteigenden Hitlerbewegung und ihrer Gewalt- und Mordbereitschaft erfuhr.
Ich war eher begeistert als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde. Ich war sorglos, als der Reichstag brannte und viele zehntausend Oppositionelle in bestehende und „wilde“ Gefängnisse eingekerkert wurden.
Als ich im Februar 1933 zusammen mit anderen Bischöfen Hitler zu ersten Sondierungen bzgl. eines Konkordats traf, habe ich nicht erkannt, dass das der Judaslohn für die Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ seien würde. Ich habe auch in meiner eigenen Partei, dem Zentrum, nicht die Stimme gegen das „Ermächtigungsgesetz“ erhoben, das wird mir wohl von Gott als Todsünde angerechnet werden müssen.
Ich habe hingenommen, dass die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 massivst manipuliert wurden. Der Boykott „jüdischer Geschäfte“ ab dem 1. April 1933 war mir egal, wie auch die zunehmende Ausgrenzung unserer jüdischen Mitbürger, Kinder Gottes wie wir. Ich war feige, als ich in meiner Silvesterpredigt von 1934 nicht den Respekt für die Juden im Lande einforderte, wie ich es im Entwurf noch festgehalten hatte.
Ich habe mich kaufen lassen, als ich in meine Ernennung zum preußischen Staatsrat durch Hermann Göring einwilligte.
Den Eid der Bischöfe von 1934 hätte ich niemals schwören dürfen:
Vor Gott und auf die heiligen Evangelien schwöre und verspreche ich, so wie es einem Bischof geziemt, dem Deutschen Reich und dem Lande Treue. Ich schwöre und verspreche, die verfassungsmäßig gebildete Regierung zu achten und von meinem Klerus achten zu lassen. In der pflichtgemäßen Sorge um das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens werde ich in Ausübung des mir übertragenen geistigen Amtes jeden Schaden zu verhüten trachten, der es bedrohen könnte.
(Eidestext aus Art. 16 des Reichskonkordates von 1933)
Ich ahnte damals nicht, dass ich damit den Schutz für politisch Verfolgte und angeklagte Priester aufgab und glaubte, für Johannes Prassek nicht mehr tun zu können, als ein Gnadengesuch einzureichen.
Auch für den Prälat Wilhelm Leffers aus Rostock und den Pfarrer Gustav Görsmann aus Gellenbeck (vgl. Recker, S. 385 ff.) habe ich nur den Mut zu vermittelnden Gesprächen gefunden.
Allen dreien, also auch Prassek, war „illegale“ Seelsorge vorgeworfen worden. Da hätte ich, das Konkordat im Rücken, durchaus im Dom Predigten zur Freiheit der Seelsorge halten müssen, – Seelsorge, die allen Menschen gelten muss und nicht an Nationalität gebunden sein kann.
Ich hätte versuchen müssen – vielleicht in betender Zwiesprache mit meinem Herrgott -, mich von dem Konkordatseid zu lösen, – stellt doch die Rettung eines Menschenlebens einen weitaus größeren ethisch-moralischen und religiösen Wert dar als das Einhalten eines Eides auf ein Mörderregime.
Ich irrte, als ich mich auf die Formel – fast ein Lebensmotto – einließ: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.“
Ich hätte protestieren müssen, als ich hörte, dass die „Legion Condor“ sich in Spanien an den Mordtaten gegen die republikanische Bevölkerung beteiligte.
Ich tat Unrecht, als ich in einem der Emslandlager predigte, wohl wissend, dass dort politische Gefangene willkürlich und ungesetzlich festgehalten wurden, und schlimm war, dass ich Adolf Hitler als Erwecker des Emslandes bejubelte.
Ich war gefühllos, als ich mich im weiteren Kriegsverlauf den ungezählten Witwen und Waisen nicht tatkräftig zur Seite stellte.
Meine Bischofsbrüder und ich hätten nicht hinnehmen dürfen, als der neue Weltkrieg – ähnlich der Bombardierung Lüttichs – mit einem nächtlichen Stuka-Überfall auf die polnische Kleinstadt Wieluń losbrach, – die Lüge vom polnischen Überfall auf den deutschen Sender Gleiwitz hätte ich niemals glauben dürfen.
Ich schäme mich, dass ich das „Unternehmen Barbarossa“ ab dem 22. Juni 1941 begrüßt habe.
Ich war feige, als mein Glaubensbruder von Galen die T4-Aktionen angriff, hatte ich selbst doch nur – das Konkordat im Rücken – den Mut zu einer Zurückweisung der deutschen Christen, also des „Neuheidentums“ gefunden.[5]
Eine Todsünde habe ich auf jeden Fall begangen, als ich Dr. Lucas, den Arzt an der Rampe von Auschwitz, der sich mir in Gewissensnot anvertraut hatte, zum Weitermachen ermutigte.[6]
Erneut habe ich nicht auf die Worte des Heilands gehört. Nun ist die Zeit der Buße und der Mut zur Umkehr gekommen.
Ich muss bekennen, dass der Kommunist Thälmann mit der Warnung vor Hitler den Worten Jesu um vieles näher war als ich, der Bischof von Osnabrück.
Zu all diesen Erkenntnissen fand Dr. Berning jedoch nicht, sondern lediglich zu einer Schuldprojektion:
Der vergangene Staat setzte sich über alles Recht hinweg. Er erkannte Gottes Gesetze nicht an, darum sein Kampf gegen alle Religionen. Darum trat er die Rechte des Menschen mit Füßen. Das Gewissen, die Ehre, das Vermögen, die Freiheit und das Leben des Einzelnen. Es war die Herrschaft eines heidnischen, rein dämonischen Staatsabsolutismus.
(zit. nach Recker, S. 401)
Der NS-Staat war nach Meinung Dr. Bernings – so Recker – das Ergebnis der neuzeitlichen antireligiösen und antichristlichen Entwicklungen, die Ausgang in der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts hatten sowie in der Aufklärung mit ihrer Verherrlichung der Vernunft, … Siegeszug der Technik, dem Kapitalismus und Marxismus, die beide in den irdischen Gütern die höchsten Lebenswerte sahen. (vgl. Recker, S. 401)
Da krähte der Hahn abermals.
Schuldprojektionen
Wie ein Leitmotiv zieht sich der Widerstand gegen die Prunksucht des katholischen Klerus – vor allem „oben“ in der Hierarchie – durch die Geschichte reformatorischer Bewegungen durch das zurückliegende Jahrtausend. Der Grund liegt auf der Hand: Die Prunksucht kontrastiert auffällig mit dem Armuts- und Bescheidenheitsideal des biblischen Jesus. Schon hier erweisen sich die eben zitierten kritischen Worte zu Kapitalismus und Marxismus als klare Projektionen der klerikalen Gier auf die materiellen Werte im Diesseits.
Am Anfang standen als frühe Reformatoren die Katharer, als Ketzer blutigst von der Inquisition verfolgt, zu Hunderttausenden ermordet. Wegen der besonderen Bedeutung der Täuferbewegung in Münster, dem Studienort von Dr. Berning, sei auf diese Epoche etwas genauer eingegangen: Ein besonderes Glaubenselement der Täufer war die Parusie, die fleischliche Wiederkehr Jesu, wie sie auch in der Apokalypse angekündigt wird. Diese Wiederkehr ist eigentlich ein zentrales Element christlichen Glaubens, wird allerdings je nach Epoche mit unterschiedlicher Intensität geglaubt bzw. diskutiert, – dies meist in Umbruchzeiten.
Dem frühen 16. Jahrhundert waren die ersten Pestzüge vorausgegangen, Hungersnöte wegen der „kleinen Eiszeit“, die zu Glaubensdeutungen führten, die Wiederkehr Jesu stünde kurz bevor. In diese Richtung wurden auch meteorologische und astronomische Phänomene gedeutet. Die Vorbereitung auf dieses Ereignis sollte durch eine besonders bibeltreue Glaubenspraxis erfolgen: Abkehr von der Säuglingstaufe hin zur Glaubenstaufe und ein Leben in Bescheidenheit und Friedfertigkeit.
Die Täuferbewegung traf umgehend auf tiefgreifenden Glaubenswiderstand seitens der Katholiken und der Lutheraner. Beim Reichstag zu Speyer wurden alle Täufer pauschal zum Tode verurteilt, und so wurden sie auch verfolgt, lange bevor die Bewegung in Münster besonderen Nachhall fand. In zwei Ratswahlen 1532 und 1533 gewannen sie in Münster die Mehrheit. Daraufhin erklärte der Fürstbischof Franz von Waldeck, sein Amtssitz war die Burg Wolbeck vor den Toren der Stadt, der Täuferbewegung den Krieg. Erstürmungsversuche scheiterten. Es folgte eine Belagerung zur Aushungerung.
Es war der erste Krieg mit „medialer“ Beteiligung. Mit der Erfindung der Buchdruckkunst war es möglich geworden, Flugblätter zu verteilen, in denen die „Täufer-Tyrannei“, das sittenlose Leben der Täufer, gegeißelt wurden, – also eine psychologische Kriegsführung, gespickt mit propagandistischen Lügen.
Die Gegenseite hatte wegen der Belagerung keine Möglichkeit, in ähnlicher Weise auf die Meinung im Umfeld der Stadt einzuwirken. Als es den bischöflichen Truppen dann doch gelang, die Stadt zu stürmen, wurden in der Eroberungsnacht etwa 800 Täufer getötet und in der unmittelbaren Folgezeit wurden wohl mehrere Tausend hingerichtet.
Es stellt sich die Frage, warum gerade die Mächtigsten im Klerus die Befürworter von Demut und Bescheidenheit derartig aggressiv verfolgten und sich auf die Ausrichtung des eigenen Lebensstils nach dem Vorbild ihres Heilands nicht einlassen wollten bzw. konnten. Dafür mag es viele Erklärungen geben, – hier soll dieses Phänomen vor dem psychodynamischen Ansatz der Psychoanalyse diskutiert werden:
Prunksucht steht unter psychoanalytischen Betrachtungen im Lichte einer extremen Egomanie, nämlich dem Narzissmus. In der griechischen Mythologie hatte sich Narziss in das eigene Spiegelbild im Wasser einer Quelle verliebt. Ein Spiegelbild ist allerdings nur von flüchtiger physikalischer Materialität und nicht von der organischen Dynamik des lebendigen „Ich“. Im „Ich“ findet sich der soziale Ausgleich von den Normen des „Über-Ich“ und den mitunter unsozialen Antrieben aus dem „Es“.
Wenn Narzissmus die Lebendigkeit des „Ich“ verdrängt bzw. weitgehend ersetzt, wenn die Normen des „Über-Ich“ mit den sublimierten Antrieben[7] aus dem „Es“ zusammentreffen, kann das eine Quelle großartiger künstlerischer oder geistiger Leistungen sein, deren Basis sich allerdings in Kontroversen schnell als brüchig erweisen kann. Dann kann die Entsublimierung des Antriebs urplötzlich in aggressive oder sexuelle[8] Gewalt umschlagen.
Soweit das narzisstische Selbstbild Befriedigung im materiellen Prunk findet, kann einer diesbezügliche Kritik nicht mit Einsicht begegnet werden, sondern führt zu aggressiven, nicht selten extrem blutigen Antworten auf die Kritik. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob sich in der Biografie oder im Verhalten des Dr. Berning Anhalte für narzisstische Persönlichkeitsdefizite finden. Da ist zunächst die unaufgelöste Mutterbindung, die sehr häufig einer Partnerschaftsbindung im Erwachsenenalter entgegensteht, und eben auch der Ausbildung eines lebendigen „Ich“ und dessen Ersetzung durch eine narzisstische Persönlichkeitsprägung. So mancher hat vor dem Hintergrund eines solchen Grundkonfliktes die Flucht in den Zölibat gesucht.
In eine solche Prägung hinein passen die Prahlereien zum eigenen Schulerfolg, oder auch die Angaben über sein Studium: Fünf Sprachen habe er studiert, Hebräisch, Arabisch, Syrisch, Armenisch, Koptisch und auch noch einen umfangreichen Kommentar des Islam.
In der Gefahr einer narzisstischen Selbstüberhöhung ist schon jeder „einfache“ Geistliche, wenn, wie noch bis vor wenigen Jahrzehnten in katholischen Gegenden üblich, die Gläubigen bei Begegnungen mit einem Priester auf die Knie fallen und religiöse Formeln zu murmeln hatten. Umso größer ist diese Gefahr für einen Bischof, wenn er der Glaubenslehre, er sei mittelbar von Gott – auf jeden Fall nicht von Menschen – auserwählt, folgt. Derartiges kann zu uneinholbaren Superioritätsgefühlen führen.
Im kritischen Blick auf das Resümee zum Ersten Weltkrieg des Dr. Berning lässt dessen extreme Gefühlskälte und die Unfähigkeit zur Empathie aufscheinen, zu den Millionen Toten und den Millionen zerstörten Biografien fällt ihm nicht mehr ein als die nunmehr drohende Sittenlosigkeit und den Verlust kirchlicher Macht zu beklagen. Hatte er doch schon während der Kriegsjahre und erst recht danach tägliche Begegnungen mit den Schicksalen von Witwen und Waisen, mit mittellosen Verkrüppelten allein in der Stadt Osnabrück. Bei Gewissensanstrengungen hätte er erkennen können, um wieviel schlimmer die Menschenschicksale in den angegriffenen Ländern waren.
Gleichermaßen offenbart der Blick auf das Resümee zum Zweiten Weltkrieg narzisstisch motivierte Schuldprojektionen: das Hitlerregime habe seinen Ausgang in der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts genommen. Als Student der Theologie in Münster dürfte er in dieser Auffassung vor allem durch die bis in unsere Tage anhaltende Hetze und Verleumdung gegen die sog. Wiedertäufer geprägt worden sein, die – vielleicht Morgenglanz der Aufklärung – die Folter und das Verbrennen lebendiger Menschen abgeschafft das Recht auf unbeschränktes Privateigentum infrage gestellt hatten.
Ob dies als „frühsozialistische“ Strömung zu werten ist oder aber als ein strenges Nahrungsverteilungsregime als Folge der Hungerbelagerung, mag an dieser Stelle dahin stehen. Die drei Anführer der Wiedertäufer wurden in einem sadistischen Exzess – sadissime non plus ultra – vor der Lambertikirche zu Münster in einem mehrstündigen Ritual hingerichtet. Der Bischof soll, – so zeigt es jedenfalls ein zeitgenössischer Stich – dem blutrünstigen Spektakel in nächster Nähe in einer Art Logensitz beigewohnt haben.

Als „dreifaltiges Kainsmal“ des mörderischen Bischofs hängen die Käfige für die Getöteten noch heute am Turm der Lambertikirche, Symbole krassesten Antihumanismus.
Ganz anders sah es Dr. Berning: Die reformatorischen Strömungen des 16. Jahrhunderts seien eine wesentliche Ursache für den deutschen Faschismus, – ein Gedankenbogen, der ihm erlaubte, die ursprünglich eigene Begeisterung für das „Dritte Reich“ zu verdrängen.
Sonderlich neu und originell war die Auffassung Dr. Bernings von der „Schuld“ der Reformatoren nicht. Johannes Janßen hatte in seinem achtbändigen Werk „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ (vgl. Laubach, S. 141) die Generalthese aufgestellt, durch die Reformation sei ein allgemeiner Verfall der sittlichen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse ausgelöst worden. Clemens August von Galen hatte in seiner Predigt zur 400-Jahr-Feier der Täufervertreibung am 23. Juni 1935 davon gesprochen, dass die täuferischen Machthaber jede freie Regung mit Gewalt unterdrückt und sogar behauptet hätten, ihr Willkürregiment, ihre Grausamkeit, ihre unsittlichen Ausschweifungen geschähen auf Gottes Befehl. (vgl. Laubach, S. 143)
Auch die NSDAP beeilte sich, nach 1933 die Täuferbewegung als frühen Bolschewismus zu diskreditieren. Ein Buch des im KZ Dachau ermordeten Friedrich Reck-Malleczewen hatte in einer 1946 neu aufgelegten Schrift 1937 dann auf die Parallelen zwischen der „Diktatur des Jan van Leiden“ und der Hitler Diktatur hingewiesen. Diese Schrift wurde als Warnung vor dem Sozialismus verstanden, und zwar im Sinne der Totalitarismus-Theorie.
Die jüngere wissenschaftliche Historiografie hat inzwischen eindeutig belegt, dass nicht die Täufer die Tyrannen waren, sondern der Fürstbischof, der die gültigen Ratsbeschlüsse der freien Stadt Münster nicht hinnehmen wollte und deshalb den Weg der militärischen Niederschlagung und der blutigen Vernichtung der Menschen der Täuferbewegung einschlug. Gleichwohl dominiert in vielen Geschichtsdarstellungen die „papistische“ Version. In den etwa 20 Videos, die bei YouTube aufrufbar sind, wird jedenfalls ohne Ausnahme die kirchenoffizielle Interpretation für die wahre gehalten.
Die sadistische Beendigung des „Täuferreiches von Münster“ ist der gesamten Sphäre der römisch-katholischen Kirche bekannt, – aus dem Klerus ist bislang keine Distanzierung bekannt geworden.
Zum Atomzeitalter
Als sich im November 1955 für Dr. Berning die Stunde des Todes näherte, könnte er für die Nachkriegszeit die folgenden abschließend resümierenden Gedanken gehabt haben:
Mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, mit der nachfolgenden atomaren Rüstungsspirale, hat sich als größte denkbare Todsünde die Gefahr der Vernichtung der Schöpfung ergeben. Warum habe ich nicht versucht, mich den warnenden Stimmen zu diesem Thema anzuschließen? Den Stimmen etwa von Otto Hahn oder Albert Einstein, von Albert Schweitzer und vielen anderen? Selbst mein protestantischer Amtsbruder Martin Niemöller hat den weiteren Weg vom Freikorpskämpfer, vom überzeugten U-Boot-Kommandanten zum Pazifisten geschafft.
Für mein Schweigen muss ich mich schämen.
Hätte ich wenigstens diesmal auf die Worte des Heilands gehört.
Ob Dr. Berning am Ende seines Lebens solche Gedanken gehabt hat, ist nicht bekannt: Der Hahn jedenfalls könnte ein drittes Mal gekräht haben.
Bilanz
Mit dem Niedergang des Feudalismus geriet auch die enge Verflechtung von Kirche und Staat ins Wanken. Damit aber konnte Dr. Berning sich nicht abfinden. In der politischen Wende vom Januar 1933 sah er zunächst vielleicht noch eine Chance, die alte Macht, die alten Privilegien zurückzugewinnen, – vielleicht sogar noch mehr. Immerhin garantierte die im Reichskonkordat verankerte Einführung der Kirchensteuer üppige materielle Sicherheit und vieles mehr. Dafür war er auch gerne bereit gewesen, den Eid auf die Hitler-Regierung zu leisten, den er niemals zu brechen wagte, obwohl Menschenleben ethisch-moralisch und religiös über dem Wert eines Eides stehen. Losgesagt hat er sich von diesem Eid nie. Die hohe Identifikation mit dem Machtapparat über die ganzen zwölf Jahre des Terrorregimes machte ihn zum Mittäter.
Wie wären denn Dr. Bernings Schuldprojektionen auf die Reformatoren des 16. Jahrhunderts zu verstehen? Hätte die Inquisition, verflochten mit den Regierungsmächtigen noch konsequenter umgehen müssen, um jegliches Infragestellen der kirchlichen Macht und des klerikalen Narzissmus zu unterbinden?
Literaturliste
Heichen, W.: Mit Zeppelin und Flugzeug. Der Krieg in den Lüften 1914/15, Berlin 1915
Horn, John & Kramer, Alan: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Hamburg 2004
Laubach, E.: Das Täuferreich zu Münster in seiner Wirkung auf die Nachwelt. In: Westfälische Zeitschrift 141, 1991/Internet-Portal „Westfälische Geschichte“
Meissner, H.O.: Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee. Berlin 1922
Recker, K.-A.: „Wem wollt ihr glauben?“ Bischof Berning im 3. Reich. Paderborn 1998
[1] Die Verratsprophezeiung durch Jesus wird von allen Evangelisten in leicht unterschiedlichen Versionen geschildert. Sie führte dazu, dass fast alle römisch-katholischen Kirchtürme einen Hahn auf der Turmspitze haben, um die Christenheit zu mahnen, den Heiland und seine Lehren nicht zu verraten. In der vorliegenden Betrachtung der Glaubensbiografie Dr. Bernings sollen mit dem Krähen des Hahns die drei großen Glaubensverleugnungen sinnfällig gemacht werden.
[2] Von der Bombardierung Lüttichs und anderer Städte hätte Dr. Berning z.B. bereits in einem 1915 erschienen Jugendbuch „Mit Zeppelin und Flugzeug“ Kenntnis nehmen können.[3] Ludwig Fulda als Schriftführer verfasste ein von 93 Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern Deutschlands unterzeichnetes Manifest, in dem alle Kriegsverbrechensvorwürfe gegen Deutschland bestritten wurden, – obwohl die Unterzeichner wegen der straffen Zensur diesbezügliche Sachkenntnisse kaum haben konnten.
[4] 1832-1904, preußischer Generalfeldmarschall, von 1888 bis 1891 Chef des Großen Generalstabs
[5] Mit den Predigten gegen die T4-Aktionen hatte van Galen die Naziherrschaft in ihrem ideologischen Kern angegriffen, sollte doch Vulgärdarwinistisch „das Schwache“ vernichtet werden, – der Angriff Dr. Bernings gegen das „Neuheidentum“ war demgegenüber geeignet, die Gläubigen etwa im katholischen Emsland zu beruhigen und damit die Identifikation mit dem regimetreuen Bischof zu fördern.
[6] Zu dem Gespräch zwischen Dr. Berning und Dr. Lucas wird die Osnabrücker Rundschau demnächst ausführlicher berichten
[7] Unter Sublimierung versteht die Psychoanalyse die Veredlung ursprünglich sozial unakzeptabler Wünsche in soziale, kreative oder nützliche Leistungen, – unter Entsublimierung die Zerstörung dieser Veredlung.
[8] Schon in seiner Predigt in Rulle anlässlich der Männerwallfahrt vom 23. Mai 1937 hatte sich Dr. Berning mit zahlreichen sexuellen Übergriffen aus dem Klerus auseinandersetzen müssen, vgl. hierzu Recker, S. 448















