Teil 1: Eichmann und die „totale Herrschaft“
Vor fünfzig Jahren, am 4. Dezember 1975 starb mit Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren eine der bedeutendsten politischen Denkerinnen des Zwanzigsten Jahrhunderts in ihrer Wahlheimat New York. Hannah Arendt wurde 1906 nahe Hannover geboren und wuchs in Königsberg als Tochter einer Kaufmannsfamilie auf. Sie entstammte einem prototypischen Elternhaus assimilierter Juden. Religiös war ihr Familienumfeld nicht, politisch war insbesondere ihre Mutter als bekennende Sozialdemokratin.
Als Jüdin erkannte sich Hannah Arendt erst 1933, als sie, von den Nazis verfolgt, gleich nach deren Machtergreifung aus Deutschland floh und in Paris ihr erstes dauerhaftes Exil fand. Dort engagierte sie sich für jüdische Flüchtlinge. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und dem Einmarsch der Nazis in Frankreich gelang ihr im Frühjahr 1941 gerade noch rechtzeitig die Flucht in die USA, um dem drohenden Zugriff der Nazis zu entkommen. So wurden die USA, wo sie 1951 die Staatsbürgerschaft erhielt, bis zum Ende ihres Lebens ihre Wahlheimat. Die lange Zeit der Staatenlosigkeit, das „Paris-Erlebnis“, die Rechtlosigkeit hat wie ihre Erfahrung, Jüdin zu sein, ihre Persönlichkeit und auch ihr Denken maßgeblich mitgeprägt, ohne dass es darauf reduziert werden kann.
Trotz alter Freundschaften, insbesondere zu ihrem philosophischen Mentor Karl Jaspers in Deutschland und ihrer nicht zu verheimlichenden innigen Verbundenheit zur deutschen Sprache und Kultur, wie sie auch in einem legendären Fernsehgespräch im Oktober 1964 mit Günter Gaus in dessen ZDF-Sendereihe Zur Person betonte, schloss sie eine Rückkehr nach Deutschland kategorisch aus.
Wer war diese spät entdeckte, aber dann doch einflussreiche Persönlichkeit, deren an Wahrhaftigkeit gebundene Streitlust sie auch zu einer umstrittenen Person werden ließ? Sie selbst definierte sich in dem Fernsehinterview als „politische Theoretikerin“ und wies den Titel einer „politischen Philosophin“ entschieden zurück. Den Grund dafür sah sie in dem Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Politik. Denn anders als in der Naturphilosophie trete zwischen dem Menschen, „insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist“ (Gaus 1964: 12) eine Spannung auf, weil man sich im Unterschied zur Natur der Politik gegenüber als handelndes Wesen nicht neutral verhalten könne.
Um in der Rundschau einen kleinen Einblick in das reichhaltige und vielfältige Werk Hannah Arendts bieten zu können, bedarf es einer Beschränkung. Man kann bei ihr das Werk nicht von ihrer Biografie trennen, aber beides zusammen wäre zu umfänglich, um hier auch nur skizziert zu werden. Behelfsweise konzentrieren wir uns zunächst auf ihre nachhaltigsten publizistischen Beiträge und beginnen mit zwei, die sie ins Rampenlicht einer breiteren Öffentlichkeit katapultierten.
Internationale Reputation erwarb sie gleich mit ihrem ersten großen Werk, dem 1951 in den USA und England erschienenen Buch „The Origins of Totalitarism“. Sie übersetzte es ins Deutsche und mit Erweiterungen und Veränderungen erschien es 1955 in einem Umfang von 700 Seiten unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Arendt 1955) in der Bundesrepublik. Das Buch wurde zur Initialzündung der schon zuvor begonnenen „Totalitarismustheorie“, die durch Arendts Buch einen entscheidenden Schub erfuhr.
Eine zweischneidige Berühmtheit erlangte sie in einer breiteren Öffentlichkeit 1963 mit ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Das Buch brachte ihr außer größerer Bekanntheit vor allem in der jüdischen Community eine Menge Gegner- bis Feindschaften ein. Wir beginnen mit diesem Werk, da sich aus dieser konkreten Kontroverse die grundlegenderen theoretischen Probleme in Bezug zu ihrer Theorie totaler Herrschaft leichter herstellen lassen.
Der „Eichmann Prozess“
Der Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der von israelischen Sicherheitskräften im Frühjahr 1960 in Argentinien aufgelesen, gekidnappt und nach Israel überführt wurde, begann am 11, April 1961 vor einer Sonderkammer des Bezirksgerichts Jerusalem und endete mit der Verkündung des Todesurteils am 11. Dezember 1961. Eichmann war als Koordinator für die Deportationen der europäischen Juden in die Vernichtungslager zuständig. Es war seit den Nürnberger Prozessen unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der größte Prozess zu den Verbrechen des NS-Regimes.
Hannah Arendt kam im Auftrag der angesehenen Wochenzeitschrift „The New Yorker“ als internationale Prozessbeobachterin zur Berichterstattung nach Jerusalem. Aus einem von dort als einmaligen Bericht geplanten Beitrag wurden fünf veröffentlichte Essays, die sie 1963 zu einem Buch mit dem Titel „Eichmann in Jerusalem“ veröffentlichte. Ein Jahr später erschien es auch in der Bundesrepublik. Schon die „Essays“ hatten eine lebhafte und kontroverse Diskussion ausgelöst. Im Zentrum stand zum einen die Frage der Unterstützung und Mitschuld der Judenräte im Kontext des Vernichtungsapparates der Nazis. Zum andern die Frage, wie das gesamte Verfahren und die Durch- und Umsetzung der „Endlösung“ von statten ging und wer dort welche Verantwortung hatte.
Aber genau dieser für das Verständnis der Funktionsweise des NS-Regimes zentrale Bereich blieb im Prozess unerschlossen. Es lag vor allem daran, dass die Anklage in Eichmann personifiziert den Schlüssel zum Ganzen vermutete. Und an dieser Stelle kam Hannah Arendt zu einer ganz anderen Sichtweise. Sie erkannte, dass der Holocaust nicht von langer Hand systematisch betrieben und politisch geplant war. Und schon gar nicht durch den Angeklagten, in dem man aber den zentralen Vollstrecker der Vernichtung des europäischen Judentums sah und der sich für Arendt als „subalterner Bürokrat“ entpuppte.
Hier setzt ein zentraler Streitpunkt an, den sie in dem Untertitel zum Ausdruck bringt: „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Die Anklage folgte der Einschätzung, in dem streng hierarchisch durchorganisierten Regime habe Eichmann eine zentrale Rolle in dem Projekt der Judenvernichtung gespielt, der sich mit Erinnerungslücken aus der Affäre und Verantwortung ziehen wolle. Man erwartete in der Person Eichmann ein abgebrühtes, eiskaltes Scheusal, dem man folgerichtig sogar versuchte, unmittelbare Tötungsdelikte anzulasten.
Auch hier hatte Hannah Arendt einen anderen, schärferen Blick. Wie erwähnt, teilte sie weder die Annahme, die Judenvernichtung sei von langer Hand minutiös geplant gewesen, noch betrachtete sie das Nazi-Regime als ein monolithisches Herrschaftssystem. Eichmann entpuppte sich für sie nicht als das gesuchte Monster, sondern als ein Schreibtischtäter, der seine „Pflicht“ tat. Heute würde man sagen, er machte seinen „Job“. Dementsprechend charakterisierte sie ihn im Vergleich zu den großen „Schurken“ der Dramen Shakespeares: „Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, ‚ein Bösewicht zu werden‘. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals einen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals v
In Arendts „Entdämonisierung“ Eichmanns verbarg sich allerdings auch ein schwerwiegender Irrtum. Denn dieser „bürokratische Jedermann“, der zwar in seinem Habitus dem Bild eines Schurken nicht gerecht wurde, war deshalb kein Unbescholtener, der nur seiner auferlegten „Pflicht“ genügte. Er machte seinen „Job“ aus innerem Antrieb. Der Antisemitismus war auch seine raison d’étre. Die Vernichtung des europäischen Judentums war auch seine „innere Mission“ und mit dieser Antriebskraft war er keinesfalls nur ein „Rädchen im Getriebe“, sondern eine der treibenden Kräfte in der Mordmaschinerie. Richtig an Arendts Diagnose war, dass Eichmann selbst sich für völlig normal hielt. Wie Franziska Augstein in einer Würdigung zu ihrem hundertsten Geburtstag kritisch feststellte, traf die Charakterisierung der „Banalität des Bösen“ zwar auf „etliche NS-Täter zu, aber eben nicht auf Adolf Eichmann“. (Augstein 2006)
Eichmanns Charakterisierung als „typischer Verwaltungsmassenmörder“ stärkte dagegen Arendts schon zuvor entwickelte These, dass das Wesen des Totalitarismus sich in der Interessen- und Nutzlosigkeit der Vernichtung eines Feindes offenbart. Die totale Herrschaft und Vernichtung des gesetzten Feindes, seine hergestellte „Rechtlosigkeit“, die ihn „vogelfrei“ macht, folgt keiner begründbaren und nachvollziehbaren Zweckrationalität. Nur so trifft sie auf die Empfänglichkeit einer nihilistischen „Massenbewegung“. Dass sie zudem den gesamten Herrschaftsapparat bei aller Totalität mithin als ein irrationales Gesamtunternehmen nicht nur ohne Hierarchie, sondern auch ohne politisches Ziel interpretiert, ist eine Schlussfolgerung, die auf Probleme ihrer Totalitarismustheorie verweist.
Arendts Elemente totaler Herrschaft
Hannah Arendts erstes großes Werk „The Origins of Totalitarism“ war nicht der Ursprung der Totalitarismustheorie, der liegt schon in den dreißiger Jahren, aber es wurde im Kontext des Kalten Krieges zu einem Grundbuch. Ein Kernproblem liegt in der Doppelnatur des Totalitarismusbegriffs. Er dient einerseits der empirischen Analyse von Herrschaftssystemen, andererseits war er nicht zu trennen von normativen, politisch wertenden Bestimmungen. So wurde er auch zu einem politisch-ideologischen Kampfbegriff und als solcher zu einem wesentlichen Teil der Ideologie der „freien westlichen Welt“ im Kalten Krieg.
Bei aller Vielfalt der Ansätze kann das von dem deutschen Emigranten Carl J. Friedrich für die Bedürfnisse der empirisch ausgerichteten amerikanischen Politikwissenschaft entwickelte Klassifikationsschema als der dominanteste Beitrag zur Totalitarismusbestimmung und Forschung gelten. Friedrichs „Strukturanalyse“ von 1954 erarbeitete fünf Kriterien, die als Wesenselemente des Totalitarismus eruiert wurden. (Friedrich 1954, 185 f. sowie dazu Vollnhals 2006, 23 f.) Das Fehlen demokratischer Wahlen, Mehrparteiensystem, Meinungs- und Pressefreiheit, Menschen und Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz sind summiert die Essentials. In Zusammenarbeit mit Zbigniew Brzezinski wurden sie dann um das Kriterium der Bedeutung einer Geheimpolizei erweitert.
Die wesentliche Botschaft dieser Strukturanalyse ist, dass der besiegte Faschismus (eine Unterscheidung zum Nationalsozialismus spielte anfangs noch keine besondere Rolle) und der Kommunismus, wie er in seiner vergangenen und gegenwärtigen Form insbesondere in der (nicht nur stalinistischen) Sowjetunion präsent ist, sind strukturell gleiche Herrschaftssysteme, die politisch wie moralisch einer freien, demokratischen Welt gegenübergestellt werden können. Dass sich jenseits der gemeinsamen Feindschaft dieser totalitären Systeme gegenüber dem Liberalismus und der Demokratie „rot“ und „braun“ politisch wechselseitig als Todfeinde betrachten und ihre politischen Ziele und Ideologien inhaltlich auch fundamentale Unterschiede aufweisen, wird dabei ausgeblendet. Ebenso die Frage nach den Gründen ihrer Entstehung.
Zwar taucht Hannah Arendts Name stets als eine oder gar die Begründerin der Theorie totaler Herrschaft auf, aber bei genauerer Betrachtung erwies sich ihr Werk zumindest für die politischen Zwecke im Kalten Krieg als nur begrenzt tauglich. Das liegt vor allem daran, dass ihre historisch angelegte Studie nicht nur wegen des Umfangs, sondern auch wegen der ideengeschichtlichen Anlage nur schwer zu rezipieren ist. Hinzu kommt, dass ihre Erklärungssuche und Begründung weit über die Benennung gewisser struktureller Ähnlichkeiten zwischen dem faschistischen Herrschaftssystem und dem Bolschewismus in Russland hinausgehen.
Sperrig war und ist dieses Werk schon wegen des Aufbaus des Buches, der Verständnisfragen aufwirft. Die drei großen Teile, in die das Werk geteilt wurde, der „Antisemitismus“, der „Imperialismus“ und die „totale Herrschaft“ Wandel enthalten einen mehrfach festgestellten Bruch. Das gilt insbesondere für den dritten und letzten Teil, der „in keiner überzeugenden Beziehung zu den ersten beiden steht“. (Vollnhals 2006, 25) Zu dieser Feststellung gelangte auch Seyla Benhabib, die allerdings auf ein grundsätzlicheres Problem bei der Rezeption dieses Werkes verweist. Sie sieht Arendts Diagnose des „Totalitarismus“ im Kontext ihrer an noch an Heidegger orientierten „Existenzialphilosophie“, die Zustände der „Heimat- und Weltlosigkeit“ zur massenhaft „realen Lebenssituation“ der Menschen werden ließ und so Philosophie mit Geschichtsdarstellung verbindet, sich aber dagegen wehrt, „Geschichtsphilosophie“ zu betreiben. (Benhabib, 1998, 111 f.)
Eine plausiblere Erklärung für den „Bruch“ liefert Clemens Vollnhals. Er verweist darauf, dass Arendt ihr Buch ursprünglich als eine ideengeschichtliche Analyse der NS-Ideologie geplant hatte. Das änderte sich, als Arendt 1948/49 unter dem Eindruck der Schilderungen aus den NS-Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie den Berichten aus den sowjetischen Gulag-Lagern unter Stalin zu der Erkenntnis kam, die ursprüngliche Themenstellung revidieren zu müssen. (Vollnhals 2006, 25) Es ging ihr nun nicht mehr um die Struktur und Genese der NS-Ideologie, sondern um die Erkenntnis, dass sich hier eine neue Form von politischer Herrschaft abzeichne, die mit den herkömmlichen Typen wie „Despotie, Tyrannei und Diktatur“ nicht mehr zu begreifen sei. Und für diesen neuen Typus fand sie den Begriff der „totalen Herrschaft“.
Man merkt dem Buch die ursprüngliche Konzeption vor allem in seinen ersten beiden großen Kapiteln über die Genese des modernen „Antisemitismus“ und dem „Imperialismus“ noch deutlich an. Ausgehend von der These, dass der Antisemitismus nicht zufällig eine zentrale Rolle in der NS-Ideologie spiele, beginnt sie mit dessen historischer Entwicklung im 19. Jahrhundert. Sie beschreibt und analysiert kenntnisreich und eindrucksvoll den Wandel vom „religiös“ bestimmten zum „rassistischen“ Antisemitismus vor dem Hintergrund der „Judenemanzipation“, also der rechtlichen Gleichstellung der Juden in den meisten Ländern Europas.
Antisemitismus, so Arendts These, ist eine wesentlich Voraussetzung für die Entstehung totaler Herrschaft. Das gilt aber strenggenommen nur für den Nationalsozialismus, denn weder für Mussolinis Faschismus in Italien noch für den Bolschewismus in Russland war er konstitutiv. Der Bolschewismus war als integraler Teil der „jüdischen Weltverschwörung“ sogar ein verstärkendes Element des Antisemitismus.
Der zweite Teil widmet sich einem weiteren Phänomen des 19. Jahrhunderts, dem Imperialismus. Er wird nach Arendt durch die „Entgrenzung“ des Nationalstaates zu dessen Ersatz und mit seinem Rassismus, dessen ausgeprägteste Form dann im Nazi-Regime erscheint, bestimmend für das Aufkommen totaler Herrschaft schlechthin. Der Imperialismus bzw. Kolonialismus erscheint mit seinem Rassismus und seinen „Lagern“ einerseits als Vorstufe des Genozids, wie er sich dann an den Juden vollzieht und andererseits auch als Widerspruch zur universellen Geltung der Menschenrechte, als deren Hüter der Nationalstaat galt. Der Nationalstaat wandelt sich nach Arendts Analyse im 19. Jahrhundert von einem politisch definierten zu einem mit ethnischem Selbstverständnis, vom „demos“ zum „ethnos“. Das Opfer sind die vom Staat garantierten universellen Bürger- Menschenrechte. Deutschland und Russland spielen hier einen Sonderrolle, denn sie waren anders als England und Frankreich niemals Nationalstaaten, sondern immer „Reiche“ und ihr Nationenbegriff war „völkisch“ und nicht politisch. Der Imperialismus geht mit der Genese und Entwicklung des Rassismus inklusive der „Lagerbildung“ einher und sollte in Arendts ursprünglichem Konzept der Entwicklung der NS-Ideologie dann in dem nationalsozialistischen „Rasse-Imperialismus“ als Höhepunkt münden, womit zugleich der Expansionsdrang wie die rassenideologische Bedeutung des NS-Regimes herausgearbeitet werden sollte.
Der dritte Teil, der sich der Bestimmung der totalen Herrschaft widmet, unterscheidet sich von den strukturanalytischen Totalitarismustheorien vornehmlich der amerikanischen Politikwissenschaft, die dann aber in Westeuropa und vor allem in der Bundesrepublik dominant wurde. Das Wesen der totalen Herrschaft erkennt Arendt zum einen in der Ideologie und zum anderen in dem Terror. Beide Elemente werden in dem angehängten Essay „Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform“ als Quintessenz des Ganzen so prägnant zusammengefasst, dass in der Rezeptionsgeschichte die übrigen Teile des Werkes mehr oder weniger übergangen und auf diese Thematik reduziert wurden.
Dabei werfen die „Elemente“ durchaus Fragen auf. Das gilt insbesondere für ihre These, dass der Terror in der totalen Herrschaft zum Selbstzweck werde. Arendt argumentiert, dass die pure Gewalt, die in ihrer Sprachlosigkeit die Negation der Politik ist, keinerlei Begründung und Legitimation bedarf und mit der unkalkulierbaren Verbreitung von Angst und Schrecken eben zur totalen Herrschaft wird. Letztlich ging es Arendt, wie Seyla Benhabib hervorhebt, darum, „deutlich zu machen, dass die Lager in den totalitären Regimen keinem ‚utilitaristischen‘ Zweck dienten und daher nicht funktionalistisch erklärt werden können.“ (Benhabib1998, 115) Insofern sie weder der Einschüchterung einer Opposition noch der Ausbeutung der Arbeitskraft dienten, waren sie Laboratorien in denen alles möglich wurde. In diesem Sinne stellen die Vernichtungslager einen „Zivilisationsbruch“ dar. Diese Vernichtungslager der Nazis waren nicht „öffentlich“ bekannt, sie wurden geheim gehalten und die dort erfolgte Ausbeutung der Arbeitskraft w
Arendts „Ursprünge“ totaler Herrschaft und ihre Rolle im Kalten Krieg
Im Unterschied zu den strukturanalytischen Totalitarismustheorien hat Arendt auch nach den „Ursprüngen“ und damit nach den sozialen Bewegungen und Trägern der totalen Herrschaft gefahndet. Diese wesentliche Frage wird in den anderen Theorien nicht einmal ernsthaft gestellt. Allerdings ist ihr Versuch, das neue Phänomen der faschistischen und eigentlich auch sozialistischen Massenbewegung zu erfassen, die ja nicht aus der Perspektive der Judenvernichtung begriffen und erklärt werden können, vor allem aufschlussreich für ihr eigenes Gedankengebäude. Seyla Benhabib hat zwar (zu Recht) die Erwähnung der „Ursprünge“ im deutschen Buchtitel als „unglücklich“ bezeichnet, weil sie eigentlich nur eine Darstellung der „Elemente“ geliefert habe (Benhabib 1998, 114), aber wir wollen trotzdem Arendts Ansatz versuchen zu rekonstruieren.
Die Frage, wer waren die (unterschiedlichen) gesellschaftlichen Träger dieser neuen sozialen Massenbewegungen, ruft eigentlich die Sozialwissenschaften auf den Plan. Aber nicht bei Hannah Arendt. Sozialwissenschaftlichem Denken nicht wohlgesonnen – die „philosophischen Gründe“ dafür erfahren wir später – entdeckt sie für die Phase des Imperialismus zunächst den „Mob“ als das prägende neue soziale Phänomen. Er begleitet das aus ökonomischen Gründen weltweit expandierende Kapital (Arendts Imperialismusanalyse ist in ihrem ökonomischen Teil stark beeinflusst von Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie) von unten. Hier sammeln sich die Deklassierten, die jenseits der organisierten Arbeiterbewegung als nutznießende „Goldgräber“ im Windschatten des Kapitals mit diesem ein Bündnis unter der ideologischen Flagge des „Rassismus“ eingehen, um sich so als Teil einer überlegenen Rasse „ihren“ Anteil vom eroberten Kuchen zu ergattern. Mit der Aufkündigung der Idee einer einheitlichen Menschheit und ihre Verwandlung in Rassen, die als Feinde sozialdarwinistisch im „Kampf ums Dasein“ stehen, entsteht im Innern die Vorform dessen, was später als „Totalität“ die „Volksgemeinschaft“ wird. Ansonsten entspricht die Weltanschauung des Mobs jener der Bourgeoisie, nur „gereinigt von aller Heuchelei“. (Arendt 1948, 19)
Der „Mob“ ist also keine eigene Klasse mit einem Klassenbewusstsein und eigenen definierten Interessen wie die Arbeiterklasse in ihrer organisierten Form. Er ist dem „Volk ähnlich, aber doch nur dessen Karikatur“. Denn anders als das „Volk“ kämpft er nicht um die Führung der Nation, sondern schreit nur nach dem „starken Mann“. Als sozial auffallend registriert Arendt lediglich, dass sich hier vermehrt „ruinierte mittelständische Existenzen“ tummeln. Und als letztlich „amorphe“ Masse gehen sie Bündnisse mit den Eliten ein und werden zu deren Manövriermasse für ihre Zwecke. (Arendt 1955, 170 f.) Arendts Analyse der „Entwurzelten“ ist nicht frei von dem damals konservativ besetzten Repertoire der Zivilisationskritik an der aufkommenden „Massengesellschaft“.
Andererseits erkennt Arendt deutlich, dass „totale Herrschaft ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung gerade durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich“ ist. (Arendt 1955, 456) Aber dafür reicht das Phänomen des Mobs nicht mehr. Er ist für Arendt an die Epoche des Imperialismus gebunden und die endet für sie mit dem Weltkrieg. Die nun aufkommenden „modernen Massenbewegungen“, deren erste Boten nach dem Weltkrieg die Faschisten in Italien und die Bolschewiken in Russland sind, zeichnen sich durch eine völlig neue Qualität aus. Anders als dem Mob geht es dieser Masse nicht mehr um eigene Vorteile. Was sich so auffallend als das Neue in diesen modernen totalitären Massenorganisationen manifestiert, ist im Unterschied zum Mob die „Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen“. (Arendt 1955, 457)
„Ideologie und Terror“ sind die Leitbegriffe dieses neuen Phänomens. Der Terror als höchste Form der Gewalt impliziert die Vernichtung der Feinde als Instrument zur Durchsetzung des Willens und der Demonstration der Macht. Politik wird stumm, denn es geht hier nicht ums Überzeugen. Argumentieren, Diskutieren und Öffentlichkeit gehören einer anderen Welt an, die es zu überwinden gilt. So wird für Arendt der Terror in der totalen Herrschaft zu deren Lebenselixier, zum Selbstzweck, gestützt auf und durch eine Ideologie, die auf „Gesetzen der Natur“ (Rassismus) oder eines gesetzmäßigen Ganges der Geschichte beruht. Was auch den Glauben an das Ende Geschichte in Gestalt der klassenlosen Gesellschaft einschließt. Solch vorgezeichnete, „gesetzmäßigen“ Entwicklungen sind dann die allerhöchsten Zwecke, die alle Mittel heiligen.
Das wirft freilich die Frage auf, ob gemessen an der totalen Herrschaft der Vernichtungslager der Nazis und deren „Zweck- und Sinnlosigkeit“ auch andere Formen totaler Herrschaftsansprüche unter dem gleichen Begriff subsumiert werden können und welche Folgen der Differenzierung sich daraus ergeben. Welche Kandidaten, welchem Begriff totaler Herrschaft gerecht werden, ist nun die entscheidende Frage und bis heute umstritten. Die Suche nach einer Antwort würde möglicherweise dazu führen, dass gesamte Grundgerüst der vorgegebenen Theorien in Frage zu stellen.
Begnügen wir uns vorerst damit, Arendts Stellung in der Totalitarismusdebatte und ihre politische Funktion darin zu bestimmen, so lässt sich feststellen, dass es Arendt nach ihrem eigenen Verständnis bei ihrer Analyse nicht darum ging, der „freien Welt“, der sie natürlich näherstand als dem „kommunistischen“ Widersacher, ein ideologisch tragfähiges Kostüm zu schneidern. Sie wollte „verstehen“, was sich da Neues entwickelt.
Wie bei den strukturanalytisch ausgerichteten Totalitarismusbegriffen fällt auch bei Arendt auf, dass die in den zwanziger Jahren vor allem im „rechten“ Lager, ausgehend von Mussolini, aufkommende Rede von dem „Totalen“ keine wesentliche Beachtung findet. Bei den Nazis mündete sie in dem Dreiklang: „Totaler Krieg, totale Mobilmachung (der gesamten „Volksgemeinschaft“) und totaler Staat“, d.h. die Erfassung und Durchdringung aller Lebensbereiche für den Kampf um die Weltherrschaft. (s. dazu Wortmann 2025) Ob der dafür erforderliche „Terror“ auch als Selbstzweck zu bewerten ist, scheint mir sehr fraglich zu sein.
Unabhängig von der Frage, ob Arendt die spezifischen Formen „totaler Herrschaft“ hinreichend erfasst, erweist sich ihre Instrumentalisierung für die ideologischen Zwecke im Kalten Krieg als nur begrenzt tauglich. Sie hatte die stalinistische Sowjetunion zwar mit im Visier, aber gerade wegen der zentralen Bedeutung, die sie dem Terror in ihrem Begriff der totalen Herrschaft beilegte, schloss sie in einer späteren Auflage ihres Buches Mitte der sechziger Jahre in einem Vorwort zum letzten Teil, „die „entstalinisierte“ Sowjetunion von der „totalen Herrschaft“ gerade wegen des nun fehlenden Terrors aus und reihte sie ein in die Kategorie der Diktatur, wie auch die anderen Ostblockstaaten. Mithin war die DDR für sie kein „totalitärer“, sondern „nur“ ein „autoritärer“ Staat.
Im Ergebnis bleibt das große Werk über die „totale Herrschaft“ auch ein Buch mit vielen Fragen. Für die Erforschung und Analyse des Faschismus oder des Stalinismus hat es sich wissenschaftlich nicht als besonders ergiebig erwiesen, zumindest hat es nirgends zu einer Forschungsrichtung angeregt, die sich als wissenschaftlich relevant erwies. Der Zeithistoriker und Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York Tony Judt bewertete „Elemente und Ursprünge“ als ein „unvollkommenes“ und auch „nicht sonderlich originäres“ Buch. (Judt 2010, 83) Es zeige aber deutlich, dass es Arendt vor allem um das „Verstehen der Gegenwart“ gehe und sie sich „mehr für das Problem des Bösen als für politische Strukturen“ interessiere. (Judt 2010, 86)
Die begrenzte Brauchbarkeit für politische Zwecke haben wir erwähnt. Ergänzend lagen sie zudem in ihrer Person begründet. Ihre strikte Unabhängigkeit, ihr eigenwilliges „Denken ohne Geländer“ machte sie prinzipiell unfähig für eine gemeinsame politische Kampfgemeinschaft. Sie war keiner wissenschaftlichen Disziplin oder Schule zuzuordnen. Sie gehörte keiner Partei oder Organisation an. Sie „stand“ nirgends auf einem „Punkt“ und setzte sich selbst gerne „zwischen sämtliche Stühle“.
Für die westliche Seite war sie zusätzlich „ideologisch“ eine unsichere Kantonistin. Sie war keine Anhängerin der parlamentarischen Demokratie, sympathisierte stattdessen mit Rosa Luxemburgs Spontaneismus für rätedemokratische und direkte Demokratiemodelle, im weitesten Sinne für zivilgesellschaftliches Engagement und das „Sich kümmern“ um die „öffentlichen Dinge“ machte sie zur Idealfigur eines „Republikanismus“. Sie fand lobende Worte für die Studentenunruhen, insbesondere den Pariser Mai 68 und ihren Großneffen Daniel Cohn-Bendit. Auch hier galten ihre Sympathien neben der Spontaneität dieser Bewegung der Tatsache, dass hier nicht nur Strukturen, Institutionen oder die Gesellschaft revolutioniert werden sollten, sondern das Leben selbst, wie es in der Parole „Phantasie an die Macht!“ verkündet wurde und damit wurden Erziehung, Bildung, Geschlechterrollen und die Bedürfnisse der Menschen erfasst. Sie sparte auch nicht mit Kritik an der amerikanischen Außenpolitik und verurteilte den Vietnamkrieg.
Sie war eine unbequeme Zeitgenossin, die sich ihrem Politikverständnis entsprechend öffentlich einmischte und die dafür erforderlichen Freiräume verteidigte und einklagte. Sie war das, was man im besten Sinne eine „Intellektuelle“ nennt.
Literatur
- Arendt, H. (1948): Über den Imperialismus, in: Die verborgene Tradition. Frankfurt a.M. 1976, S. 12 – 31
- Arendt, H. (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M.
- Arendt, H. (1960): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart.
- Arendt, H. (1962): Der Kalte Krieg und der Westen, in: dies. In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. München 2000, S. 127 – 137
- Arendt, H. (1963): Über die Revolution. München.
- Arendt, H. (1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1995, 9. Aufl.
- Arendt, H. (1990): Was ist Existenzphilosophie? Frankfurt a.M.
- Arendt, H. (1993): Philosophie und Politik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41. Jg., H. 2/1993, S. 381-400.
- Arendt, H. (2017): Der Mensch, ein gesellschaftliches oder ein politisches Lebewesen, in: dies. Mensch und Politik. Stuttgart, 2017, S. 7-47
- Arendt, H. (2018): Die Freiheit, frei zu sein. München
- Augstein, Franziska (2006): Ein geistiges Ereignis, in Süddeutsche Zeitung v. 14./15. Oktober 2006
- Benhabib, S. (1998): Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin der Moderne. Hamburg
- Brunkhorst, H. (1999): Hannah Arendt. München
- Deppe, F. (2007): Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert, in UTOPIE kreativ, H. 201/202, 2007, S. 681 – 697
- Friedrich, C.J. (1954): Der einzigartige Charakter der totalitären Gesellschaft, in: Wege der Totalitarismus-Forschung, Hg. B. Seidel & S. Jenkner, Darmstadt 1974, S. 179 – 196
- Judt, T. (2010): Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. München
- Ottmann, H. (2010): Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert – Der Totalitarismus und seine Überwindung. Stuttgart – Weimar
- Vollnhals, C. (2006): Der Totalitarismusbegriff im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 39/2006, S. 21 – 27
- Wortmann, R. (2019): Engagement als Lebensform – Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre, in: Jahrbuch Management in Nonprofit-Organisationen. Münster 2019 / Vol. 8, S. 73 – 96
- Wortmann, R. (2025): https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/rolf-wortmann/hitler-als-kommunist-oder-was-ist-nationalsozialismus-teil-1/
- Wortmann R. (2025): https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/rolf-wortmann/hitler-als-kommunist-oder-was-ist-nationalsozialismus-teil-2-von-2-teilen/
- Young-Bruehl, E. (1982): Hanna Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a.M. 1991














