Oder: Wie hart es uns erscheint, in andere Lebenswelten einzudringen
Den folgenden Beitrag habe ich auf den Tag genau vor zwei Jahren veröffentlicht. Trotz dramatisch veränderter Weltlage hat sich der Kern des Inhalts nicht verändert. Zumal das Drumherum des Autors auch in diesem Jahr ein gewohnter Campingplatz ist, darf es gewagt werden, die Zeilen erneut zur Lektüre anzubieten.
Urlaub auf dem Campingplatz besitzt den Vorteil, dass man im Klappstuhl sitzt und seelenruhig eine Welt im Kleinmaßstab beobachtet. Gegenüber stinkt gerade ein Holzkohlegrill, hinter dem ein braungebrannter Dickbauch Unmengen von Fleischstücken hin- und her wendet. Nebenher bestimmen gestiegene Benzinkosten ein feuriges Nachbargespräch. Auf dem Campingtisch eines anderen Zeitgenossen ruht gerade die Bildzeitung, die ihn mal wieder darüber belehrt hat, dass Flüchtlinge allesamt Verbrecher seien. Anlass für mich, den Sonnenschirm zu richten und die menschliche Gesellschaft aus dem Zelt heraus zu deuten.
Zwei Sorten von Menschen
In meiner Welt, wie ich sie wahrnehme, gibt es im Grunde nur zwei Sorten von Menschen: Grime und Lamiruse. Ich habe diese Sorten Mensch so getauft, weil mir nichts Besseres einfiel. Grime sind Leute wie ich selbst, die täglich zumindest versuchen, ein „Grün-Roter Ideal-Mensch“, kurz G.R.I.M. also, zu sein.
Lamiru steht für La.m.i.Ru. -„Lass-mich-in-Ruhe!“. Es ist die andere Spezies Mensch, die für mich hier auf dem Campingplatz ganz nah ist, aber irgendwie als Wesen aus einem anderen Universum erscheint. Ein Lamiru, da bin ich mir komplett sicher, sagt exakt das Gleiche von mir.
Alltäglich versuche ich, meinem persönlichen Grim-Ideal nachzukommen – und scheitere ständig daran. Gut ist: Ich fahre seit Jahrzehnten fast nur Fahrrad, versuche zumindest, vegetarisch und, besser, gleich vegan zu essen. Meine kerosinverpesteten Flüge sind in knapp 71 Lebensjahren zumindest weit unter 10, Kreuzfahrten bislang null. Ich bin stolz darauf, vom ersten Tag der Denkfähigkeit an gegen Kapitalismus, Ausbeutung, Atomenergie, Berufsverbote, Faschismus, Nationalismus, Aufrüstung, Waldsterben, Neoliberalismus und Umweltverpestung gestritten zu haben. Als Linker bin ich leidenschaftlich Internationalist und komme prächtig ohne „Vaterland“ aus. Und natürlich bin ich dafür, im reichen Deutschland Verfolgte und Notleidende aus aller Welt aufzunehmen.
Maue Eigenbilanz
Oft ist meine Grim-Bilanz aber mächtig mau: Einmal in der Woche stinke ich die Umwelt mit einer Autofahrt zum Supermarkt voll. Die eigene Heizung ist weit von nachhaltig korrekten Zielen entfernt. Viel zu oft kaufe ich keine Fair-Trade-Produkte – und bin auch kein Meister gendergerechter Sprache. Ich liebe Aldi-Schokolade. Als bekennender Geizkragen erstehe ich zuweilen gar Billigklamotten, bei denen ich befürchten muss, dass mir eine ausgebeutete Näherin in Bangladesch dieses günstige T-Shirt gefertigt hat.
Jeden Tag gehe ich hart mit mir ins Gericht. Mit Recht! Ich klage mich schroff an, dass auch ich selbst viel zu wenig gegen jene Klimakatastrophe getan habe, welche die Zukunft meiner Enkelin ganz akut bedroht. Und in meiner SPD, in der ich seit fast 53 Jahren für eine sozialistische Gesellschaft streite, konnten Gleichgesinnte und ich nicht mal die gruselige Agenda 2010 und das menschenverachtende Hartz 4, auch keine der unseligen Großen Koalitionen verhindern. Und gespendet für internationale Hilfsprojekte habe ich wohl auch mal wieder viel zu wenig. Schlechtes Gewissen eben. Aber ich will ja trotzdem, was keine überzeugende Ausrede ist, weiter emsig an mir arbeiten.
Der Lamiru kennt all diese Selbstzweifel nicht. Von vielen Zielen oder Vorsätzen der Grim-Welt hat er sein Leben lang nie gehört. Klimawandel ist ihm völlig egal, solange sich angebliche Experten finden, die ersteren abstreiten. Der Lamiru nickt im Dauerzustand, wenn er die Bildzeitung liest und dabei herzhaft in sein Mettbrötchen beißt. Klar kann er sich, dermaßen zugedröhnt, vorstellen, es „denen da oben“ zu geben und auch mal AFD zu wählen. „Die anderen ändern sowieso nix“, ist er sich sicher. Zurück zum Campingplatz.
Sehnsüchte aus der Lamiru-Welt
„War super, die letzte Kreuzfahrt im November“, plaudert der Mann mit dem riesigen Wohnmobil. Der Zelter neben ihm bekommt leuchtende Augen und nickt sehnsüchtig. „Bei der philippinischen Bedienung gab es rund um die Uhr leckere Flatrate-Speisen, ganz billig“, erfährt das staunende Publikum. „Wenn wir die ganzen Ausländer nicht aufnehmen würden, könnten wir alle Sprit unter ein Euro tanken“, behauptet ein Experte vom Wohnwagen gegenüber. Sehnsüchte aus der Welt der Lamiruse.
Lamiruse sind aber weit gestreut. Jenseits vom Campingplatz treffen diese sich untereinander eher selten. Die meisten Lamiruse können sich keine Kreuzfahrten leisten, höchstens Mallorca. Und eben kein teures Hotel oder beschauliche Pension mit Pool, sondern nur Last-Minute-Billighoteld oder den Campingplatz. Aldi und Lidl sind angesagt, wenn es um Shopping-Erlebnisse geht. „Wenn ich im Biomarkt kaufe, ist mein Gehalt am zehnten des Monats alle“, ruft eine Frau in rosa Sandaletten – und beißt herzhaft in die Penny-Bratwurst. Ein stolzer Schlauchboot-Besitzer erzählt von einem Nachbarn, dessen Großfamilie eine dringend gebrauchte Wohnung nicht bekommen hat, weil die Miete der dort eingezogenen Flüchtlingsfamilie das Sozialamt garantiert hat. „Scheiß Migranten!“, kräht eine Nachbarin – und alle gucken leer oder nicken gar still in sich hinein.
Gibt es Brücken?
Als ökosozialistischer Überzeugungstäter geht mir durch den Kopf, dass es doch eigentlich sinnvoll sein könnte, dass sich Wesen aus unterschiedlichen Welten besser auch mal begegnen sollten. Allein schon deshalb, um das Denken der anderen zu verstehen.
Womit ausdrücklich kein verlogenes Nachplappern gemeint ist! Aber warum soll ich als Fleischbanner nicht verstehen, dass es auch lecker sein kann, in ein Grillsteak oder in eine Bratwurst zu beißen? Ich weiß es ja schließlich aus persönlicher Erfahrung. Warum soll ich Leute bannen, die bei Aldi kaufen, zumal mir selbst die Aldi-Schokolade, wie oben zugegeben, auch bestens schmeckt? Sinnlose Debatten? Ich halte es keineswegs für sinnlos, ärmere Menschen davon zu überzeugen, dass man auf Kosten der Reichen anderen Armen auch dann helfen kann, wenn sie aus anderen Staaten kommen. Statt jemanden als „Faschisten“ zu bashen, der einmal AFD gewählt hat, sollte ich zuvor zwingend herausfinden, ob er antidemokratische, rassistische und menschenverachtende Positionen eines Bernd Höcke teilt. Falls nicht, gibt es Chancen der Rückgewinnung. Zumindest wäre es Versuche wert. Und wer Positionen vertritt, die eine deutliche Mehrheit vertritt, muss deshalb noch lange nicht als jemand gegeißelt werden, der dem Populismus huldigt. Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf die Form.
Erinnern an den alten Marx
Hat nicht in Wirklichkeit der alte Karl Marx recht? Ist es nicht in Wahrheit der Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit, der die Gesellschaft im Kern trennt? Der zwischen Profiteuren des kapitalistischen Profitstrebens und jenen unzähligen Millionen, die im Hamsterrad für die Profite der Wenigen schuften? Legitimer Aufstand gegen eine Welt, in der Reiche immer reicher, Arme immer ärmer werden?
Es geht um nichts weniger als um die moderne Wiedergeburt des alten „Proletarier aller Lander, vereinigt euch!“ statt „Proletarier aller Länder, bekämpft euch untereinander!“ Marx hat einmal das, was sich über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (die „Basis“) erhebt, als „Überbau“ bezeichnet. Sollen wir uns also weiter allein im Überbau prügeln, uns spalten und dabei die Profiteure der profitablen Basis in Ruhe lassen? Was interessieren uns eigentlich die Reichen, die täglich Christian Lindner vertritt? Muss man da nicht gemeinsam aufstehen?
Kurzum: Die Eigenwelten von Grimen und Lamirusen sind Welten im Überbau. Niemals wird man notorische Rassisten, Fremdenhasser, Nationalisten, Demokratiegegner oder Umweltleugner überzeugen können. Aber in der Welt der Lamiruse gibt es viele, zu denen sich Brücken bauen lassen. Nicht missionarisch, niemals selbstverleugnend, aber zumindest respektvoll und ergebnisorientert. Wollen wir es ab morgen versuchen?